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Zurückgeworfensein

2015, Recherches germaniques

Krankheit als Chance zum Selbstbewusstsein Krankheit ermöglicht und erzwingt ein Insichgehen, welches wir uns ansonsten bei den Anforderungen des geschäftigen Alltags kaum leisten können. Sie verweist uns vor allem eindringlich auf die Gefährdung unseres Daseinswir beherrschen unsere Geschicke nicht. Wir sind beispielsweise bevölkert von Bazillen, die uns nicht nur von außen befallen, sondern offenbar immer schon auch in uns stecken. Die Verletzlichkeit unserer Existenz, unser Ausgeliefertsein an unsichtbare Mächte, die uns jederzeit überwältigen können, stellt uns immer wieder in Frage und konfrontiert uns derart mit der existentiellen Frage nach dem Sinn, welche letzten Endes auch die Frage der Literatur ist1. Sowohl die Krankheit als auch die Literatur werfen den Menschen auf sich selbst zurück. Erst der Sand im Getriebe-wenn ich diese Eich'sche Formulierung aufgreifen darf, die ja zum Leitsatz nonkonformistischer Literatur wurde-bringt den Menschen zum Denken und zum Bewusstsein seiner selbst. Krankheiten sind jedoch auch Ausdruck von anders gelagerten Problemen, so hat es immer schon Epochenkrankheiten gegeben, also sich zu einer Zeit besonders stark entwickelnde Krankheiten, die der Gesellschaft ihr Bild zurückwerfen und Erkenntnis über ihre verborgenen Hintergründe erlauben. Solche Phänomene sind nicht allein physiologisch zu erklären, sie haben auch kulturelle Ursachen2. Die zur Zeit der späten Aufklärung so verbreitete Hypochondrie etwa lässt sich als Gelehrtenkrankheit erklären: sie galt als Zeichen einer hochentwickelten und sensiblen Vernunft. Die überwundene 1 So behaupten es auch Frank Degler und Christian Kohlroß in der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Bandes Epochen / Krankheiten. Konstellationen von Literatur und Pathologie.