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Deutsche Europapolitik nach dem Regierungswechsel 2005

2006, integration

Abstract

Im Bundestagswahlkampf hat die Europapolitik eine untergeordnete Rolle gespielt, Anzeichen für einen tiefgreifenden Politikwechsel hat es nicht gegeben. Das liegt zum einen sicher an einem deutschen Spezifikum: Europa ist kein Streitfall zwischen den Parteien, der Konsens darüber, dass die europäische Integration zur deutschen Staatsräson gehört, reicht weit und lässt Divergenzen allenfalls in konkreten Einzelfällen oder Stilfragen zu. 1 Zum anderen war die Abwesenheit von Europa-Themen im Wahlkampf auf die Lage der Europäischen Union selbst zurückzuführen, auf die ‚Reflexionsphase', die die Staats-und Regierungschefs nach den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden bei ihrem Juni-Gipfel verordnet hatten. Daneben war im Juni auch die Einigung über die mittelfristige Finanzplanung der Union für die Jahre 2007 bis 2013 gescheitert, ein neuer Kompromiss nicht in Sicht. Einige Monate zuvor schien es gelegentlich, als solle das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Türkei ein Wahlkampfthema werden, aber die Entscheidung, am 3. Oktober Verhandlungen aufzunehmen, war im Frühjahr längst gefallen (auch wenn die Zypern-Frage noch zu einem Stein des Anstoßes hätte werden können). Schließlich ist die französische Politik schon jetzt durch die Infragestellung der Autorität Jacques Chiracs als Staatspräsident und die Aussichten auf die Wahlen 2007 blockiert, in Großbritannien reicht die Zukunft Tony Blairs nicht mehr sehr weit, in Polen standen ebenfalls für den Herbst 2005 Neuwahlen an-so dass insgesamt die europäische Politik ein unübersichtliches Terrain war und ist, auf dem Blockade, Irritation und Orientierungssuche keine idealen Voraussetzungen für wahlkampfwirksame Positionierungen abgaben. Bei einer tiefergehenden Analyse stellt sich heraus, dass die Konzentration auf innenpolitische Themen, auf die Reform des Sozialstaates, auf die Wiederbelebung von Wirtschaftswachstum nur scheinbar von Europa absieht: Gerade diese Aufgaben haben, jedenfalls in einem so großen Teilbereich des Europäischen Binnenmarktes wie der deutschen Volkswirtschaft, selbst erhebliche Bedeutung für Europa, für die gemeinsame Währung und für die Finanzierung europäischer Politik. Insofern war und ist die Fokussierung auf Wirtschaftswachstum und Sozialstaatsreformen implizit auch eine europäische Aufgabe für deutsche Politik-viele andere Mitgliedstaaten warten sehnsüchtig auf eine Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft, im eigenen und im europäischen Interesse. Im deutschen Wahlkampf den Blick auf die innerstaatlichen Wachstums-und Sozialprobleme zu richten, entspricht durchaus der geltenden Arbeitsteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, der zufolge die Union für die Organisation des Binnenmarktes, die Mitgliedstaaten dagegen für Sozialpolitik und für einen Großteil der Wachstumsbedingungen zuständig sind. In dieser Hinsicht ist Europa im deutschen Wahlkampf implizit öfter als auf den ersten Blick erkennbar, und zwar als Rahmenbedingung, unter der die deutschen Regeln für Arbeitsmarkt, Sozialversicherungen, Steuern et cetera neu zu gestalten wären. Andererseits freilich kann