Die Zweiteilung in Rechts-und Tugendpflichten bildet die Fundamentunterscheidung der kantischen Pflichtenlehre und das zentrale Ordnungsschema der Metaphysik der Sitten. Kant entwickelt sie im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Distinktion zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, die er der naturrechtlichen Tradition entnimmt. Wie die zahlreichen Bemerkungen in seinen veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften zeigen, hat sich Kant immer wieder mit dem traditionellen Pflichtendualismus beschäftigt. 1763 erwähnt er das Begriffspaar Vollkommen/Unvollkommen erstmals in einer seiner Veröffentlichungen. Ab 1764 diskutiert Kant die Unterscheidung regelmäßig in seinen Ethik-Vorlesungen; und auch in den Träumen eines Geistersehers von 1766 unterscheidet er Pflichten, die einem "starken Gesetz der Schuldigkeit" unterstehen von solchen, die von einem "schwächeren Gesetz der Gütigkeit" regiert werden. Das Ergebnis dieser Reflexionen geht ein in die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 und der späten Metaphysik der Sitten von 1797. Aus heutiger Sicht muss die Prominenz dieser Distinktion in Kants moralphilosophischem Denken freilich überraschen, da uns der Glaube an ihre Bedeutsamkeit inzwischen abhanden gekommen ist. Erst kürzlich gestand ein Kritiker, dass ihm kein vernünftiger Grund bekannt sei, der sie ratsam oder auch nur hilfreich erscheinen ließe. 1 Die sich hier artikulierende Skepsis ist für die heutige Moralphilosophie repräsentativ und bildet nur das Endstadium einer Entwicklung, die schon zu Kants Lebzeiten einsetzt. Im 19. Jahrhundert findet der naturrechtliche Pflichtendualismus kaum mehr Beachtung und gerät spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast völlig in Vergessenheit. Ein kürzlich erschienener Aufsatz fasst die vorherr-schende Einstellung gegenüber dem naturrechtlichen Pflichtendualismus schon im Titel zusammen. Er heißt "Who Needs Imperfect Duties?" 2 Ich möchte zunächst zeigen, dass die Klärung der Distinktion zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten für Kant weder eine Nebensache noch eine hausgemachte Schwierigkeit speziell seiner Moralphilosophie ist. Vielmehr reagiert Kant damit auf eine Grundlagenkrise des modernen Naturrechts. Der Pflichtendualismus war für das Selbstverständnis des gesamten neuzeitlichen Naturrechts von Grotius, Pufendorf und Thomasius bis hin zu den frühen Kantianern zentral. Trotz Anstrengungen war es diesen Philosophen jedoch nicht gelungen, ihn befriedigend zu erklären und zu begründen. Diese Grundlagenkrise verleiht Kants Klärungsversuchen ihre Dringlichkeit und Brisanz. Ihre erfolgreiche Bewältigung ist für ihn so etwas wie eine Nagelprobe auf die Leistungsfähigkeit seiner Moralphilosophie. Meine zweite These lautet, dass Kants Lösungsversuche um drei Vollkommenheitskriterien kreisen, von denen er in unterschiedlichen Phasen seines Nachdenkens jeweils eines in den Mittelpunkt seiner Erklärungsbemühungen stellt. Dabei handelt es sich um die Kriterien der Erzwingbarkeit, der größeren Verbindlichkeit und der inhaltlichen Bestimmtheit ihrer Erfüllungsbedingungen. [I. Die Grundlagenkrise des modernen Naturrechts] Ich beginne mit der Grundlagenkrise. In seinem Aufsatz Warum sind die Menschenpflichten entweder vollkommene oder unvollkommene? Und welche Pflichten gehören zu der ersten, welche zur zweiten Gattung? von 1780 erklärt Ludwig J. F. Höpfner die im Titel seiner Schrift angesprochene Distinktion für ebenso allgemein akzeptiert wie offenkundig: [Zitat Höpfner] "Daß die Pflichten des Menschen gegen den Mitmenschen in Zwangsund Liebespflichten, oder vollkommene und unvollkommene, wie andere sagen, eingeteilt zu werden pflegen, wissen auch die, welche sonst nicht viel wissen. Jene geben dem Menschen, dem ich sie schuldig bin, ein vollkommenes Recht, diese ein 2 Statman, Daniel: "Who needs Imperfect Duties?" American Philosophical Quarterly 33, 1996, pp. 211-224 unvollkommenes. […] Das alles ist trivial genug." [Zitatende] (Höpfner 1806 6 /1780, 289) Der Pflichtendualismus gilt Höpfner freilich nur deshalb als trivial, weil er für das Selbstverständnis des Naturrechts grundlegend ist. Die Naturrechtler glauben innerhalb des Gebiets des Moralischen einen das eigentliche Naturrecht im strikten Sinne ausmachenden Kernbereich isolieren zu können, für den notwendigere, strengere und exaktere Gesetze gelten als für die übrige Moral. Bekanntlich hat Aristoteles die These vertreten, dass wir uns in der Praktischen Philosophie damit begnügen müssten "die Wahrheit nur grob und in Umrissen anzudeuten." (NE 1094b) Die aristotelische Tugendethik lässt Antworten auf die Frage "Was soll ich tun?" notorisch unterbestimmt. Sie gibt uns kein Entscheidungskriterium an die Hand, das, wie Kant es ausdrückt, unsere moralischen Pflichten "der mathematischen Angemessenheit analog auf der Waage der Gerechtigkeit" (MS 375) präzise, und für jedermann überprüfbar, festlegt. Besonders für einen Christen war diese Situation nicht nur intellektuell unbefriedigend, sondern gefährlich. Denn das Christentum lehrt eine Moral der Pflicht und des Gesetzes, die das Seelenheil nicht primär vom tugendhaften Charakter einer Person abhängig macht, sondern von ihrer pünktlichen Unterlassung sündhafter Handlungen. Möglicherweise hat der Mailänder Bischof Ambrosius deshalb schon im 4. Jahrhundert Ciceros Unterscheidung zwischen "officia media" [kath-hekon] und "officia perfecta" [kat-orthoma] auf die patristische Distinktion zwischen göttlichen Geboten ["praecepta"] und göttlichen Ratschlägen ["consilia"] bezogen. Die wichtigeren officia media, so Ambrosius, entsprängen dem Dekalog und zielten unmittelbar auf die Vermeidung von Sünden, während die lässlicheren officia perfecta supererogatorische Handlungen empfehlen, durch die man sich über die Ableistung des Geschuldeten hinaus moralische Verdienste erwerben kann. So wird verständlich, warum insbesondere für gläubige Christen --und das waren fast alle modernen Naturrechtler --die Isolierung eines Kernbereichs exakter Handlungsregeln von erheblichem Interesse war. Unabhängig davon war dieser Kernbereich jedoch auch aus rechts-und staatsphilosophischer Sicht bedeutsam. Denn ihm zuordenbare Pflichten sollten nicht nur klar und eindeutig, sondern vor allem auch legitim erzwingbar sein. Eine Klärung des hier relevanten Begriffs legitimer Erzwingbarkeit versprach daher die Beantwortung der Frage nach den Grenzen staatlicher Gewalt, einer zentralen Frage der Politischen Philosophie. Die Naturrechtler sind sich einig, dass Grotius das Verdienst gebührt, die hier relevanten Unterscheidungen erstmals in aller Klarheit formuliert zu haben. Er trifft sie im Rahmen seiner Kritik der aristotelischen Gerechtigkeitstheorie. Für Grotius ist Gerechtigkeit kein Habitus, keine innere Einstellung einer Person, sondern eine interpersonale Beziehung. Auch für die Beantwortung der Frage, ob eine Handlung gegenüber anderen gerecht ist, so Grotius, sei der Charakter der Beteiligten irrelevant. Entscheidend sei allein die moralische Qualität der externen Handlung. Die aber werde nicht durch die Einstellung des Handelnden bestimmt, sondern durch die subjektiven Rechte des Handlungsadressaten. Grotius erklärt den Rechtsbegriff als "moralische Qualität einer Person, kraft derer sie etwas rechtmäßig haben oder tun darf." 3 Ein solches Recht könne "perfecta" oder "minus perfecta" sein. Vollkommene Rechte dürften auch mit Gewalt durchgesetzt werden, während es sich bei unvollkommenen Rechten nur um Billigkeitsansprüche handelt, die zu freiwilligen Handlungen auffordern. Knapp 50 Jahre später ergänzt Pufendorf in De jure naturae et gentium (1672) die vollkommenen und unvollkommenen Rechte des Handlungsadressaten durch entsprechende korrelative Pflichten des Handelnden. Unvollkommene Pflichten, so Pufendorf, entsprängen "ex jure imperfecto". Bei ihnen handle es sich um Pflichten der Menschlichkeit 4 , die nur freiwillig zu erfüllen seien. Bei den vollkommenen Pflichten hätten wir es hingegen mit Zwangspflichten zu tun, die [Zitat Pufendorf] "aus dem Recht im eigentlichen Sinne hervorgehen und welche die Gerechtigkeit im strikten Sinne fordert." 5 [Zitatende] Pufendorfs Charakterisierung der Quelle der vollkommenen Pflichten als das "eigentliche" Recht anderer bzw. als deren Gerechtigkeitsansprüche "im strengen Sinne" macht klar, dass vollkommene Pflichten für ihn höherwertig sind als unvollkommene. Ursache dieser Wertdifferenz, so Pufendorf, sei "ein Unterschied in den Gesetzen des Naturrechts, von denen die einen dem Sein, die anderen jedoch nur dem Gutsein der Gesellschaft dienen." 6 Pufendorf erklärt die Wertdifferenz der zwei Pflichtsorten also funktional, mit Blick auf ihren gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Die Verpflichtungskraft vollkommener Pflichten sei größer, weil ihre Erfüllung für das Zusammenleben existentiell notwendig sei und daher auch erzwungen werden dürfe. Hingegen sei ein Verstoß gegen unvollkommene Pflichten zwar Ausdruck mangelnder Menschenfreundlichkeit, aber noch kein Angriff auf die Existenzgrundlagen der Gesellschaft. Damit ist der Grundgedanke skizziert, sind die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zumindest genannt. Der publizistische Erfolg von Pufendorfs Schriften macht seine Distinktionen in ganz Europa bekannt und führt zu emsiger Betriebsamkeit bei ihrer Ausarbeitung. Dabei gibt man meist Pufendorfs Vorschlag, den Kernbereich des Naturrechts im Rückgriff auf die Unterscheidung zweier Sorten von Pflichten zu charakterisieren, den Vorzug gegenüber Grotius' Erklärung mit Blick auf vollkommene und unvollkommene Rechte. Auch findet spätestens bei Thomasius Grotius' Begriff eines unvollkommenen Rechts im Sinne eines nicht-erzwingbaren Billigkeitsanspruchs keine Beachtung mehr. Stattdessen wird die Recht/Pflicht-Korrelativität gemeinhin als konstitutives Merkmal ausschließlich vollkommener Pflichten betrachtet. [II. Kants Hauptkriterien: Verbindlichkeit, Erzwingbarkeit und Bestimmtheit] Wie die weitere...