2017
Einer der eindrucksvollsten Räume barocker Bibliotheksherrlichkeitöffnet sich der Besucherin oder dem Besucher im Stift St. Gallen. Wo heute stuckverzierte Wände, Deckengemälde, geschwungene Holzregale und kostbare Bodenintarsien den Blick einfangen, verbirgt sich ein noch viel bedeutenderer Schatz: Handschriften des 8. bis 16. Jahrhunderts, im einstigen Skriptorium entstanden oder von denÄbten erworben und seither hier verblieben. Ein seltener Glücksfall. Dieser nahezu geschlossene Bestand bildet den Grundstock der berühmten Bibliothek, die vor allem im Bereich Mediävistik laufend ergänzt wird und der Forschung zur Verfügung steht. Allein aus der Zeit vor 1200 besitzt die Bibliothek etwa 470 Kodizes, darunter dasälteste erhaltene Buch in deutscher Sprache, der " Abrogans", abgeschrieben um 790. Die erste " offizielle" Heilige Unter der Signatur Codex Sangallensis 560 verzeichnet die Stiftsbibliothek einen Band mit den Viten dreier Heiliger-Gallus, Otmar und Wiborada-aus der Zeit um 1075. 1 Genau 544 Seiten feinen Kalbspergaments sind kunstvoll in karolingischer Minuskel beschrieben. Auf den Seiten 374 bis 544 geht es um das Leben Wiboradas-oder Wiberat (ahd.)-, die 1047 als erste Frau von einem Papst heiliggesprochen wurde. Der Autor, Herimannus, konnte sich auf eine frühere Vita stützen: Kurz vor der Kanonisierung durch Clemens II. hatte sie der damalige Leiter der Klosterschule, Ekkehart IV., verfasst und dabei eine wiederumältere, nicht erhaltene Vorlage verwendet, die Ekkehart I. in den Sechzigerjahren des 10. Jahrhunderts niederschrieb, etwa vierzig Jahre nach Wiboradas Tod 926. So weit zu den Quellen. Wer war diese Frau, deren Name im Heiligenkalender der katholischen Kirche unter dem 2. Mai steht?