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Vom »Chindlifrässer«-Brunnen nach Tahiti

2011, Zeitschrift für interkulturelle Germanistik

Abstract

In the last decade, colonial and postcolonial topics, as well as questions of multi-cultural change, have been discussed frequently in the public sphere in Switzerland. For contemporary Swiss authors, questions of otherness and of colonial violence are an important concern. Along with Martin R. Deans Meine Väter and Lukas Bärfuss' Hundert Tage, Lukas Hartmanns Bis ans Ende der Meere is a significant example for the new postcolonial agenda in Swiss Literature. Hartmann's protagonist is a fellow traveller of Captain Cooks second expedition to the South Sea; and his reports, as staged within Hartmann's novel, give an impressive testimony of the predicaments of encounter in colonial situations. DIE SCHWEIZ »POSTKOLONIAL«? BESICHTIGUNG EINES NEUEN LITERATURPARADIGMAS »Als Schweizer«, so glaubt der Mitarbeiter einer Entwicklungshilfe-Organisation in Kigali, Ruanda, »habe ich mit dem Kolonialismus nichts zu tun« (Bärfuss 2008: 126). Mit diesem Ausspruch und der dahinterstehenden Haltung, die Lukas Bärfuss dem Protagonisten seines Romans Hundert Tage zuschreibt, trifft der Autor den Nagel auf den Kopf. Kaum eine Nation ist der kolonialisierenden Machtausübung so unverdächtig, kaum eine genießt ein traditionell so stark auf humanitäre Zielsetzungen ausgerichtetes Image wie diejenige, deren Vertreter unter der Flagge des weißen Kreuzes auf rotem Grund agieren. Warum dann überhaupt die heikle Präsenz vor Ort, in einem Krisengebiet? Um großzügig und aus überlegener Position den Benachteiligten, Notleidenden, Kriegs-und Gewaltopfern zu helfen, natürlich. Aber auch, um im gleichen Zug auf »unzuständig« plädieren zu können, wenn die aus der kolonialen Vergangenheit herrührenden, nur mühsam zurückgedrängten Konfliktherde zerstörerisch wieder aufflammen.