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Das Klinische Tagebuch

2021, Psychotherapie zwischen Klinik und Kulturkritik

Abstract

ohne Eigenschaften wird das Leben als Klinik imaginiert, in der sich der moderne Mensch einrichten muss. Zwischen Geburt und Tod liegt das Leben auf dem Krankenbett der Moderne und weiß nicht, dass der Grund seiner Erkrankung tief in sich selbst verwurzelt ist. Das Leben erkrankt am Leben und kennt den Schlüssel seiner Genesung nicht. Klinisch tot betrachtet sich der Mensch beim Fortgang seines Lebens von außen als nicht-teilnehmender Beobachter. Die Klinik ist ihm Wiege und Grab zugleich. Sein Leben befindet sich im Dauerzustand des Pathologischen. Dies verhandelt zumindest die moderne Literaturgeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Über Normen und Formen psychischer Gesundheit und ihrer Störung wurde seit der Antike in philosophischen wie medizinischen Abhandlungen rege debattiert und spätestens bei Descartes, aber auch Leibniz und Locke, wurden Ausschlussverfahren des Wahnsinns angewandt, um eine Rationalität des menschlichen Verstandes zu konzipieren. Die Frage nach psychischer Gesundheit und der Abweichung von ihr war immer schon ein Feld von Kämpfen zwischen Grenzziehungen gewesen, die zwar oft exemplarische Fallbeispiele verwendeten, aber nichtsdestotrotz stets vom konkreten Einzelfall zum großen Allgemeinen führten, um die Theorie eines rational, gesunden Bewusstseins zu begründen. Philosophische Theoriebildung beruht seit jeher auf einem Ausschlussverfahren, welches die Gesunden von den Kranken trennt, die »Vernunftmenschen« von den