Zwischen den Theorie und Alltag Philipp Felschs Fallstudie über die Westberliner Theoriekultur von 1960–1990 Mit bunten Lettern kündigt er sich auf dem Umschlag an: Der lange Sommer der Theorie, der für drei Jahrzehnte ausgerufen wird und sich als Fallstudie entpuppt, die sich leichtfüßig zwi-schen den Gattungen bewegt. Sie lässt sich weder als klassische Theoriegeschichte, noch als reine Biographie, noch als Verlagsgeschichte lesen, vielmehr handelt es sich um ein äußerst gut recherchiertes und fundiertes Zeitgemälde der theoriebegeisterten Westberliner Szene in den 1960er bis 1980ern. Der Autor Philipp Felsch beschreibt nicht nur die Konjunktur der Theorie auf dem deutschen Büchermarkt in jener Zeit, sondern erzählt am Beispiel des 1970 gegründeten Merve Verlags und der Suhrkamp-Kultur von der Theorie als Lebensform, die eine ganze Generation von Intellektuellen prägte. Vor dem Hintergrund der Frankfurter Schule, dem aufkommenden Neomarxismus und schließlich dem Poststrukturalismus folgt man der Entwicklung des Mer-ve Verlags vom Raubkopiegeschäft hin zu einem etablierten Verlag. Inwiefern die Geschichte des Verlags symptomatisch für diese Theoriekultur ist, bleibt jedoch etwas offen. Signifikanz entwickelt Felschs Studie vielmehr durch das Nachzeichnen der Biographie des 2014 verstorbenen Verlagsmitgründers Peter Gente, der als Protagonist dieser sprachlich glänzenden und lebendigen Rückschau fungiert. Hierbei werden geschickt biographische Elemente mit der Verlagsgeschichte verbunden und mit einer teils analytischen, teils atmo-sphärischen Beschreibung der Theoriekultur im damaligen Westberlin unterfüttert. Der rote Faden findet sich dabei in Gentes Werdegang, der vor allem passionierter Leser und kein Au-tor wissenschaftlicher Texte war (53). Er wird als aufmerksamer Rezipient und subversiver Herausgeber geschildert und steht symptomatisch für eine wesentliche Eigenart der 68er: Zwar wurde Theorie (gerne als Kollektivsingular verwendet) mit Enthusiasmus gelesen, dis-kutiert und verbreitet, doch eigene Theorie brachte diese Generation erstaunlich wenig hervor. Worin die Gründe dafür auch immer liegen mögen, zu beobachten war schließlich ein erstar-kendes neues Selbstbewusstsein des Lesers, so auch im Fall Gentes. Es war der Leser, der im Schatten des Autorentodes Karriere machte – Lesen wird zur Kunst. Das gemeinsame Lesen zur Praxis und Lebenserfahrung. Wer liest, ist nicht länger reiner Konsument, sondern nimmt eine produktive Haltung ein: »Die Kunst des Lesens erforderte Respektlosigkeit« (133), schreibt Felsch in dem hierfür zentralen Kapitel »Der Leser als Partisan«. Für Gente stellte dies ein Befreiungsakt dar, war er doch das, was Roland Barthes als »homo novus der Ge-genwart« (126) verkündete. Insofern eignet sich Gente ausgesprochen gut als Protagonist ei-ner derartigen Zeitreise; an ihm lässt sich die Hinwendung zur Verinnerlichung von Theorie als Leser exemplarisch nachvollziehen. Angesichts einer Leserforschung, die sich mittlerweile von dem Leser bzw. der Leserin im Singular distanziert hat, lässt sich jedoch fragen, ob sich Felschs beispielhafte Darstellung nicht tendenziell verflachend auswirkt. Eine Reflexion die-ser Problematik bleibt bei Felsch jedoch aus. Weiterhin gewinnt die Studie im Detail fast romanhafte Züge, wenn Felsch Gente und dessen Zeitgenossen Motivationen unterstellt oder ihre Reaktionen auslegt. Dies lässt an den unlängst ausgestrahlten Essayfilm B-Movie. Lust & Sound in West-Berlin 1979–1989 (2015) denken, der – wenn auch in einem viel größerem Ausmaß – einem ähnlichen Erzählprinzip folgt: An-hand einer real existierende Figur, in diesem Fall dem Briten Mark Reeder, der die Post-Punk Szene im Westberlin der 1980er kennenlernt, wird eine heute vergangene Ära dokumentiert – dabei wird die Grenze zum Fiktiven mithilfe der Schnitttechnik und Erzählweise immer wie-der überschritten. Sowohl Felschs wissenschaftlicher Ansatz, als auch die filmische Doku-mentation gewinnen so an erzählerischer Kraft. Anders als B-Movie verliert Der lange Som