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Hintertüren : Dostoevskij, Nietzsche, Bachtin

2013

Der Held aus Dostoevskijs "Zapiski iz podpol'ja" charakterisiert seine Lebensphilosophie in einem Satz. Er sagt: "у меня была благородная лазейка на все" (Dostoevskij PSS 5, 133; "Ich hatte mir für alles eine edle Hintertür zugelegt") 1. Lazejka bezeichnet im Russischen eine Ausflucht, eine Öffnung, ein Schlupfloch, beispielsweise ein Loch im Zaun, durch das man verschwinden kann, oder eine Hintertür, die man offen lässt. Im übertragenen Sinn steht lazejka auch für eine Art Kulturtechnik, nämlich das Finden einer Finte oder eines Tricks für den Ausweg aus einer verfahrenen Situation. In der Antike wird diese Kulturtechnik durch die Göttin Mētis (Μῆτις) charakterisiert, Mētis bedeutet für die Griechen Scharfsinn, geistige Wendigkeit, Finten, Findigkeit in Situationen, in denen es noch keine festgelegten Regeln oder Methoden gibt. Dostoevskijs Kellerlochmensch jedoch geht nicht nur durch die Hintertür, wenn er in eine verfahrene Situation gerät, sein Denken, Sprechen und Handeln ist vielmehr von Beginn an eines mit Hintertür, mit der Möglichkeit zur Flucht und zum Ausweg. Zudem ist diese immer offene Hintertür "edel", sie ist, wie er selbst formuliert, aus dem Bereich des "Schönen und Erhabenen" ("прекрасное и высокое", Dostoevskij PSS 5, 132), ist gewissermaßen das literarische, phantastische, träumerische Element, die pure Möglichkeit in seinem Leben. Die spezifische Hintertürphilosophie des Menschen aus dem Kellerloch haben zwei unterschiedliche Philosophen bzw. Philologen, und zwar Friedrich Nietzsche und Michail Bachtin, implizit und explizit zum Thema eigener Überlegungen gemacht. Nietzsche liest die "Aufzeichnungen aus dem Kellerloch" im Winter 1886/87 zur Zeit der Niederschrift der "Genealogie der Moral". Das Hintertürverhalten ist in Nietzsches "Genealogie" Kennzeichen des reaktiven Verhaltens des Menschen mit Ressentiment. Bei Bachtin ist die Hintertür, genauer gesagt das Wort und das Bewusstsein mit Hintertür, ein Charakteristikum des Möglichkeiten erzeugenden dialogischen Prinzips der Rede, das er in seiner 1929 veröffentlichten Studie zur Poetik Dostoevskijs beschreibt. Nietzsches und Bachtins Lektüren von Dostoevskijs Text sind auf den ersten Blick sehr unterschiedlich, sie führen den einen, Nietzsche, zur Reaktivität, den ande