Was ist das Reale des zeitgenössischen Realismus? Canetti, Jameson, Badiou »[…] our art, that of modernism, is not a new thing in itself but rather a cancelled realism, a realism denied and negated and aufgehoben in a genuinely Hegelian...
moreWas ist das Reale des zeitgenössischen Realismus? Canetti, Jameson, Badiou »[…] our art, that of modernism, is not a new thing in itself but rather a cancelled realism, a realism denied and negated and aufgehoben in a genuinely Hegelian fashion.« 1 »[…] the task today is to form a new world, to propose new Master-Signifiers that would provide cognitive mapping'.« 2 »The soul, he said, is composed Of the external world.« 3 Einleitung. ›Realismus‹ als Imperativ und Frage Realismus -als Projekt -fordert Treue. Doch ist jede Form der Treue schon immer mit konkreten geschichtlichen Situationen konfrontiert, die es ihr schwierig oder zumindest und zumeist nicht leicht machen. 4 Auch das künstlerische Projekt des Realismus sieht sich von Beginn an solchen konkreten Bedingungen gegenüber. 5 Sie erscheinen unter anderem in der Form der Veränderung derjenigen Wirklichkeit, der sich das realistische Projekt seinem Anspruch nach zuwendet. Denn dem Realismus ging es, wie Canetti festhält, immer um die »volle Wirklichkeit, es war wichtig, von dieser Wirklichkeit nichts […] auszuschließen.« 6 Wie aber schließt man von einer Wirklichkeit nichts aus, wenn diese sich zugleich konstant verändert oder zumindest zu verändern scheint? Wie, wenn Wirklichkeit so undurchschaubar wird? ›Realismus‹ enthält in diesem Sinne schon immer zwei Momente: Ein imperativisches und ein fragendes. Einerseits bezeichnet der Name ›Realismus‹ die (Auf-)Forderung realistisch zu sein und zu bleiben, d.h. mit dem realistischen Projekt, gleich unter welchen Bedingungen, weiterzumachen. ›Realismus‹ impliziert damit einen Imperativ der Treue. Andererseits ist dieser Imperativ schon immer mit einer Frage nach den konkreten Bedingungen und Methoden verbunden, die es zu kennen und zu beachten gilt, um dem 1 Jameson 1988, S. 68. 2 Žižek 2006, S. 319. 3 Stevens 1990, S. 51. 4 Den Begriff der Treue entlehne ich hier von Alain Badiou. Siehe: Badiou 2005, S. 229-298. Siehe dazu auch meinen Text: Ruda 2008. 5 Einen kurzen geschichtlichen Überblick über den literarischen Realismus im 19. Jahrhundert findet man etwa bei Plumpe 1985. 6 Canetti 1983a, S. 66. 2 realistischen Imperativ hier und jetzt folgen zu können. ›Realismus‹ impliziert damit eine Frage nach der Zeitgenossenschaft desjenigen, der dem Imperativ zu folgen sucht. Realist zu sein, meint daher auch schon immer zeitgenössischer Realist zu sein, d.h. Zeitgenosse der Wirklichkeit zu sein, auf die man sich bezieht, und Zeitgenosse des realistischen Projektes, das man fortsetzt und vorantreibt, zu werden. Die Frage der Zeitgenossenschaft stellt sich aber nicht nur als eine nach den angemessenen künstlerischen Mitteln und den Anforderungen historisch-spezifischer realistischer Darstellung von Wirklichkeit. Als Frage stellt sie sich auch und vielleicht gerade dann, wenn der Imperativ der Treue Unmögliches zu fordern scheint. Sie stellt sich auch, wenn es hier und jetzt unmöglich scheint, realistisch zu sein. Die Frage nach der Zeitgenossenschaft stellt sich immer wieder, da der Imperativ der Treue dem Beckett'schen Diktum aus Der Namenlose gleicht: »[M]an muß weitermachen, ich kann nicht weitermachen, man muß weitermachen, ich werde also weitermachen […].« 7 Der realistische Imperativ gilt auch dann, wenn es in geschichtlichen Wirklichkeiten unmöglich scheint, ihm zu folgen. Kann man aber dem Realismus treu bleiben, wenn diese Treue unmöglich scheint? 8 Ich werde mich im Folgenden drei Antworten auf diese Frage, mit drei theoretischen Auseinandersetzungen mit einer solchen historisch spezifischen Unmöglichkeit des Realismus zuwenden: Zunächst werde ich einen Text Elias Canettis diskutieren, der eine erste Option der Antwort skizziert, indem er zeigt, dass angesichts einer konkreten geschichtlichen Situation notwendig erscheint, die realistische Kunst mit ihren eigenen Mitteln zu einem Ende zu bringen. In einem zweiten Schritt werde ich nachzeichnen, wie diese geschichtliche Unmöglichkeit von Fredric Jameson gerade zum Einsatzpunkt einer realistischen Kunst à venir erklärt wird, die er als Kunst des cognitive mappings fasst und die es erlauben soll, eine diffus gewordene Wirklichkeit erneut kognitiv bemessen zu können. In einem letzten Schritt werde ich ausgehend von der erklärt anti-realistischen Philosophie Alain Badious deutlich machen, wie es Badiou unternimmt, problematische Konsequenzen der Jameson'schen und Canetti'schen Antwort zu vermeiden. Ich werde zu zeigen versuchen, dass man Badious Bestimmung zeitgenössischer Kunst als Bestimmung eines Realismus ohne Realismus lesen kann, der ein affirmatives künstlerisches Projekt beschreibt. 1. Die Verdopplung der Unmöglichkeit. Canetti und der Realismus der Extreme 7 Beckett 1969, S. 542. 8 Diese Form der Frage lässt es plausibel werden, warum es als ›abgründig‹ erscheinen mag, vom Realismus als Programm zu sprechen. Programmatisch lässt sie sich gerade nicht beantworten. Vgl. Plumpe 1989, S. 3. 3 1965 schreibt Elias Canetti einen bisher eher wenig beachteten Artikel mit dem Titel »Realismus und neue Wirklichkeit«. In diesem formuliert er zu Beginn eine Frage, die wichtige Anhaltspunkte für sein Verhältnis zum künstlerischen Projekt des Realismus gibt: »Gesetzt den Fall, wir vermöchten heute mit Überzeugung zuzugeben, dass die wenig wahrhaft Bedeutenden unter den Realisten ihr Ziel erreicht haben; dass es ihnen gelungen ist, ihre volle Wirklichkeit für den Roman zu gewinnen, […] -was würde das für uns bedeuten? Könnten die unter uns, denen es ums selbe Ziel aber als Menschen unserer Zeit zu tun ist, die sich als moderne Realisten betrachten, sich derselben Methoden bedienen?« 9 Diese Fragen betreffen in grundsätzlicher Weise die Möglichkeiten realistischer Kunst unter zeitgenössischen Bedingungen und haben auch im 21. Jahrhundert nicht an Gültigkeit verloren. Auch heute kann gefragt werden: Was kann es für uns heute bedeuten, dass es realistische Kunst gab? Wie kann sie fortgeführt werden? Dass diese Fragen drängend werden, hängt bei Canetti mit einer weiteren Diagnose zusammen, die den Charakter und die Bestimmung derjenigen Wirklichkeit betrifft, auf die sich der Realist gerade heute zu richten habe. Dieses Heute ist für Canetti nicht mehr das der frühen Realisten, sondern eines einer in vielfacher Hinsicht veränderten Wirklichkeit: Sie hat zugenommen, quantitativ wie qualitativ; sie ist genauer geworden, und sie impliziert ein anderes Verhältnis zur Zukunft. 10 In ihr wird Altes entdeckt, Neues erfunden, Anderes gefunden; wissenschaftliche Erkenntnis, die sie bestimmt, wird immer exakter und alles Ungefähre, Unbestimmte verringert sich; die Zukunft ist »aktiv gewünscht und aktiv gefürchtet«, 11 da sie sowohl das Versprechen technischer und politischer Vernichtung beinhaltet als auch die mögliche Realisierung jeglicher denkbarer Utopie. Die gegenwärtige Wirklichkeit hat sich für Canetti in einem Maße verändert, dass »schon eine erste Ahnung davon uns mit einer Ratlosigkeit ohnegleichen erfüllt.« 12 Die individuelle und allgemeine Ratlosigkeit, mit der die Wirklichkeit einen erfüllt, lässt zugleich die Fortsetzung des realistischen Anspruchs in der Kunst, zumindest mit den bislang bekannten und bewährten Methoden, für Canetti unmöglich erscheinen. Die Wirklichkeit konfrontiert den Künstler mit Ratlosigkeit, mit einem Mangel an Orientierung, wie das 9 Canetti 1983a, S. 66. 10 Canetti spricht wörtlich von »zunehmende(r) Wirklichkeit«, »genauere(r) Wirklichkeit« und von einer »Wirklichkeit des Kommenden«. Vgl. ebd. Vor allem der letzte Aspekt ist für Canetti fundamental, da wir durch ihn »in einer Weltperiode leben, die mit der unserer Großväter das Wichtigste nicht mehr gemein hat: Sie hat keine unzerspaltene Zukunft.« Vgl., ebd., S. 70. In die gleiche Richtung weist auch seine Notiz: »Zu Balzacs Zeiten sind Wissenschaften noch wie ein Feuer und brennen alles rein. Zu unseren sind sie quälender Zweifel.« Vgl. Canetti 1999a, S. 60. 11 Canetti 1983a, S. 70. 12 Ebd., S. 66. 4 realistische Projekt fortzusetzen sei. Nur eines scheint klar: Die Mittel, die alle bisherigen Realisten zu Realisten machten, sind erschöpft. Der Realismus ›vor‹ dieser fundamentalen Transformation der Wirklichkeit ist ein grundsätzlich anderer als der Realismus ›nach‹ ihrer Veränderung. Doch kann es realistische Kunst ›nach‹ der Veränderung des Wesens der Wirklichkeit überhaupt geben? Diese Frage ist genau die Frage Canettis. Entweder Realismus ist als solcher unmöglich geworden, da die Wirklichkeit keine realistische Kunst mehr zulässt, oder aber die Mittel realistischer Kunst müssen radikal geändert werden. Wie Mark Potocnik in einem bemerkenswerten Essay gezeigt hat, insistiert Canetti zwar einerseits darauf, dass realistische Kunst unmöglich scheint, da ihre Mittel überkommen sind, andererseits aber invalidiert diese Diagnose für ihn keineswegs den Imperativ, weiterhin realistisch sein zu müssen. Man muss künstlerisch das Unmögliche vollbringen. Denn gerade jetzt gilt für Canetti: »one has to be more realist than ever.« 13 Realismus wird zur künstlerischen Aufgabe. Er wird zur Aufgabe des Künstlers, gerade um gegen das Aufgeben des Realismus anzugehen. Der Imperativ, realistisch zu sein und zu bleiben, gilt trotz der Ratlosigkeit und Desorientierung, die einen angesichts der Wirklichkeit überfällt. Deswegen aber bleibt für Canetti nur eine Möglichkeit: Man muss das realistische Projekt in seiner Form ändern, man muss es erneuern und neu erfinden. »Canetti thus remains faithful to the overall project of the realistic writers of the nineteenth century, but precisely not by repeating their methods; the realistic novelist has to be faithful by adding something new to it.« 14 Wie aber sieht diese Neuerfindung des Realismus aus, die die einzig »unmögliche Möglichkeit« 15 zu sein scheint, diesem unter gegebenen Bedingungen die Treue zu halten? Wie diese neue Wirklichkeit »für den Roman […] gewinnen«? 16 Es bedarf dafür wirklich-wissenschaftliche[m] Charakter« gibt, die der »dialektische...