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Grenzlinien des Daseins

2005

Das künstlerische Bild ist eines, das seine eigene Entwicklung, seine eigenen historischen Perspektiven ganz aus sich selbst heraus manifestiert. Andrej Tarkowskij Grenzlinien Wie eine vom Subjekt abhängige Wirklichkeit sich im Bilde befreit und wie sie demnach die in ihr mitspielenden Menschen anders porträtiert, erläutert Richard Peace im vierten Kapitel seines Werkes Dostoyevsky, An examination of the major novels 1 unter dem Titel The Triumph of Aesthetics. Die Beziehung Fürst Myschkins zu Nastassja Filippowna, auf der der Roman Der Idiot aufbaut, be-ginnt nicht mit einer realen Begegnung der beiden, sondern mit einem Porträt von ihr. Die Einführung Nastassjas in die Erzählung ist im Vergleich zu den anderen Personen-auch im Vergleich zu dem gewöhnlichen Eintritt jeder bedeutenden Figur bei Dostojewskij-ein im wesentlichen indirekter Vorgang. Über sie, über ihre Herkunft und insbesondere ihre außergewöhnliche Schönheit erfährt Fürst Myschkin von anderen-von Rogoschin Parfjon, dem er schicksalhaft bei seiner Reise nach St. Petersburg begegnet, und später von Gawrila Ardalionytsch Iwolgin (Ganja) und General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin bei den Jepantschins zu Hause. Nastassjas Porträt, das Ganja von ihr selbst-kurz vor ihrem Geburtstag-geschenkt bekommt, zeigt er dem Fürsten: "Das ist also Nastassja Filippovna?" fragte er, wobei er das Porträt mit einem aufmerksamen und neugierigen Blick betrachtete. "Sie ist ja unglaublich schön!" [...] "Ein erstaunliches Gesicht!" [...] "und ich bin überzeugt, daß ihr Schicksal ungewöhnlich ist. Das Gesicht ist heiter, aber sie muß doch entsetzlich gelitten haben, nicht wahr? Die Augen verraten es, und diese beiden Knochen, diese beiden Punkte unter den Augen, hier, wo die Wangen beginnen. Es ist ein stolzes Gesicht, ein furchtbar stolzes, und ich weiß nicht: ob sie gut ist? Ach wäre sie doch gut! Dann wäre alles gerettet!" 2 Fürst Myschkin ist ihr nie vorher begegnet. Obwohl er während der Zugfahrt dem ganzen Gespräch zwischen Rogoschin und dem Beamten und später bei Jepantschins zwischen Ganja und dem General über Nastassjas Herkunft und Erziehung zuhört, bleibt er passiv, sogar gelassen. Anders betrachtet, macht er sich ausgehend von ihren Bemerkungen kein Bild von Nastassja. Ihm ist ihr Porträt allein ihre Identität, das Bild, von dem er sich tief gerührt fühlt, und das ihn zum Sehen veranlaßt, was den anderen unbekannt bleibt: "Aber plötzlich, zwei Zimmer vor dem Salon, blieb er stehen, als erinnerte er sich an etwas, sah sich nach allen Seiten um, trat vor ein Fenster, ans Licht, und betrachtete das Porträt Nastassja Filippownas. Ihm war, als müßte er enträtseln, was sich hinter diesem Antlitz verbarg und ihn vorhin so getroffen hatte. Der erste Eindruck war ihm fast ständig gegenwärtig geblieben, und er beeilte sich nun, irgend etwas gleichsam nachzuprüfen. Dieses Gesicht, außerordentlich durch seine Schönheit und durch noch etwas anders, traf ihn jetzt noch stärker. Unermeßlicher Stolz und Hochmut, beinahe Haß, schienen aus diesem Gesicht zu sprechen, zugleich aber auch ein Zutrauen und eine erstaunliche Gutherzigkeit; dieser Kontrast erweckte beim Anblick dieser Züge sogar etwas wie Mitgefühl. Diese blendende Schönheit war sogar unerträglich, die Schönheit der Blässe, der leicht eingefallenen Wangen, der brennenden Augen; eine eigentümliche Schönheit! Der Fürst schaute vielleicht eine Minute lang hin, fuhr plötzlich auf, drückte das Porträt hastig an seine Lippen und küßte es." 3 Allerdings ist Fürst Myschkin nicht der einzige Mensch, dem die Schönheit Nastassjas rätselhaft erscheint. Adelaida Jepantschin, die Malerin, erkennt in diesem Porträt eine ungeheure Kraft der Schönheit. Was ihr aber fehlt-in der Rechtfertigung ihrer Identität, sogar ihrer Existenz als Malerin-ist, wie sie dem Fürsten gesteht, ein Sujet für ein Bild. Das ist nichts anderes als das Vermögen, einen Gegenstand im Bilde aufzufassen. Nach Myschkin befähigt allein das Sehen den Künstler, das Bild im Gegenstande zu erkennen. Demnach dürfte sie den Mangel anders empfinden. Es fehlt ihr in erster Linie nicht an einem Sujet für ein Bild, sondern am Sehen selbst, genauer ausgedrückt, an der Bereitschaft zum Sehen: "Ich finde schon seit zwei Jahren kein Sujet für ein Bild: "Ost und Süd sind längst beschrieben... Bitte, schlagen Sie mir ein Sujet für ein Bild vor, Fürst." "Ich verstehe nichts davon. Ich glaube: Man sieht und malt." "Aber ich kann nicht sehen." 4 Es ist hier wichtig zu bemerken, daß eine derart einfache Antwort Myschkins auf diese Problematik, nämlich: Man sieht und malt, auf das primäre Vermögen eines Malers hindeutet. In einem Beispiel erläutert Fürst Myschkin, was ein Sujet für ein Bild sein kann und wie es zu sehen ist: "Vorhin, als Sie mich nach einem Sujet für ein Gemälde fragten, hatte ich in der Tat die Idee, Ihnen ein Sujet vorzuschlagen: Das Gesicht eines zum Tode Verurteilten, eine Minute, bevor das Eisen niedersaust, während er noch auf dem Schafott steht und den Kopf gleich auf dieses Brett legen wird." "Wieso das Gesicht? Nur das Gesicht?" fragte Adelaida. "Ein eigenartiges Sujet, wie soll das ein Bild geben?" "Ich weiß nicht, warum nicht?" beharrte der Fürst voller Eifer. [...] Malen Sie das Schafott so, daß nur die letzte Stufe deutlich und ganz nahe zu sehen ist; der Verbrecher setzt den Fuß darauf: Der Kopf, das Gesicht weiß wie ein Blatt Papier, der Geistliche hält ihm das Kreuz hin, er sucht es gierig mit seinen blauen Lippen und schaut und-weiß alles. Das Kreuz und der Kopf, das ist das Bild, das Gesicht des Geistlichen, des Henkers, seiner beiden Gehilfen und einige Köpfe und Augen unten-das kann alles gleichsam als Hintergrund, in einem Nebel, als Accessoire gemalt werden... So stelle ich mir das Gemälde vor." 5 Die meisten Studien zu diesem Roman Dostojewskijs behandeln das allgemein bekannte Motiv, daß auf die Christus-Figur des Fürsten Myschkins, der in manchen Zügen dem Don Quixote (worauf Aglaja in einem Gedicht von Pushkin, Der arme Fürst, hinweist 6) ähnelt, das Bild eines positiv guten Menschen projiziert wird. In Form von monologischen Gedankengängen wird der Vorgang