Nostalgie. Ein kulturelles und literarisches Sehnsuchtsmodell / B. Obermayr, A. Burghardt, A. Hansen-Löve (Hg.) // Wiener Slawistischer Almanach., 2019
Im wohl emblematischsten Film über Nostalgie, dem gleichnamigen Meisterwerk "Nostalghia" von Andr... more Im wohl emblematischsten Film über Nostalgie, dem gleichnamigen Meisterwerk "Nostalghia" von Andrej Tarkovskij, wird die breit gefächerte Sehnsucht des Protagonisten von bestimmten physischen Symptomen begleitet. Den Kern des Films bildet jedoch keine Kopf-, sondern eine Sache des Herzens: Der sowjetische Schriftsteller Gorčakov reist auf den Spuren des leibeigenen Komponisten Pavel Sosnovskij durch Italien, der im 18. Jh. vor Ort gewirkt hatte. Obwohl vordergründig die Frage nach den Ursachen für Sosnovskijs Rückkehr nach Russland im Zentrum des Films steht und demzufolge oftmals eine eher traditionelle Fokussierung der Nostalgie auf die Heimat vorgenommen wird, ist Gorčakovs Sehnsucht tatsächlich wesentlich komplizierter und wird im Film nicht eindeutig erklärt. Trotz der Tatsache, dass Gorčakov von Beruf Schriftsteller ist und somit zu erwarten wäre, dass er das Wort als Erkenntnisinstrument benutzt, tut er im ganzen Film fast nichts Anderes, als zu schweigen. Auf diese Weise wird dem Zuschauer vermittelt, dass Gorčakov entweder schon alles begriffen hat und sich seinem Schicksal ergibt oder dass er auf dem Weg zum Verständnis auf die Sprache verzichtet und wieder eine Verbindung herzustellen versucht zwischen der Welt seiner Erinnerungen -filmtechnisch auf nostalgische Weise in Sepia aufgenommen -und der ihn umgebenden Gegenwart, in der sein rätselhaftes Handeln durch die selbstzerstörende und -aufopfernde Lebensphilosophie des "Gottesnarren" Domenico 1 geprägt ist. Der Weg zur Erkenntnis wird am Ende des Films buchstäblich begangen, indem Gorčakov das verfallene römische Thermalbad Bagno Vignoni mit einer brennenden Kerze in der Hand durchquert. Hierbei bricht Gorčakov, auch buchstäblich, das Herz. Das Ziel wird -sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne -dennoch erreicht: In der letzten Filmeinstellung sitzt Gorčakov neben dem Hund, der im Film mal ihm, mal Domenico gehört, auf einer Wiese vor seinem Haus. Um die Wiese herum erheben sich in einer räumlichen Paradoxie die majestätischen Ruinen einer Kirche. Die Ursache der Nostalgie -das Streben nach einer unmöglichen Heimkehr in die Vergangenheit -wird durch Herzversagen aufgehoben. 1 Ohne Zweifel liegt die Rolle Domenicos in "Nostalghia" auch der Idee des nächsten und letzten Films von Tarkovskij zugrunde -"Offret" ("Opfer", 1986).
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Papers by Ilja Kukuj