2012, Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 (Schleiermacher-Archiv Bd. 24), hg. v. Roderich Barth / Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener, Berlin/Boston 2012
Kaum ein Autor im goethezeitlichen Deutschland hat sich in vergleichbarer Weise um die Aufklärung sowohl des Christentums als auch des Judentums bemüht, wie Johann Gottfried Herder. Diese Feststellung ist insofern mehr als ein theologiegeschichtlicher Gemeinplatz, als sie das Ergebnis eines durch die neuere Forschung modifizierten Herderbildes und eines erweiterten Verständnisses der Aufklärung einschließlich der Bedeutung des Judentums für das Werk Herders und für die Aufklärung ist. Als Aufklärer bündelt Herder in seinem Werk die kultur-und geschichtsphilosophischen, die ästhetischen, sprach-und religionstheoretischen Modernisierungstendenzen seiner Zeit mit dem Ziel einer umfassenden »Humanisirung des Christenthums«. 1 Und als Aufklärer ist Herder als kongenialer Ausleger der heiligen Poesie der Hebräer sowie als Visionär einer religionskulturellen Zusammenbestehbarkeit von Christentum und Judentum unter dem gemeinsamen Dach Europas hervorgetreten. Ausgerechnet seine intensive und lebenslange Beschäftigung mit den jüdischen Religionsurkunden und dem Judentum wurde und wird Herder jedoch nicht nur wohlwollend ausgelegt. Neben berühmten Würdigungen insbesondere auch von jüdischer Seite 2 mehren sich seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts äußerst kritische, bisweilen sogar verzerrende Beurteilungen von Herders Stellung zum Judentum, die oft nicht einmal auf einer eingehenden Herderlektüre beruhen, sondern sich auf herausgerissene Zitate stützen und jede historische Kontextualisierung von Herders Position vermissen lassen. 3 Diese Stimmen reagieren freilich ihrerseits auf eine Herderrezeption, die genauso eklektisch verfuhr und ihn seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert für einen nationalistischen Chauvinismus oder sogar einen antisemitischen Rassismus zu vereinnahmen suchte. 4