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Wissen und Erzählen

2010

Abstract

Wenn sich in den letzten Jahrzehnten eine starke Konvergenz zwischen Wissensgeschichte, Kultursemiotik und Literaturtheorie abzeichnet, so hängt dies mit der Karriere eines Begriffs zusammen, der lange einen Gegenpol zu wissenschaftlichem Wissen markierte: des Begriffs der Erzählung. Er hat seine literatmwissenschaftliche Domäne verlassen und seinen Geltungsbereich immer weiter ausgedehnt: in die soziale Praxis, die Historiografie, die Legitimation politischer Ordnungen, ins Recht, in das Handeln ökonomischer und Finanzmarktakteure und nicht zuletzt in die Geschichtsschreibung der Naturwissenschaften. Grundlage für diesen erfolgreichen Expansionismus ist die Beobachtung, dass Narrative ein wesentliches Element in der Organisation von Wissensordnungen und ihrer Erkenntnisfähigkeit sind. Erkennen und Erzählen stehen also nicht, wie man früher glaubte, zwingend im Widerspruch. Narrative Verfahren können vielmehr auf allen Ebenen der Wissensproduktion wirksam werden. Sie werden außerwissenschaftlich eingesetzt, um mehr oder minder abstrakte Theoriebefunde für ein breiteres Publikum illustrieren. Sie sind unentbehrlich, um Expertenwissen ins Allgemeinsprachliche zu übersetzen, es mit Plausibilität zu versehen und ihm zu gesellschaftlicher Akzeptanz zu verhelfen. Innerwissenschaftlich leiten sie zu Beobachtungen an, legen Zusammenhänge und Querverbindungen nahe und fügen zerstreutes Einzelwissen zu kohärenten und sinnhaften Aggregaten zusammen. Schließlich lässt sich oft sogar die inhärente Verknüpfungslogik von Einzelbefunden innerhalb von Theorien, Paradigmen oder ganzer Disziplinen auf eine narrative Struktur zurückführen. Das Erzählen wäre in einem solchen Fall keine Zutat zur »reinen« Wissenschaft, sondern eines ihrer universalen Prinzipien; genuin wissenschaftliche Erkenntnisprozesse wären, zumindest in Teilen, erzähltheoretisch reformulierbar. Und in dieser konstitutiven Funktion ist das Erzählen sowohl besonders interessant als auch besonders prekär. Die epistemische Belastbarkeit des Erzählens dermaßen zu strapazieren, schafft ein doppeltes Problem. Auf der einen Seite geht damit der Wissenschaft das Bündel der Leitunterscheidungen verloren, aufgrundderer sie sich in der europäischen Neuzeit als eigenes System konstituierte und ihren großen Siegeszug antrat: nämlich die Unterscheidung zwischen der Autorität der Fakten und der Autorität der Tradition, zwischen experimentell überprüfbaren Tatsachen und bloßen Meinun-89