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Die Humanität der Selbstüberwindung

2005, Nietzscheforschung

Ecce homo oder die Autobiographie eines posthum Geborenen Wie lässt sich umgehen mit Friedrich Nietzsches Ecce homo, diesem sprachgewaltigen Zeugnis enthemmten Denkens? Was intellektuelle Enthemmung bedeuten kann, hatte Nietzsche im Rahmen von Scherz, List und Rache in der Fröhlichen Wissenschaft präludierend in zum Teil bitterernsten gereimten Scherzen gleichfalls unter dem Stichwort ,Ecce homo' angedeutet: "Ja! Ich weiss, woher ich stamme!/ Ungesättigt gleich der Flamme/ Glühe und verzehr' ich mich./ Licht wird Alles, was ich fasse,/ Kohle Alles, was ich lasse:/ Flamme bin ich sicherlich" (KSA, FW, 3, 367). Als Schüler, und man darf über diesen prekären Entwicklungszustand an diesem Ort, in Schulpforta, wohl sprechen, als Schüler mussten wir diese Strophe lernen im Anschluss an die Lektüre der Ballade Die Füße im Feuer von Conrad Ferdinand Meyer. Ich erinnere diese Verse als meine erste Begegnung mit dem Namen Nietzsche, wobei Ecce homo als nicht weiter entschlüsseltes Stichwort schon im Religionsunterricht vorgekommen war. Rezitiert haben wir diese Nietzsche-Verse übrigens im Chor, wobei zum Verfasser nichts gesagt wurde als sein Geburts-und Sterbejahr und zum Inhalt dieser flammenden Selbstverzehrung auch nichts. Vielleicht deswegen blieben einem diese Verse so unauslöschlich, so verdächtig, mythisch beinahe, ein Gedicht mit Brandgeruch. Was also hat es auf sich, mit Nietzsches flammendem Selbstbekenntnis? Wie steht es um die Deutung dieser intellektuellen Hemmungslosigkeit? Beginnen wir mit einer Analogie zu jener auch fur Ecce homo grundlegenden Entgegensetzung von Ästhetik und Ethik: "Das Ästhetische in einem Menschen ist das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist; das Ethische ist das, wodurch er wird, was er wird", heißt es im Kapitel Gleichgewicht des von Victor Eremita alias Sören Kierkegaard unter dem Titel Entweder-Oder herausgegebenen ,Lebensfragments' zweier fiktiver Intellektueller, Ästhetiker der eine, Ethiker der andere, des dänischen Philosophen beide Seiten. Was Kierkegaard in Entweder-Oder vorführte, war nichts weniger als eine intellektuelle Vivisektion, die an ihrer Radikalität und Rückhaltlosigkeit gemessen erste in der Philosophie der Moderne. Das Ästhetisch-Unmittelbare hatte bei Kierkegaard bekanntlich einen Namen: die musikalische Erotik von Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni. Das Ethische dagegen entwickelte sich laut Kierkegaard aus