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Genre und Gemeinsinn

2016

Abstract

Ein berühmtes Foto : Es zeigt einen Soldaten mit leerem Blick und weit geöffneten Augen; er scheint nicht bei Sinnen, entgeistert, doch nicht wahnsinnig, paralysiert, doch nicht tot. "Shell-Shocked Marine" lautet die Bildunterschrift, so als sei der Granatenblitz nur eine Steigerung fotografischer Belichtungstechnik. Kann man doch die Bildlegende nicht nur auf das dargestellte Gesicht, sondern auch auf die mediale Darstellungsform selbst beziehen. Jedenfalls schien mir das Foto seine Intensität daraus zu gewinnen, dass sein Sujet auf eigentümliche Weise mit dem medialen Prinzip der Fotografie übereinkommt: Die Zeit des im Granatenblitz erstarrenden Gesichts wird fassbar als die im Augenblick des Blitzlichts erstarrende Bewegung. Bewegung meint hier nicht irgendeine Bewegung im Raum, sondern eben jenes intensive Zusammenspiel mimischer Mikrobewegungen, das uns die Vorderseite eines Kopfes erst als ein Gesicht wahrnehmen lässt. Als mir dieses Bild in einem Fotoband der Arbeiten Don McCullins zum ersten Mal in den Blick kam, galt mein Interesse tatsächlich dem Gesicht selbst als Darstellungsform in den verschiedensten Künsten und Medien. Ich war auf der Suche nach Beispielen, an denen sich die Muster des Mienenspiels als eine spezifische Expressivität von Bewegung beschreiben ließen, die grundlegend für die kinematografische Visualität war. Dass diese Expressivität keineswegs an das filmische Bild gebunden ist, davon erzählt die lange Geschichte der Gesichtsdarstellung: von den Fayum-Porträts über die christliche Ikone bis zur neuzeitlichen Malerei. Und noch die fotografische Porträtkunst zielt in ihren Konventionen auf die Illusion des bewegten Mienenspiels, den lebendigen Ausdruck des Empfindens. Die Intensität, mit der das Foto als ein shell-shocked face den Betrachter trifft, ist also durchaus ein Effekt des poetischen Verfahrens. Doch hatte diese Intensität für mich noch einen ganz anderen Bezugspunkt. Denn in dem shell-shocked face der Fotografie schien sich eine Affektqualität zu enthüllen, in der ich ein Empfindungsmuster wiedererkannte, das mir kurz zuvor in einem Film begegnet war. Es handelte sich bei diesem Film um Terrence Malicks the thin red line (der schmale grat, USA 1998). Der Anblick des Fotos traf den gleichen Nerv; und das war nicht nur eine Frage verwandter Sujets. In dem einen wie in dem anderen Beispiel begegnete mir eine Art von "Gesicht ", das sich nicht als ein Sujet oder Motiv, ja das sich überhaupt nicht auf der Ebene des Dargestellten fassen ließ. An der Fotografie wurde greifbar, dass Gesichter keine fixierbaren Objekte darstellen; dass sich in ihnen vielmehr ein spezifischer Typus von Bewegungs