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Glück und Zeit

2010, Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie

Für die Position, die ich vertreten möchte, benötigen wir einige heterogene Mosaiksteine, die sich zu einem Bild ordnen sollen. Den ersten entnehme ich Marcel Prousts recherche du temps perdu. I. Das Wiederfinden der verlorenen Zeit Zu Beginn von Prousts siebenteiligem Roman kostet der Erzähler, der wie der Autor Marcel heißt, als junger Mann von einem in Tee getauchten Madeleine-Sandtörtchen und gerät in einen Zustand intensiven Glücks und dann der lebendigen Erinnerung an eine Episode seiner Kindheit. Warum die Erinnerung mit Glück verbunden ist, vermag er nicht zu ergründen. Das gelingt ihm (ansatzweise) erst im reifen Alter, im siebten Teil des Romans, als ihm eines Tages eine ganze Kaskade von Wiedererinnerungen des Madeleine-Typs zuteil wird. Das anfängliche Erinnerungserlebnis widerfährt Marcel, als er an einem Wintertag durchfroren nach Hause kommt und sich von seiner Mutter zu Tee und Kuchen überreden lässt. Er führt bedrückt durch den trüben Tag und die Aussicht auf den traurigen folgenden, einen Löffel Tee mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl [un plaisir délicieux], das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Mit einem Schlage waren mir die Wechselfälle des Lebens gleichgültig, seine Katastrophen zu harmlosen Mißgeschicken, seine Kürze zu einem bloßen Trug unsrer Sinne geworden […]. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen. 2 Das Glücksgefühl steigt aus unbekannter Tiefe im Inneren des Erzählers auf, doch es fällt ihm schwer, sich auf diese Tiefe zu konzentrieren. Die Trägheit rät ihm, »das Ganze auf sich beruhen zu lassen«. Aber dann ist »mit einem Male […] die Erinnerung da«: