2006, „…eine so gespannte Seele wie Nietzsche“. Zu Hugo von Hofmannsthals Nietzsche-Rezeption. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2006, S. 69–93.
Nemo aliquid potest cogitare, quam quod diligit. (Lucius Columenlla) Hillebrand, Bruno (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. 1. Texte zur Nietzsche-Rezeption 1873-1963. Tübingen: Niemeyer, 1978, S. 22 70 László V. Szabó Titanismus zu nennen. Er fand beinahe alles bei Nietzsche zu überspannt, zu übertrieben, allzu individualistisch. Insbesondere traf Also sprach Zarathustra, der doch viele Nietzsche-Anhänger enthusiasmierte, am wenigsten seinen Geschmack. Trotz der Hochschätzung von Nietzsches Stil, 2 blieb ihm das Buch, das viele Zeitgenossen faszinierte, eher fremd. Bezeichnend hierfür ist sein Bekenntnis in einem Brief an Rudolf Pannwitz vom 8. August 1917: Meine geringe Zugänglichkeit in manchem wird Sie überraschen. Was werden Sie sagen, wenn Sie hören, daß ich Nietzsches Zarathustra nie lesen konnte, ihn nach flüchtigem Aufblättern weglegte, weil etwas, ich kann kaum sagen was, und doch ich könnte es sagen: das was mir Pastorlich-affectiert schien, das Arrangierte, das Anreden und Abkanzeln des Lesers, das Coquettieren mit der Schwerverständlichkeit, mir so ganz und klar gegen den Geschmack war -sonderbar genug daß ich, sonst leicht bereit, mich zu corrigieren, gegen dieses Buch immer verhärtet geblieben bin. 3 Wenn Hofmannsthal Nietzsches Buch noch 1917 "nach flüchtigem Aufblättern" weggelegt hat, 4 so ist kein Wunder, dass daraus kein Buch wie Pannwitz' Zarathustras andere Versuchung (1929) entstehen konnte. Das "Affektierte und Arrangierte" in Nietzsches Schreiben haben ihn offenbar von der besonderen Bilderwelt des Also sprach Zarathustra ferngehalten; die früheren Zarathustra-2 Den Stilisten Nietzsche rühmt Hofmannsthal etwa, als er sich 1916 beim Lesen der Schriften Rudolf Borchardts "an Nietzsche, nicht den Aphoristiker, sondern an den großen Stilisten der philologischen Schriften" erinnert (Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. v. Bernd Schöller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a.M.: Fischer, 1979 [im Weiteren zitiert mit dem Sigle HGW], Bd. 9, S. 115), oder wenn er 1922 den sechs Jahre früher verstorbenen Karl Neumann (Orientalist, Übersetzer von buddhistischen heiligen Schriften) zum "Typus des eruditus, nicht dem des freien Denkers und glänzenden, subjektiven Stilisten wie Nietzsche" (ebd., 188) zählt. 3 Schuster, Gerhard (Hg.): Hugo von Hofmannsthal -Rudolf Pannwitz: Briefwechsel. Frankfurt a.M.: Fischer, 1993 [im Weiteren zitiert mit dem Sigle HP], S. 22. Der Briefwechsel zwischen Hofmannsthal und Pannwitz erschien erst 1993, weshalb er von manchen Interpreten (z.B. Steffen, Hans: Schopenhauer, Nietzsche und die