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Luki

2020

Abstract

Ich kam Anfang der neunziger Jahre als zwanzigjähriger arroganter Bieler nach Bern. Arrogant, weil wir in Biel besser wussten, was Musik ist, Bern hatte den Rock, wir hatten den Freejazz und den Jazzfunk, den Rockabilly, den Punk. Bern hatte die Mundart, und Mundart war provinziell. Wir hatten Englisch und Französisch. Bern hatte auch etwas Prosa, wir, also ich und meine viel älteren, also vier Jahre älteren Freunde, hatten die Poesie. Wir machten Lesungen mit Musik, Improvisationen zu Gottfried Benn, Günther Eich, Trakl und anderem, was im Gymnasium nicht vorkam. Ich studierte an der Uni Freiburg, lernte dort einen ebenfalls arroganten Studenten kennen, Urs, der viel zu jung aussah, wie ein Quartaner, der sich an die Uni verirrt hatte. Er war unterhaltsam zynisch und hatte das laute frische Lachen eines Spitzbuben. Obwohl ich dachte, da er in Bern wohnte, er müsse reich sein-denn aus Bieler Sicht waren alle Berner reich-, freundeten wir uns an. Er wohnte in einem besetzten Wohnblock, Wände wurden in allen Farben gestrichen, Badewannen waren Kühlschränke, Zimmer waren Discos oder Massenlager. Bern begann mir zu gefallen. An einer der vielen Partys kreuzte er auf, schaute etwas erwachsener aus als andere, war aber ebenso uncool und etwas zu überschwänglich wie alle anderen Berner Männer-aus Bieler Sicht. Unser erstes Gespräch war kurz, ich stand an einem improvisierten Buffet mit vor allem Alkohol drauf und suchte nach einer Flasche, in der noch drin war, was draufstand, da spricht er mich von hinten an. »Hey, bist du Raphael? Ich bin der Luki. Habe gehört, dass du schreibst.« »Ja.« »Ich schreibe auch. Du Gedichte, nicht wahr? Cool! Ich eher so Kurzgeschichten.« »Cool. Freut mich, äh, Luki.« In der Erinnerung sehe ich so eine Art Kreuzung von jungem Johnny Cash und Nick Cave vor mir, jedenfalls was die Kleider betrifft. Ein begeistertes Lachen, vielleicht ein Schulterklopfen. Ich dachte damals, das sei Attitüde, um bekannt zu werden oder so. Ich hatte kaum jemandem erzählt, dass ich Gedichte schreibe, also folgerte ich, dass Lukas ein Freund von Urs sein musste. Wohl ein Amateur, dachte ich in meiner Arroganz.