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Stalin: Eine neue Welt

Neben dieser alten separatistischen Strömung, die in einer ziemlich starken " föderalistischen" Partei ihren Ausdruck fand, gab es noch die sozialistische Bewegung. Alle die großen Gruppierungen, die in der allgemeinen Freiheitsbewegung in Rußland bestanden, bildeten sich ziemlich schnell auch im Kaukasus aus. Nach der Niederlage im Krimkrieg von 1856 (es sind immer die Kriege, die die Völker am tiefsten aufwühlen)-kam es zu einer Gegenbewegung gegen den Absolutismus, der Rußland im Vergleich mit den großen Ländern des Westens im Zustand einer besonderen und privilegierten Barbarei hielt. Eine reformistische Bourgeoisie, die die besten Absichten verfolgte, richtete ihre Blicke auf das " Licht aus dem Westen". 1860-1869: Reformen kommen diesen Tendenzen entgegen. Die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Schaffung der Semstwos (Gemeindeselbstverwaltung), eine Reorganisation des Gerichtswesens. Aber so viel Staub diese Reformen aufwirbelten, man konnte bald feststellen, dass sie nicht viel an der Lage änderten. Die Aufhebung der Leibeigenschaft war von nichts weniger diktiert als von Gleichheitsbestrebungen. Sie verfolgte finanzielle Zwecke, kam praktisch dem Grundbesitz zugute und war schließlich aus politischen Erwägungen geboren: " Damit die Befreiung der Bauern nicht von selbst, nicht von unten kommt" (so sagte der Zar selbst). Aus der Enttäuschung entstand die große Bewegung der Narodniki: Nicht mehr hypnotisiert auf den Westen blicken, sondern im Gegenteil die spezifisch russischen Traditionen aufnehmen, den Mir (die alte Dorfkommune) und das Artel (die alte Produktionsgenossenschaft); auf diesem Wege sollte das russische Volk zum Sozialismus kommen, " ohne durch die Schrecken des Kapitalismus hindurchzugehen". Die große Zeit der Narodniki (ihre Verbände " Land und Freiheit", " Volkswille" und andere) war die Periode zwischen 1870 und 1881. Die Narodniki, die man in Europa meist Nihilisten nannte, rannten mit Bomben-und Revolverattentaten gegen das Regime der Herrscher im Winterpalais an. Die Verfolgungen, die 1881 nach der Ermordung Alexander II. einsetzten, zerstörten die Organisationen. Nur die literarischen Theoretiker blieben übrig. In seiner frühen Jugend hatte Lenin mit diesen Kreisen in Verbindung gestanden. Sein älterer Bruder Alexander nahm an der Arbeit im " Volkswillen" teil und wurde 1887 für seine Teilnahme an einem Attentat auf Alexander III. durch den Strang hingerichtet. Maria Uljanowa, die Schwester, berichtet uns, dass, als die traurige Nachricht von der Hinrichtung die Familie Uljanow erreichte, Wladimir Iljitsch, damals 17 Jahre alt, mit einem unbeschreiblichen Gesichtsausdruck sagte: " Nein, wir werden andere Wege gehen. Dieser Weg ist nicht der richtige." Dieser andere Weg war der des wissenschaftlichen Sozialismus, hervorgegangen aus dem alten Ideal der politischen Freiheit, der Abschaffung der Privilegien, der Gleichheit und allgemeinen Brüderlichkeit, jenem Ideal, das Karl Marx in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgenommen und umgeschmiedet hat. Einer der Grundzüge der marxistischen Lehre, die den alten Sozialismus von seinen lächerlichen und gefährlichen Kindereien befreit hat, war die Verbindung von Wirtschaft und Politik, von Sozialismus und Arbeiterbewegung. Die Notwendigkeit dieser Verschmelzung scheint uns heute unzweifelhaft. Aber sie war es nicht immer, und in dem Augenblick, wo alles neu zu schaffen war, musste dieser Gedanke gefunden werden. Der Sozialismus war eine internationale Organisation geworden. Auf die I. Internationale, die, von Marx und Engels selbst gegründet, " die ideologischen Grundlagen des proletarischen Kampfes geschaffen" hatte, war die II. Internationale gefolgt, die " den Boden für die Entfaltung einer breiten Massenbewegung der Arbeiterschaft vorbereitete". Der marxistische Sozialist bediente sich-im Gegensatz zu den " Sozialrevolutionären" und den Anarchisten, von denen es zahlenmäßig kleine, aber gewalttätige Gruppen gab-nicht des Terrorismus oder des Attentats. Diese blinden, chirurgischen Methoden, die fast immer wild über ihr Ziel hinausschießen und zu anderen als den gewollten Resultaten führen, waren nicht seine Sache. Seine Sache war es, durch die Erkenntnis des wahren Interesses, durch die bewusste Disziplin 12 Dieser letzteren trat Joseph oder vielmehr Sosso Dshugaschwili, von ihren Ideen heftig angezogen, bei. Wie sah er aus? Als Kind war er klein, zart, von kühnem, beinahe etwas frechem Aussehen und trug den Kopf immer hoch erhoben. Später, als er mit den Jahren aufgeschossen war, erschien er ziemlich gebrechlich und zart: das Gesicht eines sehr verfeinerten Intellektuellen, dichtes, borstiges, tintenschwarzes Haar. Seine jugendliche Magerkeit ließ das georgische Oval seines Gesichts und das etwas längliche Auge seiner Rasse noch stärker in Erscheinung treten. Zu jener Zeit stellte der junge Kämpfer eine interessante, weil sehr vollkommene Mischung von Arbeiter und Intellektuellem dar. Nicht sehr groß, schmale Schultern, längliches Gesicht, ein feiner Bart, etwas schwere Augenlider, eine schmale und gerade Nase, auf den üppigen schwarzen Haaren die flache Mütze, ein wenig zur Seite geschoben-so stellte er sich damals dar, dieser Eroberer der Massen, dieser Weltumstürzer. Seitdem hat das Gesicht Stalins endgültig feste Formen angenommen, und besonders heute, wo das immer noch starre, zu einer Bürste geschorene Haar leicht ergraut ist, ist man versucht zu glauben, dass seine Züge noch proletarischer. ja militärisch geworden sind-vielleicht zum Teil, weil man der Suggestion seiner Kleidung unterliegt. Aber man kann nicht sagen, dass er sich viel verändert hat, eher, dass man jetzt die Energie und die kämpferische Kraft, die dieses Antlitz auch früher zeigte, stärker erkennt. Denn wenn ein Mensch sich im Grunde seines Wesens nicht geändert hat, so ist er es. Schon in der Zeit, vor etwa 35 Jahren, in der er für Ketskoweli " ein guter Kerl" war, erkannte man ihn an der Sauberkeit seiner Ausdrucksweise. Dieser eigentümliche junge Mann hasste alle Phrasen. Er war das Gegenteil von denjenigen, die mit volltönenden Reden und kühn in die Luft gezeichneten Gesten nach vielen Effekten haschten. " Knappheit, Klarheit und Exaktheit waren seine kennzeichnenden Merkmale." Zum Unglück für seine Ruhe studierte er in dem Tifliser Seminar im geheimen naturwissenschaftliche und soziologische Bücher. Er trug das geschriebene Gift exakter Kenntnisse in dieses Haus der frommen Denkart. Die Herren des Hauses entdeckten diesen Skandal. Der Drang zum wirklichen Lernen war unvereinbar mit den reinen Traditionen des Seminars: der junge Sosso wurde als " politisch unsicheres Element" relegiert. " Er ging, ohne sieh umzusehen, geradewegs zu den Arbeitern." 1898 trat er in die Tifliser Organisation der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei ein. Das war, wie wir gesehen haben, gerade das offizielle Geburtsjahr dieser russischen Sektion der II. Internationale. Jetzt war er auf seinem Wege. Er hatte nicht lange zu suchen brauchen, er war sofort gradlinig auf ihn zugegangen. Dieser Intellektuelle, Sohn eines bäuerlichen Arbeiters, wählte das Metier des " Berufsrevolutionärs"; zuerst unter den Eisenbahnern von Tiflis, später unter den Tabak-und Schuharbeitern, dann unter den Arbeitern der meteorologischen Station: ein Arbeiter der Arbeitersache. Einer von seinen Gefährten der damaligen Zeit, der in jenen Tagen viel mit Sosso Dshugaschwili zusammen war, berichtet uns, wie sein Freund " zu den Arbeitern zu sprechen verstand". Diese Gabe, für jedermann verständlich zu sein, war auch eine charakteristische Eigenschaft Lenins, der, zehn Jahre älter, damals in den Hauptzentren der russischen sozialistischen Bewegung tätig war. Dieser Lenin, der die Elektrifizierung der Hälfte des alten Kontinents voraussah in einem Augenblick, wo ganz Rußland nur ein von innen und außen beranntes, schuttbedecktes Ruinenfeld war, dieser Seher, der die größten irdischen Pläne, die je ein Gehirn geschmiedet hat, in ihrer ganzen Größe und bis zum letzten I-Punkt zu erfassen verstand, wusste ebenso zu den Arbeitern zu sprechen, selbst individuell: die Mütze tief über den runden und kahlen Schädel gezogen, mit listigen Augen, die Hände in den Taschen, mit dem Aussehen eines gutmütigen, aber dickköpfigen und gewitzten kleinen Kaufmanns trieb er sich an den Fabriktoren herum. Er sprach einen Arbeiter an, unterhielt sich vertraulich mit ihm-und hatte ihn fürs Leben gewonnen. Aus einem Gleichgültigen machte er einen 14 13 Aufrührer, aus einem Aufrührer einen Revolutionär. (Und der Bauer sagte von ihm: " Dieser kleine Mann da, mit den Pockennarben, weißt du, das ist einer wie du und ich. Er könnte geradewegs vom Felde gekommen sein.") Joseph Wissarionowitsch war vom selben Schlage, und das lässt diese beiden Silhouetten unter der Menge der anderen vor unseren Augen noch näher aneinanderrücken. " Die natürliche Einfachheit Sossos, seine absolute Gleichgültigkeit gegenüber seiner persönlichen Lebenslage, seine innere Festigkeit, seine schon damals bemerkenswerte Bildung gaben ihm Autorität und machten, dass seine Umgebung ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte und bewahrte. Die Arbeiter von Tiflis nannten ihn: ,unser Sosso'." Diese fast geniale Gabe, sich mit den Zuhörern auf dasselbe Niveau stellen zu können, war die tiefere Ursache für das Vertrauen und die Liebe, die die Massen diesem Mann entgegenbrachten, und für die gewaltige Rolle, die zu spielen ihm bestimmt war. Wir sollen uns aber nicht täuschen: sich auf die gleiche Höhe stellen bedeutet nicht, sich herablassen, sich billig machen, eine formlose Familiarität genießen. Durchaus nicht. Orachelaschwili gibt uns eine klare Definition: " Er war weder schematisch, noch vulgär." Der Parteifunktionär war für ihn ein Transformator, der dieselben Dinge sah, wie der weiseste Theoretiker, nur angepasst an den Geist und die Bildung des Hörers. Wie? Durch Bilder, durch lebende Beispiele. Wir anderen, erklärt Orachelaschwili, die mit ihm zu den...