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Experiment und Imagination - Vergleichendes Sehen als Abenteuer

Vergleichendes Sehen. Ed. L. Bader, M. Gaier & F. Wolf, München 2010, pp. 71-94.

Abstract

Wie viele Seiten hat ein jedes Ding? -So viele, wie wir Blicke für sie haben [...]«. (Ulla Hahn, Das verborgene Wort, 2001) I »Daß eigentlich alle, alle, alle unsre Urtheile nichts als Vergleichungen, nichts als Klassificationen, nichts als Zusammenhaltung und Vorweisung der Ähnlichkeiten einer unbekanntern Sache mit einer bekanntern sind«, wer wollte das gegen Johann Caspar Lavater ernsthaft bestreiten? 1 Und damit könnten unsere Überlegungen auch schon abgeschlossen sein. Denn ganz offensichtlich eignet Vergleichen etwas Automatisches. Ohne dass dies ins Bewusstsein gelangen muss, gehören sie zum alltäglichen Geschäft; permanent angewandt, bedeuten sie Routine, können sie zum quasi natürlichen Instrument des Umgangs mit einer vor allem visuell wirkenden Welt werden. Erfahrung ist kaum vonnöten. Und für Experiment, also eine Situation, in der platziert, justiert, probiert wird, bleibt anscheinend nur wenig Raum. Aber auch das freie Spiel der Gedanken, das phantasiegenerierte Bilder und Konstellationen vor Augen stellt, findet hier, wenn überhaupt, höchstens in sehr eng gezogenen Grenzen statt. Demgegenüber beruht das Vergleichen, so wie Lavater es vertritt, auf festen Einstellungen, die sich eigenverantwortlicher Vorbereitung ebenso entziehen wie sie planerischer Energie unzugänglich sind. Klaus Niehr -9783846750155 Heruntergeladen von Brill.com09/24/2020 02:56:00PM via free access Klaus Niehr Klaus Niehr -9783846750155 Heruntergeladen von Brill.com09/24/2020 02:56:00PM via free access 72 | 73 Experiment und Imagination le sentiment religieux, mais je me suis involontairement écrié: ›L'Église!‹« 3 »Rapprocher«, die der Erkenntnis zugrunde liegende Inbezugsetzung zweier oder mehrerer Objekte aus einer großen Zahl zur Verfügung stehender Dinge, ist demnach die eigentliche Handlung, welche dem Vergleichen als Basis dient. Bei Proust bedeutet dies ausdrücklich keine von der ratio verantwortete Tätigkeit, sondern eine spontane, fast möchte man sagen, körperliche, vom Augeneindruck ausgehende Reaktion auf ein unerwartetes Erlebnis. Infolgedessen findet auch hier nicht etwa Experiment statt; es wurde keine Versuchsanordnung aufgebaut, innerhalb derer eine bestimmte, vorab geplante und danach durchgeführte Aktion in Gang kam, die ein erwartetes, erhofftes oder befürchtetes, Ergebnis zeitigte. 4 Vielmehr wird von Beginn an dem Zufall die entscheidende Rolle als Auslöser des Handelns überlassen, so dass das Resultat, wie aus dem Nichts auftauchend, vor Augen steht. Zudem ist deutlich: In den beiden von Proust geschilderten Fällen werden über die plötzlich sich konkretisierenden Beziehungen kaum kontrollierbare Gedanken freigesetzt. Die anarchische Potenz des Vergleichs, der alle Grenzen überwindet, unvermittelt Eindrücke schenkt oder zerstört, eingefahrenes Denken konterkariert oder bestätigt, deutet sich an. Zwischen den von Lavater und Proust aufgezeigten Positionen lassen sich wesentliche Einstellungen des Vergleichens im Allgemeinen, des vergleichenden Sehens im Besonderen ansiedeln. Scharfe Abgrenzungen dieser Positionen voneinander sind kaum möglich. Die durch Gewohnheit in einen festen Rahmen eingebundene Vergleichskonstruktion, der kaum jemand entrinnen kann, auf der einen, die sowohl durch überlegte Anordnung ins Leben gerufene oder aber völlig unvermittelt aufblitzende Kombination, die zwei oder mehrere Gegenstände zu Verwandten macht bzw. sie voneinander trennt, auf der anderen Seite, mögen Prägung und Starre, Beweglichkeit und Selbstbestimmung signalisieren, einen eher wissenschaftlichen und einen eher spielerischen Umgang mit dem Vergleich andeuten. Derartige polare Klassifikationen verlieren allerdings aus dem Blick, dass selbst, ja vielleicht gerade der spielerischen, leicht der Verfügbarkeit entgleitenden Variante des Vergleichs eine überaus wichtige Funktion auch in der Wissenschaft zukommt, weil zuallererst diese Variante das Potenzial zu grenzüberschreitender Erkenntnis in sich trägt. Und deshalb soll das Augenmerk in den folgenden Zeilen den experimentell produzierten Klaus Niehr -9783846750155 Heruntergeladen von Brill.com09/24/2020 02:56:00PM via free access Klaus Niehr