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Der Erste Weltkrieg und die Schweiz von heute

Abstract

Das vergangene Jahr hat mit seinem 100-Jahr-Gedenken zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges für einen Moment eine Zeit wieder aufleben lassen, die lange im öffentlichen Bewusstsein kaum präsent war. Jetzt, da wir sie, diese Zeit, angereichert durch zahlreiche Jubiläumspublikationen vor uns haben, können wir sie mit unserer Zeit in Beziehung setzen. Und das können wir auf zwei unterschiedliche Arten tun: entweder mit einer kontrastierenden Gegenüberstellung von damals und heute oder mit einem Interesse für die grossen Entwicklung, die das Damals und Heute verbindet. Der Kontrast lässt sich scheinbar leicht herstellen mit einer doppelten Gegenüberstellung von bekannter Gegenwart und unbekannter Vergangenheit von besserer oder schlechterer Gegenwart und weniger guter oder besserer Vergangenheit. Die Differenz könnte auch einfach aus unbewerteter Andersartigkeit bestehen. Die Annahme, dass wir unsere Gegenwart besser kennen als die hundertjährige Vergangenheit, ist fragwürdig. Wie gut kennen wir unsere eigene Zeit? Wir »kennen« sie vor allem auf eine andere Art. Im Heute leben wir ohne geklärte Vorstellungen, wir haben vielleicht ein Gefühl für unsere Gegenwart, wir haben aber kein gemachtes Bild von ihr, während uns die Vergangenheit als elaboriertes Geschichtsbild gegenübersteht. Dieses Bild mag differieren, es tut es aber nicht stärker, als es die verschiedenen Vorstellungen zu unserer Gegenwart tun. Aus diesem ungleichen Gegenüber können wir immerhin ein paar punktuelle Paarungen bilden 1 : die soziale Sicherheit heute versus die soziale Sicherheit damals. Damals die fehlenden oder einfach nicht vorhandenen Ersatzleistungen für den Verdienstausfall der Militärdienst leistenden Männer, die miserablen Militärunterkünfte, die autoritäre Kluft zwischen Soldat und Offizier, die Nahrungsmittelknappheit, die von einem Teil der Diskriminierten als gravierendes Manko empfundene politische Rechtlosigkeit der Frauen, was allerdings keine Eigenheit der Kriegsjahre war, in den Kriegsjahren mit den schweren Haushaltssorgen aber besonders ins Gewicht fiel. Soviel in unvollständiger Kürze ein paar Hinweise auf schlechtere Vergangenheit versus bessere, aber natürlich nicht perfekte Gegenwart. Die Benennung besserer Vergangenheit versus schlechtere Gegenwart ist schwieriger und der Gefahr nostalgischer Verbrämung in Kombination mit moralisierender Gegenwartsmahnung ausgesetzt. Waren die Menschen genügsamer und sind sie heute leider anspruchsvoller? Waren sie früher dazu fähig, auf bescheidene Art die Freuden des Lebens zu geniessen, zum Beispiel einmal eine volle Schüssel Apfelmues vor sich zu haben? Einmal im Sommer ein Platzkonzert des Militärspiels als »hübsche Abwechslung«? Lebten die 14/18-Menschen trotz oder gerade wegen auferlegter Entbehrungen gesünder? Gingen sie häufiger zur Kirche, und was bedeutete dies? Sicher gab es eine lebendigere Gesangskultur -was bedeutet ihr Verlust? Die 1 Basierend auf Georg Kreis, Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914-1918. Zürich 2013. ERSTER WELTKRIEG Frage, ob die Menschen 14/18 mehr Gemeinsinn hatten, mehr guten Patriotismus aufbrachten, stelle ich nicht, weil ich da sicher bin, dass dies nicht der Fall war. Selbstverständlich gab es, den Kriegsverhältnissen entsprechend, einen ausgeprägten Vaterlandskult. Dieser war aber begleitet von einer nicht weniger starken Bereitschaft, diese und jene Verhältnisse sehr kritisch zu beurteilen. Im Parlament wurden die Auseinandersetzungen heftiger geführt, als dies heute der Fall ist. 2 Und die Armee generierte mindestens so viel Verdrossenheit wie Vaterlandsbegeisterung.