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Horizonte der Einsamkeit

2015

Abstract

Jirgl: Zunächst habe ich einen biographischen Bezug zu Naturwissenschaften: Im Zuge meines Studiums der Elektroniktechnologie und meiner früheren Arbeit als Elektronik-Ingenieur erhielt ich diverse Eindrücke-zumindest in den Randbereichen dieser Wissensgebiete. Somit kann ich die bekannte Formulierung, der zufolge zum Lösen einer mathematischen Gleichung oder eines physikalischen Problems mindestens ebenso viel kreative Phantasie gehört wie zum Schreiben eines Romans, nur unterstreichen. Darin bestehen die Gemeinsamkeiten zwischen Naturwissenschaften und Literatur, was nicht wenig ist. Denn jede Sichtweise auf Wirklichkeit bedeutet eine wesensgemäße Form des Forschens. Die Unterschiede liegen in der Arbeit auf verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit. Deren differenzierte Eigengesetzlichkeiten sind durchaus strukturell vergleichbar, aber nicht gleich-so sind Stil und Schreibweise eines Romanciers abhängig vom Material, vom Wörtervorrat des Autors in seiner Zeit und von dessen bewusster Entscheidung über Sprache und Form seiner Arbeit. Aber weder Naturwissenschaftler noch Künstler können von sich aus die Alleinvertretung hinsichtlich der Erkundungen von Wirklichkeiten beanspruchen (das eine sei ›wirklicher‹ als das andere). Es sind nur verschiedene Leute mit unterschiedlichen Werkzeugen an jeweils anderen Orten an der Arbeit am ›Sinn der Realität‹. Möglicherweise erschaffen sie Tunnel und Übergänge für den gegenseitigen Wirklichkeitzuwachs? Mecke: Man kennt Sie als einen Schriftsteller, der in präzisen und oft abgründigen Geschichten die gesellschaftlichen Realitäten in Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert schildert. Nach den Romanen »Die Unvollendeten«, »Abtrünnig« und »Die Stille« nun »Nichts von euch auf Erden« (im Folgenden: NvE), Science-Fiction. Welche Motivation hatten Sie, dieses für Sie neue Genre auszuloten? Jirgl: Im eigentlichen Sinn ist »Nichts von euch auf Erden« kein Science-Fiction-Roman: Vor allem fehlen die für dieses Genre bestimmenden Topoi, so die ›Cockpit‹-Situation (vergleichbar dem Aspekt der ›Kommandohöhe‹), des Weiteren das Sprach-und Szenenreglement als Bestätigung des anthropozentrischen Weltbilds, schließlich der herbeigeführte Triumph des Menschen unter allen Umständen (die Narrative der Technokratie), zugleich mit dem moralischen Postulat des Überlegenen und Wertvollen (›Krone der Schöpfung‹). Das Beharren auf dem Anthropomorphen ist des Öfteren schon als grundlegender Mangel an Phantasie in diesen Science-Fiction-Produkten benannt worden, interessanterweise von Schriftstellern eben dieses Genres, wie zum Beispiel Stanisław Lem. Ich denke, dass außerhalb der irdischen Sphäre nirgendwo im All Kreaturen existieren, die dieses Menschliche mit seinen Fähigkeiten sowohl zur Grausamkeit als auch zur Güte übertreffen könnten. Zwei Problematiken, die miteinander ursächlich nichts zu tun haben, brachten mich dazu, dieses Buch in dieser Form anzulegen: Einmal die Diskussion über eine Heimkehrer-Geschichte der besonderen Art, wie sie als Mythos das »Buch Esra« in der Bibel erzählt; sodann die ›Terraforming‹-Pläne der NASA zur Umgestaltung des Planeten Mars. Zur Schaffung einer für Menschen tauglichen Marsatmosphäre, die der auf Erden dann vergleichbar sein soll, sehen die bereits im zwanzigsten Jahrhundert entworfenen ›Terraforming‹-Konzepte der NASA vor allem die Erzeugung eines planetaren ›Treibhauseffekts‹ für den gesamten Mars vor, wodurch etwas, das auf Erden heutzutage vernichtend sein könnte, dort Lebensbegründung hieße: tausende Megatonnen an FCKW, Kohlendioxid, Methan, Ammoniak und Schwefelsäure freizusetzen und in die Marsatmosphäre einzubringen. Viel von diesen hochgiftigen Gasen ist möglichst schnell in ökonomisch effizienten Zeitintervallen (Schnelligkeitseffizienz) zu produzieren: Die Maßgaben für die einstige Industrialisierung im Europa des neunzehnten Jahrhunderts finden sich wiederholt-Taylorismus in der Dreck-Produktion, die Gift-Geburt einer Menschenzukunft. Das »Buch Esra« und das ›Terraforming‹ des Mars: Aus diesen beiden zunächst unabhängig voneinander bestehenden Grundanregungen ließ sich ein Manöverfeld entwerfen, auf dem ich die Handlung des Buches entwickeln konnte, wie in einer großangelegten Versuchsanordnung über die Tauglichkeit des Menschen zu seiner eigenen Zukunft. Dabei ist das Motiv für »Nichts von euch auf Erden« folgendes: »Vor großflächigen Gemälden wie jenen von der-Menschenzukunft muß, um das Gesamte Werk zu überschauen, man etliche Schritte zurückweichen-manchmal bis auf einen anderen Planeten.« (NvE, 392) Die Erzählzeit in diesem Buch-das fünfundzwanzigste Erdzeit-Jahrhundertist nicht zufällig gewählt. Von der Gegenwart, in der das Buch abgeschlossen wurde, dem Jahr 2012 ausgehend, bedeutet das fünfundzwanzigste Jahrhundert vier Jahrhunderte im Voraus. Die gleiche Zeitspanne an der Gegenwart zurückgespiegelt, ergibt den Beginn des siebzehnten Jahrhunderts: Die Jahre vor dem Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs, der für Europa im Allgemeinen, für Deutschland im Speziellen, folgenreichste Krieg seit Beginn der Neuzeit. Vor 1618 hatten die mächtigsten Fürstentümer den Frieden durch gegenseitige militärische und wirtschaftliche Bündnisse und Heiraten zu sichern versucht, mithin das in Horizonte der Einsamkeit | 147