AGATHA CHRISTIE
Und dann gabs
keines mehr
Roman
Aus dem Englischen
von Sabine Deitmer
Hachette Collections
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
AND THEN THERE WERE NONE
© 1939 Agatha Christie Limited,
a Chorion Company.
All rights reserved.
Und dann gabs keines mehr
Erste Auflage 2003 der Ausgabe unter diesem Titel.
Übersetzung von Sabine Deitmer.
Früher bei Scherz erschienen unter dem Titel
Zehn kleine Negerlein
Copyright © 2008 Hachette Collections
für die vorliegende Ausgabe.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen,
fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und
auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Satz und Gestaltung: Redaktionsbüro Franke & Buhk, Hamburg
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Für Carlo und Mary,
dies ist ihr Buch.
Ihnen mit viel Zuneigung gewidmet.
Anmerkung des Verlags
Leider ließen sich im Text dieses Buches Bezeich-
nungen wie «Nigger Island» und «Zehn kleine Neger-
lein» nicht vermeiden, da Agatha Christie den ganzen
Roman auf dem Kinderreim von Frank Green aus
dem Jahr 1869 aufgebaut hat und durch die auch in
Wirklichkeit existierende Insel Nigger Island vor der
Küste von Devon inspiriert wurde. Diese Bezeich-
nungen zu ändern würde bedeuten, das Buch völlig
unverständlich zu machen. Wir bitten daher um Ver-
ständnis für Bezeichnungen, die heute diskriminie-
rend wirken, was weder von der Autorin noch vom
Verlag beabsichtigt war.
Erstes Kapitel
I n der Ecke des Raucherabteils erster Klasse saß
Richter Wargrave, frisch pensioniert, paffte eine
Zigarre und überflog mit aufmerksamem Auge
die politischen Nachrichten in der Times.
Er ließ die Zeitung sinken und sah aus dem Fens-
ter. Sie fuhren jetzt durch Somerset. Er blickte auf
seine Uhr – noch zwei Stunden Fahrt.
Im Kopf ging er noch einmal alles durch, was in
den Zeitungen über Nigger Island gestanden hatte.
Zunächst war die Insel von einem amerikanischen
Millionär gekauft worden, der verrückt auf Segeln
war, und es wurde über das luxuriöse, moderne An-
wesen berichtet, das er auf die kleine Insel vor der
Küste Devons gebaut hatte. Der unglückliche Um-
stand, dass die neue, dritte Frau des Millionärs eine
schlechte Seglerin war, hatte dazu geführt, dass das
Haus und die Insel in der Folge erneut zum Kauf
angeboten wurden. Mehrere verlockende Anzeigen
erschienen in den Zeitungen. Dann folgte die erste
nüchterne Mitteilung, die Insel sei gekauft worden –
von einem Mr. Owen. Danach hatten die Gerüchte
der Klatschjournalisten angefangen. In Wirklichkeit
sei die Insel von Gabrielle Turl, dem Hollywoodstar,
gekauft worden! Sie wolle dort einige Monate fern
von allem Publicityrummel verbringen! Busy Bee
hatte diskret angedeutet, vielleicht solle die Insel eine
Zuflucht für königliche Hoheiten werden. Mr. Mer-
ryweather behauptete, ihm sei zugeflüstert worden,
die Insel wäre gekauft worden, um dort Flitterwo-
chen zu machen – der junge Lord L. habe sich end-
lich Amor ergeben! Jonas kannte die wahren Fakten:
Die Insel sei vom Marineministerium gekauft wor-
den, um dort hochgeheime Experimente durchzu-
führen!
Die Insel sorgte zweifellos für Schlagzeilen!
Richter Wargrave zog einen Brief aus seiner Ta-
sche. Die Handschrift war nahezu unleserlich, aber
hier und da stachen einzelne Worte unerwartet klar
hervor. «Mein lieber Lawrence… Jahre, seit ich von
Ihnen gehört habe… Sie müssen auf die Insel kom-
men… ein zauberhafter Ort… über so viel zu re-
den… alte Zeiten… Begegnung mit der Natur…
Sonnenbaden… 12.40 von Paddington… treffe Sie
in Oakbridge», und die Briefschreiberin hatte
schwungvoll unterschrieben mit einem «Stets Ihre
Constance Culmington».
Richter Wargrave ging in seiner Erinnerung zurück
und fragte sich, wann genau er Lady Constance Cul-
mington das letzte Mal gesehen hatte. Das musste
sieben – nein, acht Jahre her sein. Sie war damals
nach Italien gefahren, um in der Sonne zu baden und
eins zu werden mit der Natur und den contadini.
Danach war sie nach Syrien weitergezogen, wie er
gehört hatte, wo sie plante, in einer noch heißeren
Sonne zu baden und im Einklang mit der Natur und
den Beduinen zu leben.
Constance Culmington, entschied er für sich, war
genau die Art von Frau, die eine Insel kaufen und
sich mit einem Geheimnis umgeben würde. Zufrie-
den mit seiner Logik, nickte Richter Wargrave zu-
stimmend mit dem Kopf. Er gestattete sich zu ni-
cken, einzunicken…
Er schlief…
II
Vera Claythorne saß in einem Abteil dritter Klasse
mit fünf anderen Reisenden. Sie lehnte ihren Kopf
zurück und schloss die Augen. Wie heiß es heute im
Zug war! Es würde angenehm sein, ans Meer zu
kommen! Diese Arbeit war wirklich ein Glücksfall.
Wenn man eine Ferienarbeit suchte, bedeutete das
fast immer, auf einen Schwarm Kinder aufzupassen –
Arbeit als Sekretärin war sehr viel schwieriger zu fin-
den. Nicht einmal die Agentur hatte ihr viel Hoff-
nung gemacht. Und dann war der Brief gekommen.
Ihr Name wurde mir von der «Agentur für weibli-
che Spitzenkräfte» genannt, und Sie wurden mir
empfohlen. Ich gehe davon aus, dass Sie dort per-
sönlich bekannt sind, und bin bereit, das von Ihnen
geforderte Gehalt zu zahlen. Ich würde Sie bitten,
am 8. August Ihren Dienst anzutreten. Der Zug
fährt um 12.40 ab Paddington, und man wird Sie
am Bahnhof Oakbridge erwarten. Beiliegend finden
Sie fünf Pfundnoten für Ihre Auslagen.
Mit freundlichem Gruß
Una Nancy Owen
Oben auf der Seite war die Adresse gedruckt. Nigger
Island, Sticklehaven, Devon…
Nigger Island! Die Zeitungen hatten in der letzten
Zeit von nichts anderem berichtet. Alle möglichen
Vermutungen und interessanten Gerüchte. Die meis-
ten waren mit Sicherheit nicht wahr. Fest stand je-
doch, dass das Haus von einem Millionär erbaut
worden war, und es hieß, es sei das Nonplusultra in
Sachen Luxus.
«Sportlehrerin an einer drittklassigen Schule ist
wirklich nicht das Wahre», dachte Vera Claythorne,
erschöpft von den letzten Schulwochen. «Wenn ich
doch nur eine Stelle an einer anständigen Schule
kriegen könnte.»
Aber dann spürte sie, wie ihr kalt ums Herz wurde,
und sie dachte: «Ich kann von Glück sagen, dass ich
wenigstens diese Stelle habe. Die Leute mögen keine
gerichtlichen Untersuchungen, auch wenn der Rich-
ter mich von jeder Schuld freigesprochen hat.»
Er hatte sie sogar für ihre Geistesgegenwart und ih-
ren Mut gelobt, erinnerte sie sich. Die Verhandlung
hätte nicht besser laufen können. Und Mrs. Hamil-
ton war ihr gegenüber die Freundlichkeit selbst ge-
wesen – nur Hugo – aber sie wollte nicht an Hugo
denken.
Plötzlich fröstelte sie, trotz der Hitze im Abteil,
und sie wünschte, sie würde nicht ans Meer fahren.
Ein Bild stieg klar vor ihr auf. Cyrils Kopf, der auf-
und abtauchte, als er auf den Felsen zuschwamm, auf
und ab, auf und ab… Und sie selbst, wie sie ihm mit
lockeren, geübten Zügen hinterherschwamm – sich
ihren Weg durch das Wasser bahnte und doch wuss-
te, viel zu gut wusste, dass sie nicht rechtzeitig an-
kommen würde…
Das Meer – sein tiefes warmes Blau – die Vormit-
tage, ausgestreckt auf dem Sand – Hugo – Hugo, der
gesagt hatte, dass er sie liebte…
Sie durfte nicht an Hugo denken…
Sie öffnete die Augen und musterte den Mann, der
ihr gegenübersaß. Ein großer Mann mit gebräuntem
Gesicht, hellen, nah beieinander stehenden Augen
und einem arroganten, fast grausamen Mund.
«Ich wette, er ist weit herumgekommen in der Welt
und hat schon viel gesehen», dachte sie bei sich.
III
Philip Lombard schätzte die junge Frau ihm gegenü-
ber in Sekundenschnelle mit einem Blick aus wachen
Augen ein.
«Ganz attraktiv», dachte er. «Vielleicht ein bisschen
lehrerinnenhaft.»
Eine Frau mit guten Nerven, vermutete er – eine,
mit der zu rechnen war – in der Liebe wie im Krieg.
Er würde es gern einmal mit ihr aufnehmen…
Er runzelte die Stirn. Nein, schlag dir das aus dem
Kopf. Das hier ist Geschäft. Er musste seinen Kopf
für die Arbeit frei haben.
Worum genau ging es hier eigentlich, fragte er sich.
Der kleine Mann hatte verdammt geheimnisvoll ge-
tan.
«Greifen Sie zu, oder lassen Sie es, Captain Lom-
bard.»
Er hatte nachdenklich gefragt:
«Hundert Guineas, ja?»
Er hatte das ganz lässig gesagt, als ob ihm hundert
Guineas egal wären. Hundert Guineas, wo er nicht
wusste, wovon er die nächste Mahlzeit bezahlen soll-
te! Er hatte vermutet; dass er dem kleinen Mann
trotzdem nichts vormachen konnte.
«Und Sie können mir keine weiteren Informationen
geben?», hatte er in dem gleichen lässigen Ton ge-
fragt.
Mr. Morris hatte entschieden seinen kleinen, kahlen
Kopf geschüttelt.
«Nein, Captain Lombard, das sind die Konditionen.
Mein Klient hat gehört, dass Sie den Ruf haben, ein
guter Mann für schwierige Jobs zu sein. Ich bin be-
vollmächtigt, Ihnen hundert Guineas auszuzahlen.
Als Gegenleistung werden Sie nach Sticklehaven in
Devon reisen. Die nächste Bahnstation ist Oakbrid-
ge, dort wird man Sie erwarten und nach Stickleha-
ven fahren, wo ein Motorboot Sie weiter nach Nigger
Island bringen wird. Dort halten Sie sich für meinen
Klienten zur Verfügung.»
«Für wie lange?», hatte Lombard sofort gefragt.
«Nicht länger als eine Woche, höchstens.»
Captain Lombard befingerte seinen schmalen
Oberlippenbart.
«Sie verstehen, dass ich nichts Ungesetzliches tun
kann.»
Während er sprach, warf er einen scharfen Blick
auf sein Gegenüber. Ein schwaches Lächeln umspiel-
te Mr. Morris’ Lippen, als er mit Nachdruck antwor-
tete:
«Sollte von Ihnen irgendetwas Ungesetzliches ver-
langt werden, so haben Sie selbstverständlich jeder-
zeit die Freiheit, sich zurückzuziehen.»
Dieser verdammte kleine Wicht hatte dazu gelä-
chelt. Ganz so, als wüsste er sehr gut, dass bei Lom-
bards früheren Aktionen die Einhaltung von Recht
und Gesetz nicht immer eine conditio sine qua non
gewesen war…
Lombards Lippen weiteten sich zu einem Grinsen.
Himmel auch, ein- oder zweimal war er verdammt
hart am Wind gesegelt. Aber er war damit immer
noch durchgekommen. Es gab nicht viel, vor dem er
zurückschreckte.
Nein, es gab nicht viel, vor dem er zurückschrecken
würde. Er würde sich auf dieser Insel gut amüsieren,
davon war er überzeugt.
IV
In einem Nichtraucherabteil saß Miss Emily Brent,
sehr aufrecht, wie es ihre Art war. Sie war fünfund-
sechzig und billigte nicht, dass man sich gehen ließ.
Ihr Vater, ein Oberst der alten Schule, hatte Wert auf
Haltung gelegt.
Die heutige Generation war schamlos lax – in ih-
rem Verhalten, und überhaupt…
Eingehüllt in eine Aura von Rechtschaffenheit und
eisernen Prinzipien saß Miss Brent in ihrem überfüll-
ten Dritter-Klasse-Abteil und triumphierte über den
mangelnden Komfort und die Hitze. Heutzutage
stellte sich jeder so schrecklich an. Die Leute verlang-
ten Spritzen, bevor sie sich die Zähne ziehen ließen;
sie nahmen Tabletten, wenn sie nicht schlafen konn-
ten; und sie wollten bequeme Sessel und Kissen –
und die Mädchen fanden nichts dabei, ihren Körper
zur Schau zu stellen und im Sommer halb nackt am
Strand herumzuliegen.
Miss Brent presste die Lippen zusammen. Sie wür-
de manchen Leuten zu gern einmal zeigen, wo’s
langging.
Sie dachte an die Sommerferien im vergangenen
Jahr. Dieses Jahr würde es völlig anders sein. Nigger
Island.
In Gedanken las sie den Brief, den sie so oft gele-
sen hatte, noch einmal.
Liebe Miss Brent,
Sie erinnern sich hoffentlich noch an mich? Wir
waren vor ein paar Jahren im August zusammen im
Belhaven Guest House, und wir haben uns so gut
verstanden.
Ich eröffne eine eigene Pension auf einer Insel vor
der Küste von Devon. Ich glaube, es gibt einen Be-
darf für einen Ort, wo man einfach und gut essen
kann und nette, gepflegte Menschen trifft. Ohne
Nackte und nächtelanges Grammophongedudel.
Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie es möglich
machen könnten, Ihre Sommerferien auf Nigger Is-
land zu verbringen – völlig gratis – als mein Gast.
Würde der frühe August Ihnen passen? Vielleicht
der achte?
Mit freundlichem Gruß
U.N.O.
Wie war der Name? Die Unterschrift war ziemlich
schwer zu lesen. «So viele Leute unterschreiben völlig
unleserlich», dachte Emily Brent gereizt.
Sie ließ die Gäste aus Belhaven in ihrem Kopf noch
einmal Revue passieren. Zwei Sommer hintereinan-
der hatte sie dort verbracht. Da war diese nette Da-
me mittleren Alters – Miss – Miss – wie hieß sie
denn bloß? Ihr Vater war ein Kirchenmann gewesen.
Und dann hatte es dort noch eine Mrs. Olten gege-
ben. Olten – Ormen – nein, jetzt hatte sie es. Oliver.
Ja – Oliver.
Nigger Island! Irgendetwas über diese Insel hatte
doch in der Zeitung gestanden – etwas über einen
Filmstar – oder einen amerikanischen Millionär?
Natürlich wurden solche Objekte manchmal sehr
billig verkauft – Inseln waren nicht für jedermann.
Die Leute fanden die Vorstellung romantisch, aber
wenn sie selbst dort lebten, lernten sie die Nachteile
kennen und verkauften nur zu gerne wieder.
«Ich werde jedenfalls gratis Ferien bekommen»,
dachte Miss Brent.
Da ihr Einkommen zurückgegangen war und so
viele Dividenden nicht ausbezahlt wurden, war das in
der Tat ein Angebot, das Beachtung verdiente. Wenn
sie sich nur ein bisschen besser an diese Mrs. – oder
war es Miss? – Oliver erinnern könnte!
General MacArthur sah aus seinem Abteilfenster.
Der Zug fuhr gerade in Exeter ein, wo er umsteigen
musste. Diese verfluchten Bummelzüge. Dabei war
diese Insel nur einen Katzensprung entfernt.
Er hatte keine Ahnung, wer dieser Owen war, ein
Freund von Spoof Leggard wahrscheinlich – und
von Johnnie Dyer.
«Ein paar von unseren alten Kumpeln werden
kommen – wollen über alte Zeiten plauschen.»
Nun, ein Plausch über alte Zeiten würde ihm Spaß
machen. In der letzten Zeit hatte er den Eindruck,
dass die alten Kumpel ihm eher aus dem Weg gingen.
Alles wegen dieser verdammten Gerüchte. Himmel
auch, das war ziemlich hart – fast dreißig Jahre war
das jetzt her. Armitage hatte vermutlich geredet. Die-
ser junge Spund. Was wusste der denn schon darü-
ber? Schluss damit, es brachte nichts, noch weiter-
zugrübeln. Manchmal bildete man sich Sachen ein –
bildete sich ein, dass ein Kumpel einen schief ansah.
Er war auf jeden Fall gespannt auf die Insel. Was
man da so alles hörte, jede Menge Klatschgeschich-
ten. Sah ganz so aus, als wär was dran an dem Ge-
rücht, dass die Flotte oder das Kriegsministerium
oder die Luftwaffe sie sich unter den Nagel gerissen
hatte…
Der junge Eimer Robson, der amerikanische Mil-
lionär, hatte das Haus gebaut. Tausende da hinein-
gesteckt, wie man hörte. Jeder nur vorstellbare Lu-
xus…
Exeter! Und eine Stunde Aufenthalt! Er wollte aber
nicht warten. Er wollte vorwärts kommen…
VI
Dr. Armstrong steuerte seinen Morris durch die
Ebene von Salisbury. Er war sehr müde. Der Erfolg
forderte seinen Tribut. Es hatte eine Zeit gegeben,
wo er in seinem Sprechzimmer in der Harley Street
gesessen hatte, korrekt angezogen, umgeben von den
modernsten Geräten und den luxuriösesten Möbeln,
und gewartet hatte – lange leere Tage gewartet, ob er
mit seiner Praxis Erfolg haben oder scheitern wür-
de…
Nun, die Praxis lief. Er hatte Glück gehabt. Glück
und Können natürlich. Er war gut in seinem Beruf –
aber das war nicht genug, um Erfolg zu haben. Man
brauchte auch Glück dazu. Und das hatte er gehabt!
Eine treffende Diagnose, ein paar dankbare Patien-
tinnen – Frauen mit Geld und Ansehen – und es hat-
te sich herumgesprochen. «Du solltest mal zu
Armstrong gehen – ein ganz junger Mann – aber so
tüchtig – Pam ist jahrelang zu allen möglichen Ärzten
gerannt, und er hat mit einem Blick gesehen, woran
es lag!» Der Ball war ins Rollen gekommen.
Und jetzt hatte es Dr. Armstrong tatsächlich ge-
schafft. Seine Tage waren ausgefüllt. Er hatte kaum
Freizeit. Und deshalb war er an diesem Augustmor-
gen froh, London zu verlassen und für ein paar Tage
auf eine Insel vor der Küste Devons zu fahren.
Nicht, dass es für ihn reine Ferien sein würden. Der
Brief, den er erhalten hatte, ließ vieles offen, aber der
beiliegende Scheck ließ ganz und gar nichts offen.
Ein unglaubliches Honorar. Diese Owens mussten
Geld wie Heu haben. Irgendeine Kleinigkeit, wie es
aussah, ein Ehemann, der sich um die Gesundheit
seiner Frau sorgte und darüber einen Bericht wollte,
ohne dass sie sich Sorgen machte. Sie lehnte es ab,
einen Arzt aufzusuchen. Ihre Nerven Nerven! Er zog
die Brauen hoch. Die Frauen und ihre Nerven! We-
nigstens war das gut fürs Geschäft. Die Hälfte der
Frauen, die ihn aufsuchten, hatten gar nichts, außer
Langeweile, aber sie wären ihm nicht gerade dankbar
gewesen, wenn er ihnen das gesagt hätte. Und etwas
ließ sich immer finden.
«Eine leicht ungewöhnliche Veränderung des (ir-
gendein langes Wort), nichts Ernsthaftes – aber man
sollte es in Ordnung bringen. Eine einfache Behand-
lung.»
Nun ja, genau genommen war Medizin vor allem
eine Sache des Glaubens. Und er hatte eine gute Art
– er konnte Hoffnung und Glauben geben.
Was für ein Glück, dass er sich rechtzeitig nach
diesem Vorfall vor zehn – nein, fünfzehn – Jahren
wieder zusammengerissen hatte. Das hätte ins Auge
gehen können! Er war völlig heruntergekommen,
damals. Der Schock hatte ihn wieder aufgerüttelt. Er
hatte ganz mit dem Trinken aufgehört. Bei Gott, das
war verdammt knapp gewesen.
Mit ohrenbetäubendem Hupen brauste ein riesiger
Dalmain-Sportwagen mit achtzig Meilen pro Stunde
an ihm vorbei. Beinah wäre Dr. Armstrong in der
Hecke gelandet. Einer von diesen jungen Idioten, die
über Land rasten. Er hasste sie alle. Das war gerade
noch einmal gut gegangen. Verdammter junger Hitz-
kopf!
VII
Tony Marston bretterte nach Mere hinunter und
dachte: «Grässlich, wie viele Autos über die Straßen
kriechen. Immer blockiert einem irgendwer den Weg.
Und natürlich fahren sie mitten auf der Straße! In
England Auto zu fahren ist sowieso ziemlich hoff-
nungslos… nicht wie in Frankreich, wo man es wirk-
lich voll ausreizen kann…»
Sollte er hier für einen Drink anhalten oder weiter-
fahren? Er hatte noch massenhaft Zeit. Nur noch
hundert Meilen, wenig mehr. Er würde sich einen
Gin und ein Gingerale genehmigen. Was für ein glü-
hend heißer Tag!
Diese Inselnummer könnte Spaß machen – wenn
das Wetter so blieb. Wer waren diese Owens eigent-
lich, fragte er sich. Stinkreich wahrscheinlich. Biber
hatte einen guten Riecher für solche Leute. Musste er
natürlich auch, der arme Kerl, ohne eigenes Geld…
Hoffentlich gab es da genug zu trinken. Man wuss-
te nie, bei diesen Typen, die nicht mit Geld geboren
waren, sondern es selbst machten. Schade, dass die
Story, Gabrielle Turl hätte die Insel gekauft, nicht
stimmte. Leute vom Film hätte er zu gern mal näher
kennen gelernt.
Egal, ein paar Mädels würde es dort schon geben…
Als er das Hotel verließ, streckte er sich, gähnte,
guckte in den blauen Himmel und kletterte in den
Sportwagen.
Ein paar junge Frauen sahen ihn bewundernd an –
seinen gut gebauten Körper von mehr als einem Me-
ter achtzig, sein krauses Haar, seinen gebräunten
Teint und seine unglaublich blauen Augen.
Er ließ die Kupplung kommen, der Motor heulte
auf. Er schoss die enge Straße hinauf. Alte Männer
und junge Kerle retteten sich mit einem Sprung zur
Seite. Die Jungen blickten dem Wagen sehnsüchtig
hinterher.
Anthony Marston setzte seine triumphale Fahrt
fort.
VIII
Mr. Blore saß in einem Bummelzug aus Plymouth. In
seinem Abteil war nur noch eine andere Person, ein
älterer Seebär mit einem triefenden Auge. Jetzt war
er eingenickt und in Schlaf versunken.
Mr. Blore schrieb sorgfältig in ein kleines Notiz-
buch.
«Das sind jetzt alle», murmelte er vor sich hin.
«Emily Brent, Vera Claythorne, Dr. Armstrong,
Anthony Marston, der alte Richter Wargrave, Philip
Lombard, General MacArthur (mit mehreren hohen
Orden ausgezeichnet) – und der Butler und seine
Frau: Mr. und Mrs. Rogers.»
Er klappte das Notizbuch zu und steckte es in die
Tasche zurück. Er warf einen Blick in die Ecke des
Abteils, auf den schlafenden Mann.
«Einen zu viel getankt», tippte Mr. Blore richtig.
Sorgfältig und gewissenhaft ging er in seinem Kopf
noch einmal alles durch.
«Dürfte nicht allzu schwer sein», sagte er sich.
«Kaum zu vermasseln. Hoffentlich ist in Ordnung,
wie ich aussehe.»
Er stand auf und musterte sich sorgfältig im Spie-
gel. Das Gesicht im Spiegel hatte mit dem Schnurr-
bart einen leicht militärischen Einschlag, es besaß
wenig Ausdruck. Die Augen waren grau und standen
ziemlich nah zusammen.
«Könnte ein Major sein», fand Mr. Blore. «Nein,
das hab ich ganz vergessen. Da ist ja dieser alte Ge-
neral. Der würde mir sofort auf die Schliche kom-
men», vermutete Mr. Blore. «Ich hab’s! Südafrika.
Keiner von diesen Leuten ist je in Südafrika gewesen,
und ich habe gerade diesen Reisebericht gelesen.
Darüber kann ich gut reden.»
Was für ein Glück, dass es in den Kolonien alle
möglichen Typen und Arten von Menschen gab. Als
vermögender Herr aus Südafrika würde er in jeder
Gesellschaft willkommen sein, sagte sich Mr. Blore.
Nigger Island. Er erinnerte sich an die Insel aus
seiner Jugendzeit… Ein ziemlich übel riechender,
von Möwen bevölkerter Felsen – der etwa eine Meile
vor der Küste aus dem Meer ragte. Den Namen hatte
er von seiner Ähnlichkeit mit einem Männerkopf –
einem Kopf mit wulstigen Lippen.
Komische Idee, gerade dort ein Haus zu bauen!
Grauenhaft bei schlechtem Wetter. Aber Millionäre
steckten voller Verrücktheiten! Der alte Mann in der
Ecke wachte auf und sagte: «Beim Meer weiß man
nie nich. Niemals.»
«Stimmt», erwiderte Blore. «Das weiß man nie.»
Der alte Mann rülpste zweimal und klagte: «Braut
sich was zusammen, da draußen.»
«Nicht doch, Käpten. Es ist ein herrlicher Tag.»
«Da braut sich was zusammen», beharrte der Alte
starrsinnig. «Ich kann’s riechen.»
«Vielleicht haben Sie Recht», lenkte Blore ein. Der
Zug hielt an einem Bahnhof, und der alte Mann er-
hob sich schwankend.
«Hier isses. Ich muss raus.» Er fummelte am Tür-
griff herum. Blore half ihm. Der alte Mann stand am
Ausgang. Er hob feierlich die Hand und blinzelte mit
seinem tränenden Auge. «Wachet und betet», rief er.
«Wachet und betet. Der Tag des Gerichts ist nah.» Er
fiel durch die Tür auf den Bahnsteig. Am Boden lie-
gend schaute er zu Blore auf und sagte mit großer
Würde: «Ich spreche zu Ihnen, junger Mann. Der
Tag des Gerichts ist nah.» Blore sank in seinen Sitz
zurück und dachte: «Er ist dem Tag des Jüngsten
Gerichts näher als ich!» Aber in diesem Punkt irrte er
sich…
Zweites Kapitel
V or dem Bahnhof von Oakbridge stand eine
kleine Gruppe von Menschen unschlüssig
herum, hinter ihnen Gepäckträger mit Kof-
fern. Einer von ihnen rief laut: «Jim!»
Der Fahrer eines der Taxis trat vor.
«Sind Sie das für Nigger Island?», fragte er mit wei-
chem Devon-Akzent. Vier Stimmen bejahten – und
beäugten einander kurz darauf misstrauisch.
Der Fahrer wandte sich an Richter Wargrave als
dem ältesten Mitglied der Gruppe:
«Es gibt hier zwei Taxis, Sir. Eins muss noch war-
ten, bis der Regionalexpress aus Exeter eintrifft –
dauert keine fünf Minuten –, ein Gentleman fehlt
noch. Vielleicht würde einer von Ihnen noch mit hier
warten? Das wär für Sie am bequemsten.»
Vera Claythorne war sich ihrer Stellung als Sekretä-
rin bewusst und ergriff das Wort:
«Ich werde warten», sagte sie. «Wenn Sie dann
schon einmal vorausfahren?» Sie musterte die ande-
ren drei, und ihr Blick und ihre Stimme strahlten eine
Entschiedenheit aus, wie man sie erwirbt, wenn man
jahrelang gewohnt ist, Autorität auszuüben. Als
stünde sie auf dem Schulhof und würde die Mädchen
zum Tennisspielen einteilen.
«Danke sehr», sagte Miss Brent steif, nickte mit
dem Kopf und enterte eines der Taxis, dessen Tür
der Fahrer für sie aufhielt.
Richter Wargrave folgte ihr.
Captain Lombard sagte: «Ich warte mit Miss –»
«Claythorne», stellte sich Vera vor.
«Mein Name ist Lombard. Philip Lombard.»
Die Gepäckträger luden die Koffer auf das Dach
des Wagens. Im Taxi bemerkte Richter Wargrave mit
der Vorsicht des Juristen: «Wundervolles Wetter heu-
te.»
«In der Tat», antwortete Miss Brent.
Ein vornehmer älterer Herr, dachte sie. Ganz an-
ders als der Typ Mann, den man sonst in Pensionen
an der See traf. Anscheinend hatte Mrs. oder Miss
Oliver gute Verbindungen…
«Kennen Sie diesen Teil der Welt gut?», fragte
Richter Wargrave.
«Ich bin schon in Cornwall gewesen und in Tor-
quay, aber dies ist mein erster Besuch in Devon.»
«Ich bin auch fremd in diesem Teil der Welt», ge-
stand der Richter.
Das Taxi fuhr los.
«Möchten Sie sich reinsetzen, solange wir warten?»,
fragte der Fahrer des zweiten Taxis.
«Nein, vielen Dank», entgegnete Vera bestimmt.
Captain Lombard lächelte.
«Die sonnige Mauer da drüben sieht attraktiver
aus», meinte er. «Falls Sie nicht lieber in den Bahnhof
gehen wollen?»
«Nein, wirklich nicht. Es ist angenehm, aus dem
stickigen Zug an die Luft zu kommen.»
«Ja, bei dem Wetter ist eine Reise mit dem Zug
ziemlich anstrengend», stimmte er ihr zu.
«Ich hoffe, es hält sich – das Wetter, meine ich»,
fuhr Vera im Plauderton fort. «Unsere englischen
Sommer sind so trügerisch.»
Mit einem gewissen Mangel an Originalität fragte
Lombard: «Kennen Sie diesen Flecken der Welt gut?»
«Nein, ich bin noch nie hier gewesen.» Und darum
bemüht, ihre Rolle von Anfang an klarzustellen, er-
gänzte sie schnell: «Ich habe meine Arbeitgeber noch
nicht einmal gesehen.»
«Ihre Arbeitgeber?»
«Ja, ich bin Mrs. Owens Sekretärin.»
«Jetzt verstehe ich.» Fast unmerklich veränderte
sich sein Benehmen. Es wurde einen Hauch sicherer
– lockerer im Ton. «Ist das nicht ziemlich ungewöhn-
lich?», fragte er.
Vera lachte.
«Nein, ich glaube nicht. Ihre Sekretärin ist plötzlich
erkrankt, und da hat sie ein Telegramm an eine
Agentur geschickt, um Ersatz zu finden – und die
haben mich geschickt.»
«So war das. Und was ist, wenn Ihnen der Posten
nicht gefällt?»
Vera lachte wieder.
«Es ist nur vorübergehend – ein Ferienjob. Ich ha-
be eine feste Anstellung an einer Mädchenschule.
Und jetzt bin ich schrecklich gespannt auf die Insel.
Es hat so viel darüber in den Zeitungen gestanden.
Ist sie wirklich so faszinierend?»
«Ich weiß nicht. Ich habe sie noch nicht gesehen.»
«Wirklich? Ich nehme an, die Owens sind völlig be-
geistert von der Insel. Was für Leute sind das eigent-
lich? Erzählen Sie!»
«Jetzt sitze ich in der Patsche», dachte Lombard.
«Kenne ich sie nun oder kenne ich sie nicht?»
«Da, eine Wespe», rief er schnell. «Sie kriecht Ihren
Arm hoch. Halten Sie ganz still.» Er machte einen
überzeugenden Satz nach vorn. «Hier, jetzt ist sie
weg.»
«Mein Gott. Ich danke Ihnen. Diesen Sommer
schwirren eine Menge Wespen herum.»
«Ich glaube, es ist die Hitze. Auf wen warten wir ei-
gentlich, wissen Sie das?»
«Ich habe nicht die leiseste Ahnung.»
Der laute, lang gezogene Pfiff eines nahenden Zu-
ges erscholl.
«Das wird der Zug sein», sagte Lombard.
Ein hoch gewachsener, militärisch wirkender alter
Mann erschien am Ende des Bahnsteigs. Sein graues
Haar war kurz geschnitten, und er trug einen sorgfäl-
tig getrimmten weißen Schnurrbart.
Sein Gepäckträger, der unter dem Gewicht des fes-
ten Lederkoffers leicht schwankte, zeigte auf Vera
und Lombard.
Energisch ging Vera auf ihn zu.
«Ich bin Mrs. Owens Sekretärin. Das Auto hier
wartet auf uns.» Sie fügte hinzu: «Und das ist Mr.
Lombard.»
Blassblaue Augen, die trotz ihres Alters scharf sa-
hen, maßen Lombard mit einem prüfenden Blick.
Einen Moment lang zeigte sich in ihnen ein Urteil –
klar erkennbar für jeden, der es hätte lesen wollen.
«Gut aussehender Bursche. Aber irgendetwas
stimmt nicht mit ihm…»
Die drei stiegen in das wartende Taxi. Sie fuhren
durch die verschlafenen Straßen des kleinen Oakb-
ridge und blieben noch etwa eine Meile auf der
Hauptstraße nach Plymouth. Dann bogen sie ab in
ein Gewirr winziger Landstraßen, allesamt steil, grün
und schmal.
«Diesen Teil von Devon kenne ich nicht», sagte
General MacArthur. «Ich komme aus Ost-Devon –
direkt an der Grenze zu Dorset.»
«Es ist wirklich hübsch hier», schwärmte Vera. «Die
Hügel und die rote Erde, und alles so grün und üp-
pig.»
«Etwas eng hier…», bemerkte Philip Lombard kri-
tisch. «Ich habe offene Landschaft lieber. Wo man
sehen kann, was auf einen zukommt…»
General MacArthur wandte sich ihm zu:
«Sie haben eine Menge von der Welt gesehen, ver-
mute ich.»
Lombard zuckte die Schultern.
«Ich bin da und dort rumgekommen, Sir.»
Im Stillen dachte er: «Gleich wird er mich fragen,
ob ich alt genug bin, um im Krieg gedient zu haben.
Das fragen die alten Kämpen immer.»
Aber General MacArthur erwähnte den Krieg mit
keinem Wort.
II
Sie fuhren einen steilen Hügel hoch und dann einen
Zickzackpfad hinunter nach Sticklehaven – einer
bloßen Ansammlung von Fischerhäusern mit dem
einen oder anderen Boot am Strand.
Im Licht der untergehenden Sonne hatten sie ihren
ersten Eindruck von der Insel, die sich im Süden aus
dem Meer erhob.
«Das ist ja weit weg», rief Vera überrascht.
Sie hatte sich die Insel anders vorgestellt. Nah an
der Küste, gekrönt von einem schönen weißen Haus.
Aber es war kein Haus zu sehen, nur die kühnen
Umrisse des Felsens, der an einen gigantischen Män-
nerkopf erinnerte. Er sah irgendwie finster aus. Sie
erschauerte leicht.
Vor einem kleinen Pub, den Seven Stars, saßen drei
Menschen. Neben der gebeugten, ältlichen Gestalt
des Richters saß steif und aufrecht Miss Brent. Der
Dritte – ein großer, bulliger Mann – erhob sich und
trat nach vorn.
«Dachte, wir könnten auf Sie warten», sagte er.
«Und einen gemeinsamen Törn draus machen. Er-
lauben Sie mir, mich vorzustellen. Ich heiße Davis.
Aus Natal, Südafrika, ha, ha!»
Er lachte lauthals.
Richter Wargrave musterte ihn mit offener Abnei-
gung. Er sah aus, als wünschte er sich, er könnte
noch befehlen, den Gerichtssaal räumen zu lassen.
Miss Emily Brent war sich nicht sicher, ob sie Leute
aus den Kolonien mochte.
«Möchte jemand noch einen Kleinen heben, ehe
wir losfahren?», fragte Mr. Davis fürsorglich.
Als niemand seinem Vorschlag zustimmte, wandte
er sich um und hob den Finger.
«Dann sollten wir nicht bummeln», mahnte er.
«Unsere guten Gastgeber warten auf uns.»
Er hätte bemerken können, dass sich unter den
Mitgliedern der Gruppe eine eigenartige Stimmung
breit machte. Es war, als ob die Erwähnung ihrer
Gastgeber eine seltsam lähmende Wirkung auf die
Gäste hatte.
Als Davis ihm mit dem Finger winkte, löste sich ein
Mann von der Wand, an der er gelehnt hatte, und
kam zu ihnen. Sein rollender Gang verriet, dass er ein
Mann des Meeres war. Er hatte ein wettergegerbtes
Gesicht und dunkle Augen mit einem leicht abwe-
senden Ausdruck.
«Alles klar zur Überfahrt auf die Insel, Ladys und
Gentlemen?», fragte er mit sanftem Devon-Akzent in
der Stimme. «Das Boot wartet schon. Zwei Gentle-
men kommen mit dem Auto, aber Mr. Owen wollte
nicht, dass wir auf sie warten, die können wer weiß
wann hier eintreffen.»
Die Gesellschaft erhob sich. Ihr Führer geleitete sie
eine kleine Steinmole entlang zu der Stelle, wo ein
Motorboot in den Wellen schaukelte.
«Das ist ein sehr kleines Boot», staunte Emily
Brent.
«Es ist ein hervorragendes Boot, Ma’am», sagte der
Bootsführer mit Überzeugung. «Sie kommen damit
bis Plymouth und wieder zurück, in null Komma
nichts.»
«Wir sind eine Menge Leute», erwiderte Richter
Wargrave scharf.
«Das Schiff kann doppelt so viele aufnehmen.»
«Es ist ganz in Ordnung», sagte Philip Lombard in
angenehm lockerem Ton. «Hervorragendes Wetter –
kein Seegang.»
Miss Brent erlaubte, wenn auch voll Misstrauen,
dass man ihr ins Boot half. Die anderen folgten.
Noch ging niemand auf den anderen zu. Jeder blieb
für sich. Es war, als ob jedes Mitglied der Gruppe
irritiert über die Zusammensetzung der Gesellschaft
war.
Sie wollten gerade ablegen, als ihr Kapitän, den
Bootshaken in der Hand, innehielt.
Den steilen Pfad ins Dorf hinunter kam ein Auto
gefahren. Ein so unglaublich starkes, so unbeschreib-
lich schönes Auto, dass es wie eine Fata Morgana
wirkte. Am Steuer saß ein junger Mann, seine Haare
flatterten im Wind. Im Licht der Abendsonne sah er
nicht wie ein Mensch aus, sondern wie ein junger
Gott, ein Heldengott aus einer nordischen Sage.
Er drückte auf die Hupe, und ein mächtiges Röh-
ren echote von den Felsen der Bucht.
Es war ein fantastischer Augenblick. In diesem Au-
genblick schien es, als wäre Anthony Marston mehr
als nur ein Mensch, als wäre er ein unsterbliches We-
sen.
Später erinnerte sich mehr als einer der Anwesen-
den an diesen Augenblick.
III
Fred Narracott saß neben dem Motor und dachte,
dass dies eine eigenartige Truppe war. Kein bisschen
so, wie er sich Mr. Owens Gäste vorgestellt hatte. Er
hatte Leute mit mehr Klasse erwartet. Frauen in
Golfkleidung und Herren in Segelzeug und alle sehr
reich und vornehm aussehend.
So ganz anders als die Leute bei Eimer Robsons
Partys. Ein leichtes Grinsen legte sich auf seine Lip-
pen, als er sich an die Gäste des Millionärs erinnerte.
Das war vielleicht eine Truppe gewesen – und der
Alkohol, den die vernichtet hatten!
Dieser Mr. Owen war wohl ein Gentleman von
ganz anderem Schlag. Komisch, dachte Fred, dass er
ihn noch nie zu Gesicht bekommen hatte – und sei-
ne Ehefrau auch nicht. Nie hier unten gewesen war
der. Alles bestellt und bezahlt von diesem Mr. Mor-
ris. Anweisungen immer sehr klar und die Bezahlung
pünktlich. Aber es war trotzdem komisch. In den
Zeitungen stand, dass es ein Geheimnis um Mr.
Owen gab. Mr. Narracott war der gleichen Meinung.
Vielleicht war es doch Gabrielle Turl, die die Insel
gekauft hatte. Aber diese Theorie gab er wieder auf,
als er die Passagiere musterte. Die nicht – keiner von
denen sah aus, als hätte er mit Filmstars zu tun.
Er musterte sie ohne Begeisterung.
Eine alte Jungfer – von der sauertöpfischen Sorte –
, die kannte er gut genug. Die war beinhart. Darauf
würde er wetten. Ein alter Kämpe aus längst vergan-
genen Tagen – man sah ihm die Armee an. Eine nett
aussehende junge Frau – auf eine alltägliche Art nett,
nichts Aufregendes – kein Hauch von Hollywood.
Dann der muntere großmäulige Typ – der war mit
Sicherheit kein Gentleman. Ein ehemaliger Vertreter,
genau das ist er, dachte Fred Narracott. Und der an-
dere Gentleman, der schlanke, hungrig aussehende
mit den schnellen Augen, das war ein Seltsamer, mit
Sicherheit. Bei dem konnte man sich vorstellen, dass
er was mit Film zu tun hatte.
Es gab nur einen anständigen Passagier im Boot.
Der Letzte, der im Auto angekommen war (und mit
was für einem Auto! So ein Wagen war bisher noch
nicht in Sticklehaven gesichtet worden. Musste hun-
derte und hunderte von Pfund gekostet haben, so ein
Auto). Der war richtig. Der war mit Geld geboren.
Wenn die Truppe wie er gewesen wäre – das hätte er
verstanden.
Seltsame Sache, wenn man darüber nachdachte –
die ganze Sache war seltsam – sehr seltsam…
IV
Das Boot pflügte sich seinen Weg um den Felsen.
Jetzt endlich kam das Haus in Sicht. Die Südseite der
Insel war völlig anders. Weite Sandbänke bis zum
Wasser. Das Haus blickte nach Süden – niedrig und
viereckig und modern mit Bogenfenstern, die viel
Licht hereinließen.
Ein aufregendes Haus – ein Haus, das die Erwar-
tungen noch übertraf.
Fred Narracott stellte den Motor ab, und sie trie-
ben sacht in einen kleinen natürlichen Meeresarm
zwischen Felsen.
«Muss schwierig sein, hier bei schlechtem Wetter
anzulegen», sagte Philip Lombard scharf.
«Wenn der Südostwind bläst, ist an Nigger Island
kein Rankommen», antwortete Fred Narracott mun-
ter. «Manchmal ist es für eine Woche oder länger
abgeschnitten.»
«Die Verpflegung muss sehr schwierig sein», dachte
Vera Claythorne. «Das ist das Schlimmste an einer
Insel. All die Haushaltsprobleme, um die man sich
Gedanken machen muss.»
Das Boot schrammte gegen die Felsen. Fred Nar-
racott sprang heraus, und er und Lombard halfen
den anderen an Land. Narracott vertäute das Boot an
einem Ring im Felsen. Dann ging er den anderen
voraus die steinernen Stufen hoch, die in den Felsen
gehauen waren.
«Ha! Herrliches Fleckchen!», rief General MacAr-
thur.
Aber er fühlte sich unbehaglich dabei. Verdammt
merkwürdiger Ort.
Als die Gruppe die Stufen hochstieg und oben auf
einer Terrasse herauskam, wurden alle wieder munte-
rer. In der offenen Tür des Hauses erwartete sie ein
korrekt gekleideter Butler, und etwas an seinem
Ernst stimmte sie zuversichtlich. Und dann war das
Haus selbst wirklich äußerst attraktiv, die Aussicht
von der Terrasse atemberaubend…
Der Butler näherte sich ihnen mit einer leichten
Verbeugung. Er war ein großer schlanker Mann,
grauhaarig und sehr Vertrauen erweckend.
«Wenn Sie mir bitte folgen würden.»
In der geräumigen Eingangshalle waren Getränke
bereitgestellt, Reihen von Flaschen. Anthony Mars-
tons Stimmung stieg. Er hatte schon gedacht, er wäre
auf der falschen Party. Niemand, den er kannte. Was
hatte sich der alte Biber nur dabei gedacht, ihn hier-
her zu locken? Na ja, immerhin waren die Drinks in
Ordnung. Und genug Eis gab’s auch.
Was sagte der Butler da gerade?
Mr. Owen – unglücklicherweise verspätet – nicht in
der Lage, vor morgen hier zu erscheinen. Anweisun-
gen – alles, was sie wünschten – wenn sie jetzt ihre
Zimmer sehen wollten – Abendessen würde es um
acht Uhr geben…
V
Vera war Mrs. Rogers nach oben gefolgt. Die Frau
hatte eine Tür am Ende des Gangs aufgestoßen, und
Vera war in ein hübsches Zimmer eingetreten mit
einem großen Fenster, das sich weit zum Meer hin
öffnete, und einem weiteren, das nach Osten zeigte.
Ihr entfuhr ein Laut des Entzückens.
Mrs. Rogers sagte gerade: «Ich hoffe, Sie haben al-
les, was Sie brauchen, Miss.»
Vera schaute sich um. Ihr Gepäck war hinaufgeb-
racht und ausgepackt worden. Eine offene Tür an
der einen Seite des Zimmers gab den Blick auf ein
hellblau gekacheltes Badezimmer frei.
«Ja, danke», antwortete sie schnell. «Es ist alles da,
glaube ich.»
«Klingeln Sie ruhig, wenn Sie etwas brauchen,
Miss.»
Mrs. Rogers sprach mit einer flachen, monotonen
Stimme. Vera sah sie neugierig an. Was für ein wei-
ßes, blutleeres Gespenst von einer Frau! Sehr respek-
tabel aussehend, mit dem straff aus dem Gesicht ge-
kämmten Haar und dem schwarzen Kleid. Und den
merkwürdig hellen Augen, die die ganze Zeit hin und
her wanderten.
«Sie sieht aus, als ob sie sich vor ihrem eigenen
Schatten fürchtet», dachte Vera.
Genau das war es – Furcht!
Sie sah aus wie eine Frau, die von Todesangst er-
griffen war…
Ein Schauder lief Vera den Rücken hinunter. Wo-
vor um alles in der Welt sollte diese Frau sich fürch-
ten?
«Ich bin Mrs. Owens neue Sekretärin», sagte sie
freundlich. «Ich vermute, Sie wissen das.»
«Nein, Miss. Ich weiß gar nichts. Ich habe nur eine
Liste der Ladys und Gentlemen und welche Zimmer
sie haben sollen.»
«Mrs. Owen hat mich nicht erwähnt?», staunte Ve-
ra.
Mrs. Rogers’ Augenlider flatterten.
«Ich habe Mrs. Owen nicht gesehen – noch nicht.
Wir sind erst vor zwei Tagen hierher gekommen.»
Eigenartige Leute, diese Owens, dachte Vera. Laut
sagte sie:
«Wer arbeitet alles hier?»
«Nur ich und Mr. Rogers, Miss.»
Vera runzelte die Stirn. Acht Leute im Haus – zehn
mit dem Gastgeber und der Gastgeberin – und nur
ein Ehepaar, um sie zu versorgen.
«Ich bin eine gute Köchin», sagte Mrs. Rogers.
«Und Rogers kümmert sich ums Haus. Ich wusste
natürlich nicht, dass es eine so große Gesellschaft
sein würde.»
«Sie kommen doch zurecht?», fragte Vera.
«Aber ja, Miss. Ich komm klar damit. Wenn es öfter
so große Gesellschaften gibt, könnte Mrs. Owen viel-
leicht noch jemand zusätzlich einstellen.»
«Ja, das könnte sie wohl», gab Vera ihr Recht.
Mrs. Rogers wandte sich zum Gehen. Ihre Füße
bewegten sich lautlos über den Boden. Sie huschte
wie ein Schatten aus dem Raum.
Vera ging zum Fenster hinüber und setzte sich auf
die Fensterbank. Sie war ein wenig beunruhigt. Alles
war irgendwie seltsam. Die Abwesenheit der Owens,
die bleiche, geisterhafte Mrs. Rogers. Und die Gäste.
Ja, auch die Gäste waren merkwürdig. Eine eigenartig
zusammengewürfelte Gesellschaft.
«Ich wünschte, ich hätte die Owens schon einmal
gesehen», dachte Vera. «Ich wünschte, ich wüsste,
was für Menschen das sind.»
Sie stand auf und lief ruhelos durch das Zimmer.
Ein perfekter Raum, ganz im modernen Stil einge-
richtet. Blendend weiße Läufer auf dem glänzenden
Parkett –, sanft getönte Wände –, ein hoher Spiegel
umrahmt von Leuchten. Ein Kaminsims ohne Zier-
objekte, nur mit einem großen Marmorblock in
Form eines Bären, eine moderne Skulptur, in die eine
Uhr eingelassen war. Darüber hing in einem großen,
glänzenden Chromrahmen ein Stück Pergament – ein
Gedicht.
Sie stellte sich vor den Kamin und las. Es war ein
alter Kinderreim, an den sie sich noch aus ihrer
Kindheit erinnerte.
Zehn kleine Negerlein,
die zechten in der Scheun.
Eins verschluckte sich dabei,
da waren’s nur noch neun.
Neun kleine Negerlein,
die blieben nachts lang wach.
Eins schlief dann fest für immer ein,
da waren’s nur noch acht.
Acht kleine Negerlein,
die reisten mal nach drüben.
Eines blieb für immer dort,
da waren’s nur noch sieben.
Sieben kleine Negerlein,
die holzten wie der Specht.
Eines holzte sich entzwei,
da waren’s nur noch sechs.
Sechs kleine Negerlein,
die liefen ohne Strümpf’.
Eines stach die Biene tot,
da waren’s nur noch fünf.
Fünf kleine Negerlein,
die stritten sich ums Bier.
Eins holte sich der Scharfrichter,
da waren’s nur noch vier.
Vier kleine Negerlein,
die segelten ins Freie.
Ein roter Hering schwamm vorbei,
da waren’s nur noch dreie.
Drei kleine Negerlein,
gingen am Zoo vorbei.
Eins wurde dort vom Bär zerquetscht,
da waren’s nur noch zwei.
Zwei kleine Negerlein,
die zankten wie sonst keiner.
Eins wurde in die Brust geschossen,
da war es nur noch einer.
Ein kleines Negerlein, ganz für sich allein,
das litt und seufzte schwer.
Es ging ins Haus und hängt’ sich auf.
Da gab es keines mehr.
Vera lächelte. Natürlich! Sie waren auf Nigger Island.
Sie ging wieder zum Fenster, setzte sich auf die
Bank und blickte nach draußen.
Wie weit das Meer war. Von hier aus war nirgend-
wo Land zu sehen – nur diese weite Fläche blauen
Wassers, die sich in der Sonne kräuselte.
Das Meer… so friedlich, heute… manchmal so
grausam… Das Meer, das einen in seine Tiefen hi-
nabzog. Ertrunken… ertrunken gefunden… im Meer
ertrunken… ertrunken… ertrunken… ertrunken…
Nein, sie wollte nicht wieder daran denken… sie
wollte nicht daran denken. All das war vorbei…
VI
Dr. Armstrong kam auf die Insel, als die Sonne gera-
de im Meer versank. Auf der Überfahrt hatte er mit
dem Kapitän geplaudert – einem Mann aus der Ge-
gend. Er wollte ein wenig mehr über diese Leute he-
rausfinden, denen die Insel gehörte, aber Narracott,
so hieß der Mann, schien merkwürdig schlecht in-
formiert, oder vielleicht wollte er nicht reden.
Deshalb plauderte Dr. Armstrong nur über das
Wetter und das Fischen.
Er war müde nach der langen Autofahrt. Seine Au-
gen schmerzten. Nach Westen fahren hieß gegen die
Sonne fahren.
Ja, er war sehr müde. Das Meer und diese perfekte
Ruhe waren genau das, was er brauchte. Am liebsten
würde er lange Ferien machen. Aber das konnte er
sich nicht erlauben. Finanziell konnte er es sich na-
türlich erlauben, aber er konnte sich nicht erlauben,
eine Zeit lang auszusteigen. Heutzutage war man
schnell vergessen. Nein, jetzt wo er es geschafft hat-
te, musste er die Mühle weiter in Gang halten.
«Und wenn schon», dachte er. «Heute Abend werde
ich mir vorstellen, nie mehr zurückzugehen – ein für
alle Mal alles hinter mir zu lassen, London und die
Harley Street und alles andere.»
Eine Insel hatte etwas Magisches – das Wort allein
setzte Fantasie frei – eine Insel war ein Kosmos für
sich. Man verlor den Bezug zur Welt – eine Insel war
eine ganz eigene Welt. Eine Welt, aus der man viel-
leicht nie wieder zurückkehrte.
«Ich lasse das normale Leben hinter mir», dachte er.
Lächelnd begann er, Pläne für die Zukunft zu
schmieden, fantastische Pläne. Er lächelte noch, als
er die in den Felsen gehauenen Stufen emporstieg.
In einem Sessel auf der Terrasse saß ein älterer
Herr, und sein Anblick kam Dr. Armstrong irgend-
wie bekannt vor. Wo hatte er dieses Froschgesicht,
diesen Schildkrötenhals, diese gebeugte Haltung – ja,
und diese fahlen, schlauen Augen schon einmal gese-
hen? Natürlich. Der alte Wargrave. Er hatte einmal
vor ihm als Zeuge ausgesagt. Sah immer aus, als
würde er halb schlafen, aber war verdammt gerissen,
wenn es um eine juristische Frage ging. Machte gro-
ßen Eindruck auf die Geschworenen – es hieß, er
könne an jedem Tag der Woche bestimmen, was sie
denken. Er hatte sie zu zwei sensationellen Verurtei-
lungen getrieben. Ein Bluthund, sagten die Leute.
Eigenartig, ihn hier zu treffen… hier – am Ende
der Welt.
VII
Richter Wargrave dachte bei sich: «Armstrong? Ich
erinnere mich an ihn im Zeugenstand. Sehr korrekt
und vorsichtig. Ärzte sind verdammte Idioten. Und
die von der Harley Street sind die schlimmsten.» Und
er erinnerte sich mit Widerwillen an eine Unterhal-
tung, die er vor kurzem in genau dieser Straße mit
einem dieser übertrieben verbindlichen Menschen
geführt hatte.
Laut brummte er: «Drinks gibt’s in der Eingangs-
halle.»
Dr. Armstrong sagte: «Ich muss dem Gastgeber
und der Gastgeberin meine Aufwartung machen.»
Richter Wargrave schloss wieder die Augen und sah
entschieden wie ein Reptil aus, als er antwortete:
«Das können Sie nicht.»
Dr. Armstrong war überrascht.
«Warum nicht?»
«Es gibt weder einen Gastgeber noch eine Gastge-
berin», sagte der Richter. «Höchst seltsamer Stand
der Dinge. Schwer zu durchschauen.»
Dr. Armstrong starrte ihn eine Weile an. Als er
schon dachte, der alte Herr wäre eingeschlafen, fragte
Richter Wargrave plötzlich: «Kennen Sie Constance
Culmington?»
«Äh, nein – tut mir Leid.»
«Es spielt keine Rolle», erwiderte der Richter. «Eine
wenig präzise Dame und eine praktisch unleserliche
Handschrift. Ich habe mich gerade gefragt, ob ich in
das falsche Haus gekommen bin.»
Dr. Armstrong schüttelte den Kopf und ging ins
Haus.
Richter Wargrave dachte über das Thema Constan-
ce Culmington nach. Unzuverlässig, wie alle Frauen.
Seine Gedanken schweiften zu den beiden Frauen
im Haus, der schmallippigen alten Tante und der
jungen Frau. Sie war nicht sein Typ, eine kaltblütige
Abenteurerin. Nein, drei Frauen, wenn man die Ro-
gers mitzählte. Eigenartige Person, sah aus, als fürch-
te sie sich zu Tode. Ein ehrenwertes Paar, das etwas
von seinem Job verstand.
Genau in diesem Moment trat Rogers auf die Ter-
rasse, und der Richter fragte ihn:
«Wissen Sie, ob Lady Culmington hier erwartet
wird?»
Rogers starrte ihn an.
«Nein, Sir, nicht, dass ich wüsste.»
Die Augenbrauen des Richters fuhren in die Höhe.
Aber er gab nur ein Grunzen von sich.
«Nigger Island?», dachte er. «Da ist noch mehr als
eine Überraschung im Busch.»
VIII
Anthony Marston lag in der Badewanne. Er streckte
sich genüsslich im dampfenden Wasser. Nach der
langen Fahrt waren seine Glieder verkrampft. Weni-
ge Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Anthony
war ein Mann der Sinne – und ein Mann der Tat.
Er dachte bei sich: «Das muss ich jetzt durchzie-
hen», und verbannte alles andere aus seinen Gedan-
ken.
Dampfendes, warmes Wasser – müde Glieder –
jetzt gleich rasieren – ein Cocktail – das Abendessen.
Und danach?
IX
Mr. Blore band seine Krawatte. Er war nicht gut in
solchen Dingen.
Sah er korrekt aus? Er vermutete, ja.
Niemand war besonders freundlich zu ihm gewe-
sen… eigenartig, wie sich alle gegenseitig beobachte-
ten – als ob sie wüssten…
Nun, er hatte es in der Hand.
Er hatte nicht vor, diesen Job zu vermasseln.
Er warf einen Blick auf den gerahmten Kinderreim
über dem Kaminsims.
Lustig, das hier zu finden.
«Ich erinnere mich noch an die Insel, als ich ein
Kind war», dachte er. «Wer hätte gedacht, dass ich je
meine Arbeit hier in einem Haus machen würde?
Vielleicht ist es ja gut, dass man nicht in die Zukunft
blicken kann.»
General MacArthur runzelte die Stirn.
Verdammt, die Sache war faul. So hatte er sich das
nicht vorgestellt…
Am liebsten würde er sich eine Ausrede einfallen
lassen und einfach abhauen…
Aber das Motorboot war zurück zum Festland ge-
fahren.
Er würde bleiben müssen.
Dieser Lombard war ein verdammt seltsamer Bur-
sche. Der war nicht echt. Er könnte schwören, dass
der Mann nicht ganz echt war.
XI
Als der Gong ertönte, trat Philip Lombard aus sei-
nem Zimmer und ging zum Treppenabsatz. Er be-
wegte sich wie ein Panther, geschmeidig und lautlos.
Er hatte überhaupt etwas von einem Panther. Ein
Raubtier – schön anzusehen. Er lächelte in Gedan-
ken.
«Eine Woche – gut.»
Er würde diese Woche genießen.
XII
Emily Brent saß fertig fürs Abendessen, in schwarze
Seide gehüllt, auf ihrem Zimmer und las in ihrer Bi-
bel.
Ihre Lippen bewegten sich, während sie den Wor-
ten folgte: «Die Heiden sind versunken in der Grube,
die sie gegraben, ihr Fuß ist gefangen im Netz, das
sie gestellt hatten. Der Herr hat sich kundgetan und
Gericht gehalten. Der Gottlose ist verstrickt in dem
Werk seiner Hände. Die Gottlosen sollen zu den
Toten fahren, alle Heiden, die Gott vergessen!»
Ihre Lippen pressten sich fest zusammen. Sie
schloss die Bibel.
Sie stand auf, befestigte eine Brosche aus Bergkris-
tall an ihrem Kragen und ging hinunter zum Essen.
Drittes Kapitel
D as Abendessen näherte sich seinem Ende.
Das Essen war gut, der Wein perfekt
gewesen. Rogers bediente tadellos.
Jeder hatte bessere Laune. Sie hatten be-
gonnen, freier und vertrauter miteinander zu reden.
Richter Wargrave, von einem ausgezeichneten Port
milde gestimmt, versprühte bissigen Humor. Dr.
Armstrong und Tony Marston hörten ihm zu. Miss
Brent plauderte mit General MacArthur, sie hatten
ein paar gemeinsame Freunde entdeckt. Vera Clay-
thorne stellte Mr. Davis kluge Fragen über Südafrika.
Und Mr. Davis redete wortgewandt zum Thema.
Lombard verfolgte die Unterhaltung. Ein- oder
zweimal schaute er kurz auf, und seine Augen wur-
den schmal. Hin und wieder schweiften seine Blicke
über die Tafel und studierten die anderen.
Plötzlich sagte Anthony Marston: «Drollig, diese
Dinger, nicht?»
In der Mitte des Tisches standen auf einer runden
Glasscheibe kleine Figuren aus Porzellan.
«Kleine Neger», sagte Tony. «Nigger Island. Des-
halb sind sie wohl hier.»
Vera beugte sich nach vorn.
«Wie viele sind es denn? Zehn? – Wie lustig!», fuhr
sie fort. «Das sind bestimmt die zehn kleinen Neger-
lein aus dem Kinderreim. In meinem Zimmer hängt
das Gedicht eingerahmt über dem Kamin.»
«In meinem Zimmer ebenfalls», sagte Lombard.
«Und in meinem.»
«In meinem auch.»
Jeder stimmte in den Chor ein.
«Das ist wirklich eine amüsante Idee», sagte Vera.
«Nicht wahr?»
Richter Wargrave brummte: «Erstaunlich kindisch»,
und bediente sich mit Port.
Emily Brent schaute zu Vera Claythorne. Vera
Claythorne schaute zu Emily Brent. Die beiden
Frauen erhoben sich.
Im Salon waren die Flügeltüren zur Terrasse geöffnet,
und das Rauschen des Meeres, das gegen die Felsen
schlug, klang bis zu ihnen hoch.
«Ein angenehmes Geräusch», bemerkte Emily
Brent.
«Ich hasse es», erwiderte Vera scharf.
Miss Brents Augen sahen sie überrascht an. Vera
errötete. Etwas ruhiger fuhr sie fort:
«Bei Sturm ist es hier bestimmt nicht sehr ange-
nehm.»
Emily Brent stimmte ihr zu.
«Ich bin sicher, dass das Haus im Winter geschlos-
sen bleibt», sagte sie. «Schon allein, weil man niemals
Personal bekäme, das hier bliebe.»
«Es muss überhaupt schwierig sein, Personal zu
finden», murmelte Vera.
«Mrs. Oliver hatte Glück, diese beiden zu finden»,
stellte Emily Brent fest. «Die Frau ist eine gute Kö-
chin.»
Vera dachte: «Eigenartig, dass ältere Leute immer
die Namen verdrehen.»
Laut sagte sie: «Ja, ich glaube, dass Mrs. Owen
wirklich Glück gehabt hat.»
Emily Brent hatte eine Stickerei aus ihrer Tasche
gezogen. Jetzt, als sie den Faden in die Nadel führte,
hielt sie inne.
«Owen? Haben Sie Owen gesagt?»
«Ja.»
«Mein ganzes Leben lang habe ich noch niemanden
getroffen, der Owen hieß», sagte Emily Brent in
scharfem Ton.
Vera starrte sie an.
«Aber sicherlich…»
Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Die Tür öffne-
te sich, und die Männer stießen zu ihnen. Mit einem
Kaffeetablett folgte Rogers ihnen ins Zimmer.
Der Richter kam und setzte sich neben Emily
Brent. Armstrong gesellte sich zu Vera. Tony Mars-
ton schlenderte zum offenen Fenster. Blore betrach-
tete mit kindlichem Staunen eine Bronzestatue – viel-
leicht fragte er sich, ob deren bizarre Ecken eine
weibliche Figur darstellen sollten. General MacAr-
thur stand mit dem Rücken zum Kamin. Er zupfte
an seinem kleinen weißen Schnurrbart. Es war ein
verdammt gutes Abendessen gewesen. Seine Laune
stieg. Lombard blätterte durch die Seiten des Punch,
der zusammen mit anderen Zeitungen auf einem
Tisch an der Wand lag.
Rogers machte mit seinem Kaffeetablett die Runde.
Der Kaffee war gut – wirklich schwarz und sehr
heiß.
Die ganze Gruppe hatte gut gegessen. Sie waren
mit sich und dem Leben zufrieden. Die Zeiger der
Uhr standen auf zwanzig Minuten nach neun. Es war
still – eine angenehme, entspannte Stille.
In diese Stille hinein ertönte die Stimme. Ohne
Warnung, unmenschlich, durchdringend…
«Ladys und Gentlemen! Ruhe bitte!»
Jeder schreckte hoch… schaute um sich, sah die
anderen an, blickte auf die Wände. Wer sprach da?
Die Stimme fuhr fort – hoch und klar:
«Sie sind der folgenden Verbrechen angeklagt:
Edward George Armstrong, Sie haben am 14. März
1925 den Tod von Louisa Mary Clees verursacht.
Emily Caroline Brent, Sie waren am 5. November
1931 verantwortlich für den Tod von Beatrice Tay-
lor.
William Henry Blore, Sie haben am 10. Oktober
1928 den Tod von James Stephen Landor verursacht.
Vera Elizabeth Claythorne, Sie töteten am 11. Au-
gust 1935 Cyril Ogilvie Hamilton.
Philip Lombard, Sie waren an einem Tag im Feb-
ruar 1932 schuldig am Tod von einundzwanzig Män-
nern, Mitgliedern eines ostafrikanischen Stammes.
John Gordon MacArthur, Sie schickten am 14. Ja-
nuar 1917 absichtlich Arthur Richmond, den Gelieb-
ten Ihrer Frau, in den Tod.
Anthony James Marston, Sie begingen am 14. No-
vember letzten Jahres den Mord an John und Lucy
Combes.
Thomas Rogers und Ethel Rogers, Sie verursachten
am 6.Mai 1929 den Tod von Jennifer Brady.
Lawrence John Wargrave, Sie waren am 10. Juni
1930 schuldig des Mordes an Edward Seton.
Angeklagte vor dem Gericht, haben Sie irgendetwas
zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?»
II
Die Stimme schwieg.
Einen Augenblick lang herrschte bleierne Stille,
dann ertönte ein lautes Krachen! Rogers hatte das
Kaffeetablett fallen gelassen!
Im gleichen Moment hörte man von draußen einen
Schrei und das Geräusch eines dumpfen Aufpralls.
Lombard handelte als Erster. Er sprang zur Tür
und riss sie auf. Draußen lag Mrs. Rogers zusam-
mengebrochen auf dem Boden.
«Marston!», schrie Lombard.
Anthony eilte ihm zu Hilfe. Gemeinsam hoben sie
die Frau vom Boden und trugen sie in den Salon.
Dr. Armstrong kam schnell herüber. Er half ihnen,
sie auf das Sofa zu betten, und beugte sich über sie.
«Es ist nichts», sagte er schnell. «Sie ist ohnmächtig,
das ist alles. Sie wird gleich wieder zu sich kommen.»
«Besorgen Sie einen Brandy», forderte Lombard
Rogers auf.
Rogers murmelte mit kreidebleichem Gesicht und
zitternden Händen: «Jawohl, Sir», und verließ fluch-
tartig den Raum.
«Wer hat da gesprochen?», fragte Vera laut. «Wer
war das? Das klang – klang –»
«Was ist hier eigentlich los?», empörte sich General
MacArthur. «War das ein übler Scherz, oder was?»
Seine Hand zitterte, und seine Schultern sackten
nach unten. Plötzlich sah er zehn Jahre älter aus.
Blore tupfte sich das Gesicht mit einem Taschen-
tuch ab.
Nur Richter Wargrave und Miss Brent wirkten ver-
gleichsweise gefasst. Emily Brent saß aufrecht da,
den Kopf hoch erhoben, auf beiden Wangen brannte
ein hektischer roter Fleck. Der Richter saß in seiner
üblichen Stellung, den Kopf tief zwischen die Schul-
tern gesunken. Mit einer Hand kratzte er sich am
Ohr. Nur seine Augen waren aktiv, schossen immer
wieder hin und her, überrascht und hellwach.
Wieder war es Lombard, der handelte. Armstrong
war mit der zusammengebrochenen Frau beschäftigt,
und Lombard konnte einmal mehr die Initiative er-
greifen.
«Die Stimme?», sagte er. «Es klang, als wäre sie hier
im Raum.»
«Wer war das?», fragte Vera laut. «Wer war das?
Das war doch keiner von uns.»
Wie die Augen des Richters wanderten auch Lom-
bards Augen langsam durch den Raum. Sie ruhten
eine Zeit lang auf dem geöffneten Fenster, dann
schüttelte er entschieden den Kopf. Plötzlich leuch-
teten seine Augen auf. Er bewegte sich flink zur Tür
neben dem Kamin, die zu einem benachbarten Raum
führte.
Mit einer blitzschnellen Bewegung fasste er die
Klinke und riss die Tür auf. Er ging hindurch, und
augenblicklich hörte man ihn befriedigt ausrufen:
«Ah. Da haben wir’s.»
Die anderen folgten ihm. Nur Miss Brent blieb ker-
zengerade auf ihrem Stuhl sitzend zurück.
In dem zweiten Raum war ein Tisch nah an die
Wand zum Salon gestellt worden. Auf dem Tisch
stand ein Grammophon – ein altmodisches Gerät
mit einem langen Trichter. Die Öffnung des Trich-
ters lag auf der Wand, und Lombard, der ihn zur Sei-
te schob, wies auf zwei, drei kleine Löcher, die
unauffällig durch die Wand gebohrt waren.
Er rückte das Grammophon wieder zurecht, legte
die Nadel auf die Schallplatte, und im selben Augen-
blick hörten sie wieder: «Sie sind der folgenden Ver-
brechen angeklagt…»
«Ausschalten!», forderte Vera. «Ausschalten! Das ist
ja fürchterlich.»
Lombard gehorchte.
«Ein übler und grausamer Scherz», sagte Dr.
Armstrong mit einem Seufzer der Erleichterung.
Die klare Stimme von Richter Wargrave fragte: «Sie
denken also, dass es sich um einen Scherz handelt?»
Der Doktor starrte ihn an.
«Was soll das denn sonst sein?»
Die Hand des Richters strich sanft über die Ober-
lippe. «Momentan bin ich noch nicht so weit, eine
Meinung abzugeben.»
«Sie haben eine Sache vergessen», mischte Anthony
Marston sich ein. «Wer zum Teufel hat das Ding an-
gestellt und in Gang gesetzt?»
«Ja, ich denke, diese Sache müssen wir noch unter-
suchen», murmelte Wargrave.
Er ging zurück in den Salon. Die anderen folgten
ihm.
Rogers war gerade mit einem Glas Brandy herein-
gekommen. Miss Brent stand über die stöhnende
Gestalt von Mrs. Rogers gebeugt.
Geschickt zwängte sich Rogers zwischen die beiden
Frauen.
«Erlauben Sie, Madam. Ich werde mit ihr sprechen.
Ethel – Ethel – es ist alles in Ordnung. In Ordnung,
hörst du? Reiß dich zusammen.»
Mrs. Rogers’ Atem kam in kurzen, schnellen Stö-
ßen. Ihre Augen, entsetzte, ängstliche Augen,
schweiften unablässig zwischen den Gesichtern, die
sie umgaben, hin und her. Rogers’ Tonfall war ein-
dringlich.
«Reiß dich zusammen, Ethel.»
Dr. Armstrong sprach beruhigend auf sie ein:
«Mrs. Rogers, jetzt ist es gleich wieder gut. Das war
nur ein kleiner Schwächeanfall.»
«War ich ohnmächtig, Sir?», fragte sie.
«Ja.»
«Es war die Stimme – diese schreckliche Stimme –
wie am Jüngsten Tag –»
Ihr Gesicht wurde wieder grün, ihre Augenlider
flatterten.
«Wo ist der Brandy?», fragte Dr. Armstrong scharf.
Rogers hatte ihn auf einen kleinen Tisch gestellt.
Jemand reichte ihn dem Arzt, und er beugte sich da-
mit über die keuchende Frau.
«Trinken Sie das, Mrs. Rogers.»
Sie trank und keuchte und würgte ein wenig dabei.
Der Alkohol tat ihr gut. Die Farbe kehrte in ihr Ge-
sicht zurück.
«Ich bin jetzt in Ordnung. Es hat – mir einfach ei-
nen Schlag versetzt.»
«Natürlich hat es das», sagte Rogers schnell. «Mir
hat das auch einen Schlag versetzt. Deshalb hab ich
das Tablett fallen gelassen. Böse Lügen waren das.
Ich wüsste zu gern…»
Er wurde unterbrochen. Es war nur ein Husten, ein
trockenes kleines Husten, aber es hatte die Wirkung,
dass es ihn sofort in seinem Redeschwall unterbrach.
Er starrte auf Richter Wargrave, und der hustete
noch einmal. Dann fragte er:
«Wer hat die Schallplatte auf das Grammophon ge-
legt? Waren Sie das, Rogers?»
«Ich wusste nicht, was drauf war, Sir. Bei Gott, ich
wusste das nicht. Wenn ich es gewusst hätte, Sir, hät-
te ich es niemals getan.»
«Das ist vermutlich wahr», bemerkte der Richter
trocken. «Aber ich denke, Sie haben uns etwas zu
erzählen.»
Der Butler wischte sich mit einem Taschentuch
übers Gesicht: «Ich habe nur die Anweisungen be-
folgt, Sir, mehr nicht.»
«Wessen Anweisungen?»
«Mr. Owens Anweisungen.»
«Lassen Sie uns das klarstellen», forderte Richter
Wargrave. «Mr. Owens Anweisungen waren – was
genau?»
«Ich sollte eine Schallplatte auf das Grammophon
legen», erzählte Rogers. «Die Platte lag in der Schub-
lade, und meine Frau sollte das Grammophon anstel-
len, sobald ich mit dem Kaffeetablett in den Salon
gegangen war.»
Der Richter murmelte: «Eine bemerkenswerte Ge-
schichte.»
«Es ist die Wahrheit, Sir», schrie Rogers auf. «Ich
schwöre bei Gott, das ist die Wahrheit. Ich wusste
nicht, was es war – nicht einen Moment lang. Es
stand ein Name drauf – ich dachte, es wäre bloß ein
Musikstück.»
Wargrave sah Lombard an.
«Stand ein Titel darauf?»
Lombard nickte. Er grinste plötzlich und zeigte
seine spitzen weißen Zähne:
«Allerdings, Sir. Der Titel lautet ‹Schwanenge-
sang›…»
III
Plötzlich explodierte General MacArthur:
«Die ganze Sache ist absurd – absurd! Anschuldi-
gungen auf diese Art herumzuschleudern! Wir müs-
sen etwas tun. Dieser Bursche Owen, wer immer das
ist –»
«Das ist es ja», unterbrach ihn Emily Brent. «Wer
ist das überhaupt?»
Der Richter griff ein. Er sprach mit der Autorität,
die ihm ein langes Leben im Gerichtssaal verliehen
hatte:
«Genau das werden wir sehr sorgfältig untersuchen
müssen. Ich würde vorschlagen, dass Sie zuerst ein-
mal Ihre Frau zu Bett bringen, Rogers. Dann kom-
men Sie wieder hierher zurück.»
«Sehr wohl, Sir.»
«Ich helfe Ihnen dabei, Rogers», sagte Dr.
Armstrong.
Auf die beiden Männer gestützt, wankte Mrs. Ro-
gers aus dem Zimmer. Als sie gegangen waren, sagte
Tony Marston:
«Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich könnte
jetzt einen Drink brauchen.»
«Ganz meine Meinung», stimmte Lombard zu.
«Ich mach mich auf die Suche», verkündete Tony
und verließ das Zimmer.
Schon bald war er wieder zurück. «Die habe ich alle
draußen gefunden. Standen auf einem Tablett für uns
bereit.»
Er setzte seine Last vorsichtig ab. Die nächsten
Minuten vergingen mit dem Ausschenken der Ge-
tränke. General MacArthur nahm einen steifen
Whisky und der Richter auch. Jeder hatte das Be-
dürfnis nach etwas Alkoholischem. Nur Emily Brent
verlangte und bekam ein Glas Wasser.
Dr. Armstrong kam ins Zimmer zurück.
«Es geht ihr gut», berichtete er. «Ich habe ihr ein
Beruhigungsmittel gegeben. Das war’s dann. Jetzt
könnte ich auch einen Drink brauchen.»
Einige der Männer füllten ein zweites Mal ihre Glä-
ser. Kurz darauf kam auch Rogers wieder ins Zim-
mer.
Richter Wargrave nahm sich der Sache an, und der
Raum wurde zu einem improvisierten Gerichtssaal.
«Also, Rogers», begann er. «Wir müssen der Sache
auf den Grund gehen. Wer ist dieser Mr. Owen?»
Rogers starrte ihn an.
«Ihm gehört die Insel, Sir.»
«Diese Tatsache ist mir bewusst. Was mich interes-
siert, ist, zu erfahren, was Sie selbst über den Mann
wissen.»
Rogers schüttelte den Kopf.
«Das kann ich nicht sagen, Sir. Ich habe ihn noch
nie gesehen.»
Eine Welle der Unruhe schwappte durch den
Raum.
«Sie haben ihn noch nie gesehen?», fragte General
MacArthur. «Was meinen Sie damit?»
«Wir sind noch keine Woche hier, Sir, meine Frau
und ich. Wir wurden per Brief gebucht, über eine
Agentur. Die Regina-Agentur in Plymouth.»
Blore nickte. «Seriöses Unternehmen», sagte er.
«Haben Sie diesen Brief?», wollte Wargrave wissen.
«Den Einstellungsbrief? Nein, Sir. Ich habe ihn
nicht aufgehoben.»
«Und weiter? Sie wurden also per Brief eingestellt,
wenn ich Sie recht verstehe.»
«Ja, Sir. Wir sollten an einem bestimmten Tag an-
kommen. Und das haben wir getan. Alles hier war in
Ordnung. Reichlich Lebensmittelvorräte, und alles
war sehr ordentlich. Nur Staub gewischt musste wer-
den, mehr nicht.»
«Und weiter?»
«Gar nichts, Sir. Wir bekamen Anweisungen – wie-
der per Brief –, um die Zimmer für eine Gesellschaft
herzurichten. Und dann kam gestern mit der Nach-
mittagspost noch ein Brief von Mr. Owen. Darin
stand, er und Mrs. Owen würden aufgehalten, und
wir sollten unser Bestes tun, und der Brief enthielt
Anweisungen bezüglich des Abendessens und des
Kaffees und des Plattenspielers.»
«Diesen Brief haben Sie doch sicher noch», sagte
Wargrave scharf.
«Ja, Sir. Ich hab ihn bei mir.»
Er zog ihn aus der Tasche. Der Richter nahm ihn
entgegen.
«Hm», murmelte er. «Briefkopf Hotel Ritz und mit
der Maschine geschrieben.»
Mit einer schnellen Bewegung war Blore an seiner
Seite.
«Lassen Sie mich einen Blick darauf werfen.»
Er entwand den Brief der Hand des Richters und
ließ seinen Blick darüber gleiten.
«Schreibmaschine Marke Coronation. Ziemlich neu
– keine defekten Buchstaben», murmelte er. «Papier
mit Wasserzeichen – die meistverbreitete Sorte. Da-
mit werden Sie nichts anfangen können. Höchstens
Fingerabdrücke, aber das bezweifle ich.»
Wargrave musterte ihn plötzlich mit besonderer
Aufmerksamkeit.
Anthony Marston stand neben Blore und sah ihm
über die Schulter.
«Hat einen mächtig ungewöhnlichen Vornamen»,
sagte er, «finden Sie nicht? Ulick Norman Owen. Ein
richtiger Zungenbrecher.»
Der alte Richter entgegnete ein wenig verblüfft:
«Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet, Mr. Marston.
Sie haben meine Aufmerksamkeit auf einen seltsa-
men und interessanten Punkt gelenkt.»
Er sah sich in der Runde um und warf seinen Kopf
wie eine wütende Schildkröte nach vorn:
«Ich glaube, es ist an der Zeit, unsere Informatio-
nen zu bündeln. Es wäre gut, wenn jetzt jeder von
uns sämtliche Informationen, die er über die Besitzer
dieses Hauses hat, offen legen würde.» Er hielt inne
und fuhr dann fort: «Wir sind alle seine Gäste, und
ich denke, es würde uns weiterbringen, wenn jeder
von uns genau erklären könnte, wie es dazu kam.»
Einen Augenblick lang sagte niemand etwas, aber
dann ergriff Emily Brent entschlossen das Wort.
«Das Ganze kommt mir wirklich sehr eigenartig
vor», sagte sie. «Ich erhielt einen Brief mit einer Un-
terschrift, die nicht leicht zu lesen war. Es sah aus, als
wäre der Brief von einer Frau, der ich vor zwei, drei
Jahren in einem Urlaubsort begegnet bin. Ich hielt
den Namen für Ogden oder Oliver. Ich bin sowohl
mit einer Mrs. Oliver als auch mit einer Miss Ogden
bekannt. Aber ich bin sicher, dass ich niemals je-
manden mit dem Namen Owen getroffen oder näher
kennen gelernt habe.»
«Sie haben den Brief noch, Miss Brent?», fragte
Richter Wargrave.
«Ja, ich hole ihn für Sie.»
Sie verließ den Raum und kehrte kurz darauf mit
dem Brief zurück.
Der Richter las ihn.
«Ich glaube, langsam verstehe ich…», sagte er.
«Miss Claythorne?»
Vera erklärte die Umstände ihrer Einstellung als
Sekretärin.
«Marston?», fragte der Richter.
«Bekam ein Telegramm», erzählte Anthony. «Von
einem Kumpel. Biber Berkeley. Wunderte mich die
ganze Zeit, weil ich dachte, der alte Knabe wär nach
Norwegen gegangen. Stand drin, ich sollte es mir hier
gut gehen lassen.»
Wieder nickte Richter Wargrave.
«Dr. Armstrong?»
«Ich wurde beruflich verpflichtet.»
«Verstehe. Sie kannten die Familie vorher nicht?»
«Nein. Ein Kollege von mir wurde im Brief er-
wähnt.»
«Um es glaubwürdiger zu machen», stellte der Rich-
ter fest. «Ja, und der Kollege, vermute ich, hat zu
Ihnen momentan keinen Kontakt.»
«Nun… ja, das stimmt.»
Lombard, der Blore die ganze Zeit angestarrt hatte,
sagte plötzlich: «Also… Ich habe gerade an etwas
gedacht.»
Der Richter hob die Hand. «Einen Moment –»
«Aber ich –»
«Wir werden eins nach dem anderen machen, Mr.
Lombard. Und momentan erforschen wir die Grün-
de, die dazu geführt haben, dass wir heute Abend
hier versammelt sind. General MacArthur?»
Der General zupfte an seinem Schnurrbart und
stammelte: «Bekam einen Brief – von diesem Bur-
schen Owen – stand drin, ein paar alte Kameraden
von mir wären hier – sollte die informelle Einladung
entschuldigen. Hab den Brief leider nicht verwahrt.»
«Mr. Lombard?», fragte der Richter.
Lombard hatte die ganze Zeit angestrengt überlegt.
Sollte er mit der Wahrheit herausrücken oder nicht?
Er traf eine Entscheidung.
«Genau das Gleiche», sagte er. «Eine Einladung mit
der Erwähnung von ein paar Freunden – bin sofort
darauf hereingefallen. Den Brief habe ich zerrissen.»
Richter Wargrave wandte seine Aufmerksamkeit
Mr. Blore zu. Sein Zeigefinger strich über die Ober-
lippe, und seine Stimme war gefährlich höflich.
«Gerade hatten wir ein ziemlich beunruhigendes
Erlebnis. Eine Stimme ohne Körper hat uns alle mit
Namen angeredet und sehr genaue Anschuldigungen
gegen uns vorgebracht. Wir werden uns zu gegebener
Zeit diesen Anschuldigungen widmen. Im Augen-
blick interessiert mich noch eine Kleinigkeit. Unter
den genannten Namen war der eines William Henry
Blore. Aber soweit wir wissen, gibt es niemanden mit
diesem Namen unter uns. Der Name Davis wurde
nicht erwähnt. Was sagen Sie dazu, Mr. Davis?»
«Scheint, als wär die Katze aus dem Sack», brumm-
te Blore missmutig. «Ich gebe also besser zu, dass ich
nicht Davis heiße.»
«Sie sind William Henry Blore?»
«Stimmt.»
«Ich möchte noch etwas hinzufügen», meldete
Lombard sich. «Nicht nur, dass Sie hier unter fal-
schem Namen auftreten, Mr. Blore, aber heute
Abend habe ich auch herausgefunden, dass Sie ein
erstklassiger Lügner sind. Sie behaupten, aus Natal,
Südafrika, zu stammen. Ich kenne Südafrika und Na-
tal, und ich bin bereit zu schwören, dass Sie im Le-
ben noch nicht Ihren Fuß auf südafrikanischen Bo-
den gesetzt haben.»
Alle Augen richteten sich auf Blore. Wütende,
misstrauische Augen. Anthony Marston trat einen
Schritt näher an ihn heran. Seine Hände waren zu
Fäusten geballt.
«Sie Schwein», zischte er. «Wie wär’s mit einer Er-
klärung.»
Blore warf den Kopf zurück und reckte sein vier-
eckiges Kinn.
«Gentlemen, Sie haben einen falschen Eindruck
von mir», verteidigte er sich. «Ich habe Leumunds-
zeugnisse, und die können Sie sehen. Ich bin ehema-
liger Kriminalbeamter und betreibe in Plymouth eine
Detektivagentur. Auf den Job hier wurde ich ange-
setzt.»
«Von wem?», fragte Richter Wargrave.
«Diesem Owen. Legte einen fetten Scheck für mei-
ne Auslagen bei und informierte mich über das, was
er getan haben wollte. Ich sollte mich der Gesell-
schaft anschließen und als Gast ausgeben. Ich habe
Ihre Namen erhalten, und ich sollte Sie alle beobach-
ten.»
«Aus welchem Grund?»
«Mrs. Owens Schmuck.» Blore klang verbittert.
«Mrs. Owen, heilige Hacke! Ich glaube nicht, dass es
so eine Person überhaupt gibt.»
Wieder strich der Zeigefinger des Richters über
seine Lippen, dieses Mal sichtlich zufrieden.
«Ihre Schlussfolgerungen sind, glaube ich, gerech-
tfertigt», sagte er. «Ulick Norman Owen! In Miss
Brents Brief sind die Vornamen ziemlich deutlich –
Una Nancy –, obwohl der Nachname ein ziemliches
Gekritzel ist. In beiden Fällen handelt es sich um die
gleichen Anfangsbuchstaben. Ulick Norman Owen –
Una Nancy Owen – das heißt jedes Mal U. N. Owen.
Oder mit ein wenig Fantasie Unknown! Unbe-
kannt!»
«Aber das ist ja grotesk», meinte Vera. «Verrückt!»
Der Richter nickte sanft.
«Oh ja», stimmte er zu. «Ich habe keinerlei Zweifel,
dass wir von einem Verrückten hierher eingeladen
worden sind – wahrscheinlich von einem gefährli-
chen, mörderischen Irren.»
Viertes Kapitel
E inen Moment lang war es still. Eine Stille des
Entsetzens und der Verwirrung. Dann nahm
der Richter mit seiner klaren Stimme den
Faden wieder auf.
«Wir werden jetzt zum nächsten Stadium unserer
Untersuchung schreiten. Zunächst möchte ich nach-
tragen, wie es zu meiner Einladung kam.»
Er zog einen Brief aus der Tasche und warf ihn auf
den Tisch.
«Der kommt angeblich von einer alten Freundin,
Lady Constance Culmington. Ich habe sie schon ei-
nige Jahre nicht mehr gesehen. Sie ging in den Osten.
Es ist genau die Art von unzusammenhängendem
Brief, den sie schreiben würde. Sie fordert mich auf,
sie hier zu treffen, und erwähnt nur in äußerst vager
Weise den Gastgeber und seine Frau. Dieselbe Vor-
gehensweise wie gehabt, werden Sie feststellen. Ich
erwähne es nur, weil es zu den anderen Indizien
passt – aus all dem ergibt sich ein interessanter
Punkt. Wer immer uns hierher gelockt hat, dieser
Mensch weiß alles über uns oder hat sich die Mühe
gemacht, eine Menge über uns herauszufinden. Wer
er auch sein mag, er weiß von meiner Freundschaft
mit Lady Constance und ist mit ihrem Stil des Brief-
eschreibens vertraut. Er weiß etwas über Dr. Arm-
strongs Kollegen und wo sie sich zurzeit aufhalten.
Er kennt den Spitznamen von Mr. Marstons Freund
und ist im Bilde über die Art von Telegramm, die er
verschickt. Er weiß genau, wo Miss Brent vor zwei
Jahren ihre Ferien verbrachte und wen sie dort traf.
Und er weiß alles über General MacArthurs alte Ka-
meraden.»
Er hielt inne. Dann sagte er: «Er weiß eine Menge,
wie Sie sehen. Und aus seiner Kenntnis über uns hat
er ganz spezielle Anschuldigungen erhoben.»
Augenblicklich redeten alle drauflos.
«Alles Lügen! Verleumdung!», empörte sich Gene-
ral MacArthur.
«Das ist gemein!», rief Vera und schnappte nach
Luft. «Bösartig!»
«Eine Lüge», sagte Rogers mit rauer Stimme. «Eine
schlimme Lüge… wir haben niemals – keiner von
uns…»
«Weiß nicht, was dieser verdammte Narr sich dabei
gedacht hat», knurrte Anthony Marston.
Die erhobene Hand von Richter Wargrave ließ die
aufgeregten Stimmen verstummen.
Er wählte seine Worte mit Sorgfalt:
«Ich möchte noch Folgendes hinzufügen: Unser
unbekannter Freund beschuldigt mich des Mordes an
einem gewissen Edward Seton. Ich kann mich sehr
gut an Seton erinnern. Ich hatte über ihn in einem
Prozess im Juni des Jahres 1930 zu richten. Er war
des Mordes an einer älteren Frau angeklagt. Er wurde
äußerst kompetent verteidigt und machte im Zeu-
genstand einen guten Eindruck auf die Geschwore-
nen. Trotzdem war er nach Lage der Indizien zwei-
felsfrei schuldig. Ich plädierte entsprechend, und das
Urteil der Geschworenen lautete schuldig. Ich folgte
ihrem Urteil und verhängte die Todesstrafe. Wegen
angeblicher Beeinflussung der Geschworenen wurde
Berufung eingelegt. Die Berufung wurde abgelehnt,
und der Mann wurde hingerichtet. Ich möchte vor
Ihnen allen sagen, dass mein Gewissen in dieser An-
gelegenheit vollkommen rein ist. Ich tat meine
Pflicht und mehr nicht. Ich fällte einen Urteilsspruch
über einen rechtmäßig überführten Mörder.»
Jetzt erinnerte Armstrong sich. Der Fall Seton! Das
Urteil war eine totale Überraschung. Er hatte an ei-
nem der Prozess tage Kronanwalt Matthews getrof-
fen. Matthews war zuversichtlich gewesen. «Das Ur-
teil ist glasklar, der Freispruch so gut wie sicher.»
Nach dem Urteil hatte er dann gehört. «Der Richter
war gegen ihn. Drehte die Geschworenen total um,
und sie sprachen ihn schuldig. Völlig legal alles. Der
alte Wargrave kennt das Gesetzbuch. Es war fast, als
hätte er eine Privatfehde mit dem Burschen.»
All diese Erinnerungsfetzen jagten durch den Kopf
des Arztes. Bevor er darüber nachdachte, wie sinn-
voll die Frage war, fragte Armstrong spontan:
«Kannten Sie Seton? Ich meine vor dem Fall.»
Die verhangenen Reptilaugen trafen sich mit sei-
nen. Mit klarer, kalter Stimme antwortete der Richter:
«Ich kannte Seton vorher nicht.»
Armstrong sagte sich:
«Der Mann lügt. Ich weiß, dass er lügt.»
II
Vera Claythorne sprach mit zitternder Stimme.
«Ich würde Ihnen gern etwas erzählen. Von diesem
Kind – Cyril Hamilton. Ich war sein Kindermädchen.
Es war ihm verboten worden, weit hinauszu-
schwimmen. Eines Tages, als ich einmal kurz abge-
lenkt war, schwamm er los. Ich schwamm ihm
nach… Ich konnte nicht rechtzeitig bei ihm sein…
Es war schrecklich… Aber es war nicht meine
Schuld. Bei der Verhandlung zur Feststellung der
Todesursache wurde ich freigesprochen. Und seine
Mutter – sie war so freundlich. Wenn selbst sie mir
keine Schuld gab, warum sollte – warum sollte dann
etwas so Furchtbares behauptet werden? Es ist nicht
fair – nicht fair…»
Sie brach zusammen und weinte bitterlich.
General MacArthur klopfte ihr auf die Schulter.
«Aber, aber, meine Liebe. Natürlich ist das nicht
wahr. Der Bursche ist ein Verrückter. Ein Verrück-
ter! Der hat eine Schraube locker. Hat alles völlig in
die falsche Kehle gekriegt.» Er stand aufrecht da und
straffte seine Schultern. Dann schimpfte er los:
«Am besten, man geht auf so etwas gar nicht ein.
Dennoch muss ich es sagen – kein Funken Wahrheit
in dem, was er über – über den jungen Arthur Rich-
mond gesagt hat. Richmond war einer meiner Offi-
ziere. Ich schickte ihn mit einem Spähtrupp aus. Er
wurde getötet. Eine natürliche Folge der Ereignisse
im Krieg. Möchte mich auch verwahren gegen die
Verleumdung meiner Frau. Die beste Frau der Welt.
Wirklich. Man kann sich keine bessere vorstellen!»
General MacArthur setzte sich. Seine zitternde
Hand zog am Schnurrbart. Das Reden hatte ihn eini-
ge Anstrengung gekostet.
Lombard ergriff das Wort. Seine Augen funkelten
amüsiert.
«Was die Eingeborenen angeht –»
«Was ist mit ihnen?», wollte Marston wissen.
Philip Lombard grinste.
«Die Geschichte stimmt. Ich hab sie ihrem Schick-
sal überlassen. Selbsterhaltungstrieb. Wir hatten uns
im Busch verlaufen. Ich und noch ein paar andere
Männer nahmen uns, was es an Nahrung gab, und
setzten uns ab.»
«Sie haben Ihre Männer aufgegeben?», empörte
sich General MacArthur. «Haben sie dem Hungertod
überlassen?»
«Nicht die Tat eines edlen Ritters», gab Lombard
zu. «Das stimmt. Aber Selbsterhaltung ist die erste
Mannespflicht. Und Eingeborenen macht es nicht
viel aus zu sterben, wissen Sie. Die sehen das nicht
so wie wir Europäer.»
Vera hob ihr Gesicht aus den Händen. Sie starrte
ihn an: «Sie haben sie – dem Tod überlassen.»
Lombard antwortete: «Ich habe sie dem Tod über-
lassen.»
Seine amüsierten Augen trafen auf ihre entsetzten.
Anthony Marston sagte mit langsamer, verwunder-
ter Stimme: «Ich hab gerade daran gedacht – an John
und Lucy Combes. Das müssen die beiden Kinder
gewesen sein, die ich bei Cambridge überfahren ha-
be. Das war verfluchtes Pech.»
«Für die Kinder oder für Sie?», fragte Richter War-
grave mit beißender Stimme.
«Ich dachte, für mich», gab Anthony zu. «Aber na-
türlich haben Sie Recht, es war verdammtes Pech für
die Kinder. Aber es war ein Unfall. Sie kamen aus
dem Haus gerannt, eins hinter dem anderen. Ich hat-
te ein Jahr lang keinen Führerschein. Verdammt läs-
tig.»
«Dieses Rasen sollte man verbieten», empörte sich
Dr. Armstrong. «Einfach verbieten. Junge Männer
wie Sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft.»
Anthony zuckte die Schultern.
«Die Geschwindigkeit wird bleiben. Aber englische
Straßen sind natürlich das Letzte. Auf denen kann
man überhaupt kein ordentliches Tempo machen.»
Er sah sich suchend nach seinem Glas um, griff es
sich vom Tisch, ging hinüber zur Anrichte und nahm
sich noch einen Whisky mit Soda. Über die Schulter
sagte er:
«Es war nicht meine Schuld. Es war ein Unfall,
mehr nicht!»
III
Der Butler, Rogers, hatte seine Lippen befeuchtet
und die Hände ineinander verkrampft. Jetzt sprach er
mit tiefer, ehrerbietiger Stimme:
«Wenn ich etwas sagen dürfte, Sir.»
«Nur zu, Rogers», ermunterte Lombard ihn.
Rogers räusperte sich und strich mit der Zunge ein
weiteres Mal über seine trockenen Lippen.
«Sir. Es war die Rede von mir und Mrs. Rogers.
Und von Miss Brady. Kein Wort davon ist wahr, Sir.
Meine Frau und ich waren bei Miss Brady, bis sie
starb. Sie war immer schon bei schlechter Gesund-
heit, Sir, von Anfang an, seit wir zu ihr kamen. Und
es war Sturm, Sir, in jener Nacht – die Nacht, wo es
ihr schlecht ging. Das Telefon funktionierte nicht.
Wir konnten für sie nicht den Doktor rufen. Ich bin
zu ihm gelaufen, zu Fuß. Aber er kam zu spät. Wir
haben alles Menschenmögliche für sie getan, Sir. Wir
waren ihr treu ergeben. Jeder wird Ihnen das Gleiche
erzählen. Niemand hat ein böses Wort über uns ge-
sagt. Nicht eins.»
Lombard betrachtete nachdenklich das zuckende
Gesicht des Mannes, seine trockenen Lippen, die
Furcht in seinen Augen. Er erinnerte sich an das
Krachen des fallenden Kaffeetabletts und dachte:
«Oje», aber er sagte nichts.
Blore ergriff das Wort, grob und wichtigtuerisch,
wie es seine Art war.
«Ist doch wohl ein bisschen was für Sie rausgesp-
rungen bei ihrem Tod, oder?»
Rogers’ Figur straffte sich. Er sagte steif:
«Miss Brady hinterließ uns eine Erbschaft als Aner-
kennung für unsere treuen Dienste. Warum auch
nicht, frage ich Sie?»
«Wie steht’s denn mit Ihnen, Mr. Blore?», fragte
Lombard.
«Wie soll’s mit mir stehen?»
«Ihr Name stand auch auf der Liste.»
Blore verfärbte sich rot.
«Landor, meinen Sie? Das war der Bankraub – die
Londoner Handelsbank.»
Richter Wargrave fuhr hoch: «Ich war nicht mit
dem Fall betraut, aber ich erinnere mich. Landor
wurde auf Grund Ihrer Aussage verurteilt. Sie waren
der für den Fall zuständige Polizeibeamte?»
«Das war ich», bestätigte Blore.
«Landor wurde zu lebenslanger Zwangsarbeit ver-
urteilt und starb ein Jahr später in Dartmoor. Er war
ein schmächtiger Mann.»
«Er war ein Verbrecher», knurrte Blore. «Er hat in
der Nacht damals den Nachtwächter umgebracht.
Der Fall gegen ihn war ganz klar.»
«Wenn ich mich recht erinnere», fuhr Richter War-
grave langsam fort, «dann wurden Sie wegen Ihrer
kompetenten Handhabung des Falles belobigt.»
«Ich bekam meine Beförderung», gab Blore mür-
risch zu.
Mit belegter Stimme fügte er hinzu: «Ich habe nur
meine Pflicht getan.»
Lombard lachte – ein plötzliches, schepperndes La-
chen.
«Was für ein pflichtbewusster, gesetzestreuer Hau-
fen wir doch alle sind. Bis auf mich. Was ist mit Ih-
nen, Doktor – und mit Ihrem kleinen Kunstfehler?
Die Operation war illegal. Oder?»
Emily Brent sah ihn mit ausgesprochenem Missfal-
len an und rückte ein wenig von ihm ab.
Dr. Armstrong, ganz Herr seiner selbst, schüttelte
ungerührt den Kopf.
«Ich verstehe das Ganze nicht. Der Name sagt mir
nichts, damals nicht und heute auch nicht. Wie war
er noch – Clees? Close? Ich kann mich wirklich nicht
erinnern, eine Patientin dieses Namens behandelt
oder irgendetwas mit ihrem Tod zu tun gehabt zu
haben. Die Sache ist mir schleierhaft. Es ist ja auch
schon lange her. Vielleicht war es einer meiner OP-
Fälle. Viele der Leute da kamen zu spät zu uns. Und
wenn dann der Patient stirbt, ist es immer die Schuld
des Arztes, der ihn operiert hat.»
Er seufzte und schüttelte den Kopf.
Im Stillen dachte er: «Betrunken – so war das – be-
trunken… Und ich habe operiert! Mit den Nerven
am Ende – die Hände haben gezittert. Ja, ich habe sie
getötet. Ein armes Luder – eine ältere Frau – eine
einfache Sache, wenn ich nüchtern gewesen wäre.
Mein Glück, dass es in unserem Beruf noch Standes-
ehre gibt. Die Schwester wusste natürlich Bescheid –
aber sie hat den Mund gehalten. Mein Gott, das war
ein Schock! Hat mich aufgerüttelt. Aber wer kann
davon wissen nach all den Jahren?»
IV
Stille füllte den Raum. Jeder sah offen oder versteckt
Emily Brent an. Es dauerte ein, zwei Minuten, bis sie
merkte, was man von ihr erwartete. Ihre Augenbrau-
en hoben sich auf der niedrigen Stirn.
«Warten Sie darauf, dass ich etwas sage? Ich habe
nichts zu sagen.»
«Gar nichts, Miss Brent?», hakte der Richter nach.
«Nichts.»
Ihre Lippen schlossen sich fest.
Der Richter strich über sein Gesicht. «Sie stellen
Ihre Verteidigung zurück?», fragte er milde.
«Es geht um keine Verteidigung», konterte Miss
Brent kühl. «Ich habe immer in Übereinstimmung
mit den Geboten meines Gewissens gehandelt. Es
gibt nichts, was ich mir vorwerfen könnte.»
Enttäuschte Erwartungen standen im Raum. Aber
Emily Brent war niemand, der sich von der öffentli-
chen Meinung ins Wanken bringen ließ. Unnachgie-
big saß sie da.
Der Richter räusperte sich ein- oder zweimal. Dann
sagte er:
«Unsere Untersuchung wird an dieser Stelle unterb-
rochen. Rogers, wer außer uns und Ihnen und Ihrer
Frau befindet sich auf dieser Insel?»
«Niemand, Sir. Überhaupt niemand.»
«Sind Sie sicher?»
«Ganz sicher, Sir.»
Wargrave fuhr fort: «Mir ist noch nicht klar, wel-
ches Ziel unser unbekannter Gastgeber damit ver-
folgt, uns alle hier zu versammeln. Aber meiner Mei-
nung nach ist diese Person, wer immer sie sein mag,
nicht normal im allgemein üblichen Sinn des Wortes.
Vielleicht ist sie gefährlich. Ich denke, wir sollten
diesen Ort hier so schnell wie möglich verlassen. Ich
schlage vor, wir verlassen die Insel noch heute
Abend.»
«Entschuldigen Sie, Sir», sagte Rogers, «aber es gibt
kein Boot auf der Insel.»
«Kein einziges Boot?»
«Nein, Sir.»
«Und wie halten Sie Verbindung zum Festland?»
«Fred Narracott, Sir. Er kommt jeden Morgen rü-
ber und bringt das Brot und die Milch und die Post,
und er nimmt die Bestellungen auf.»
«Dann wäre es meiner Meinung nach das Beste»,
entschied Richter Wargrave, «wenn wir alle morgen
Früh abfahren, sobald Narracotts Boot eintrifft.»
Alle stimmten im Chor zu. Bis auf eine abweichen-
de Stimme. Anthony Marston teilte die Meinung der
Mehrheit nicht.
«Etwas unsportlich, oder?», sagte er. «Wir sollten
das Geheimnis ausschnüffeln, bevor wir gehen. Das
Ganze ist wie ein Krimi. Absolut spannend.»
«In meinem Alter habe ich keinen Bedarf an einem
‹Krimi›, wie Sie das nennen», bemerkte der Richter
bissig.
Anthony grinste.
«Der Gesetzeskram macht engstirnig. Ich bin für
das Verbrechen. Darauf trinke ich.»
Er griff nach seinem Glas und leerte es in einem
Schluck.
Zu schnell, vielleicht. Er würgte, würgte verzwei-
felt. Sein Gesicht verzerrte sich, wurde puterrot. Er
schnappte nach Luft – dann glitt er von seinem
Stuhl, und das Glas fiel ihm aus der Hand.
Fünftes Kapitel
E s geschah so plötzlich und unerwartet, dass
jeder den Atem anhielt. Sie saßen da, starrten
ungläubig auf die zusammengesunkene Ge-
stalt am Boden.
Dann sprang Dr. Armstrong auf, lief zu ihm und
kniete sich neben ihn. Als er den Kopf wieder hob,
sprach Verwirrung aus seinen Augen.
Zutiefst erschrocken flüsterte er:
«Mein Gott! Er ist tot.»
Sie konnten es nicht fassen. Nicht sofort.
Tot? Tot? Dieser junge nordische Gott voll Saft
und Kraft in der Blüte seines Lebens. In einem einzi-
gen Augenblick dahingemäht. Gesunde junge Män-
ner starben nicht, weil sie sich an einem Whisky mit
Soda verschluckten…
Nein, sie konnten es nicht fassen.
Dr. Armstrong besah sich aufmerksam das Gesicht
des toten Mannes. Er roch an den blauen, verkramp-
ften Lippen. Dann nahm er das Glas, aus dem
Anthony Marston getrunken hatte, in die Hand.
«Tot?», staunte General MacArthur. «Heißt das, der
Bursche verschluckte sich – und starb?»
«Sie können es Verschlucken nennen, wenn Sie
wollen», sagte der Arzt. «Er starb an Ersticken, so
viel ist klar.»
Er schnupperte am Glas. Dann tauchte er einen
Finger in die Flüssigkeitsreste auf dem Boden des
Glases und leckte vorsichtig mit der Zungenspitze
daran.
Er verzog das Gesicht.
«Ich wusste nicht, dass ein Mensch so sterben
kann», wunderte sich General MacArthur. «An einem
Hustenanfall.»
Emily Brent zitierte mit klarer Stimme:
«Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.»
Dr. Armstrong erhob sich.
«Nein, ein Mann stirbt nicht an einem Hustenan-
fall», sagte er schroff. «Marstons Tod war nicht das,
was wir einen natürlichen Tod nennen.»
«War da – etwas – in seinem Whisky?», fragte Vera
leise.
Armstrong nickte.
«Ja. Keine Ahnung, was genau. Alles deutet auf ei-
nes der Zyanidgifte hin. Kein ausgeprägter Geruch
von Blausäure, wahrscheinlich Zyankali. Das wirkt
ziemlich schnell.»
«Es war in seinem Glas?», fragte der Richter scharf.
«Ja.»
Der Arzt schritt zu dem Tisch, wo die Getränke
standen. Er entfernte den Verschluss der Whiskyfla-
sche, roch und probierte. Danach probierte er das
Sodawasser. Er schüttelte den Kopf.
«Die sind beide in Ordnung.»
«Sie meinen, er muss selbst das Zeug in sein Glas
getan haben?», fragte Lombard.
Armstrong nickte mit einem merkwürdig unzufrie-
denen Ausdruck im Gesicht.
«Sieht so aus.»
«Selbstmord? Wie?», schnaubte Blore. «Verdammt
komisch.»
«Ich hätte nie gedacht, dass er sich umbringen wür-
de», sagte Vera langsam. «Er war so lebendig. Er hat-
te – so viel Spaß! Als er heute Abend in seinem Auto
den Hügel herunterkam, da sah er so – er sah so –,
ich kann das nicht erklären!»
Aber alle wussten, was sie meinte. Anthony Mars-
ton in der Blüte seiner Jugend und Männlichkeit war
ihnen wie ein Wesen erschienen, das unsterblich war.
Und jetzt lag er zusammengesunken und zerstört auf
dem Boden.
«Gibt es noch eine andere Möglichkeit, außer
Selbstmord?», fragte Dr. Armstrong.
Jeder schüttelte einzeln den Kopf. Es konnte keine
andere Erklärung geben. Keiner hatte sich an den
Getränken zu schaffen gemacht. Sie hatten alle gese-
hen, wie Anthony Marston dorthin gelaufen war und
sich bedient hatte. Daraus folgte, dass jegliches Gift
von Anthony Marston selbst in das Getränk hinein-
getan worden sein musste.
Und doch – warum sollte Anthony Marston
Selbstmord begehen?
«Wissen Sie, Doktor», meinte Blore nachdenklich.
«Das kommt mir alles nicht richtig vor. Marston war
doch gar kein Typ für einen Selbstmord.»
Armstrong antwortete:
«Ich bin da ganz Ihrer Meinung.»
II
Sie hatten es dabei belassen. Was gab es noch zu sa-
gen?
Armstrong und Lombard hatten den leblosen Kör-
per von Anthony Marston in sein Zimmer getragen
und ihn aufs Bett gelegt und mit einem Laken be-
deckt.
Als sie wieder nach unten kamen, standen die ande-
ren in einer Gruppe beisammen. Sie fröstelten ein
wenig, obwohl die Nacht nicht kalt war.
«Wir gehen besser zu Bett», schlug Emily Brent
vor. «Es ist spät.»
Es war nach zwölf. Der Vorschlag war weise – und
doch zögerte jeder. Es war, als brauchten sie zur Be-
ruhigung die Gegenwart der anderen.
«Wir können den Schlaf brauchen», bestätigte der
Richter.
Rogers meldete sich zu Wort: «Ich habe noch nicht
aufgeräumt – im Esszimmer.»
«Machen Sie das am Morgen», erwiderte Lombard
kurz angebunden.
«Ist mit Ihrer Frau alles in Ordnung?», erkundigte
sich Armstrong.
«Ich werde nach ihr schauen, Sir.»
Kurz darauf kam er zurück. «Sie schläft, Sir. Ganz
fest.»
«Gut», sagte der Arzt. «Stören Sie sie nicht.»
«Nein, Sir. Ich werde nur noch im Esszimmer nach
dem Rechten sehen und sichergehen, dass alles abge-
schlossen ist, dann komme ich auch.»
Er lief durch die Eingangshalle zum Esszimmer.
Die anderen gingen nach oben, eine langsame, un-
willige Prozession.
Wenn dies ein altes Haus gewesen wäre, mit knar-
rendem Holz und dunklen Schatten und mit schwe-
ren, holzvertäfelten Wänden, dann hätte es ein un-
gemütliches Gefühl aus lösen können. Aber dieses
Haus war der Inbegriff der Moderne. Es gab keine
dunklen Ecken, keine Wandverkleidungen, die zur
Seite glitten, alles war von elektrischem Licht durch-
flutet, alles war neu und hell und glänzend. In diesem
Haus war nichts versteckt, nichts verborgen. Es hatte
keine Atmosphäre.
Und doch war das das Furchterregendste über-
haupt…
Auf dem oberen Treppenabsatz tauschten sie gute
Wünsche für die Nacht. Jeder ging in sein Zimmer,
und jeder von ihnen verriegelte automatisch und fast
ohne sich dessen bewusst zu werden die Tür…
III
In seinem angenehm warm getönten Zimmer zog
Richter Wargrave die Kleidung aus und machte sich
für die Nacht fertig.
Er dachte an Edward Seton.
Er erinnerte sich sehr wohl an Seton. Seine Haare,
seine blauen Augen, die Art, wie er ihm direkt ins
Gesicht gesehen hatte, mit einem gewinnenden Aus-
druck von Ehrlichkeit. Deshalb hatte er einen so gu-
ten Eindruck auf die Geschworenen gemacht.
Llewellyn, der Staatsanwalt, hatte es so ziemlich
vermasselt. Er war zu heftig gewesen, hatte versucht,
zu viel zu beweisen.
Matthews hingegen, der Verteidiger, war gut. Seine
Punkte hatten gesessen. Seine Kreuzverhöre waren
tödlich. Wie er seinen Mandanten im Zeugenstand
vorgeführt hatte, war meisterhaft.
Und Seton hatte die Feuerprobe des Kreuzverhörs
gut überstanden. Er hatte sich nicht aufgeregt, nicht
überreagiert. Die Geschworenen waren beeindruckt.
Matthews hatte bestimmt gedacht, die Schlacht sei
schon gewonnen.
Der Richter zog seine Uhr sorgfältig auf und legte
sie neben das Bett.
Er wusste noch genau, wie er sich gefühlt hatte, als
er damals dasaß – wie er zuhörte, Notizen machte,
alles einordnete, jedes Beweisstück auflistete, das
gegen den Gefangenen sprach.
Er hatte den Fall genossen! Matthews’ Schlussplä-
doyer war erstklassig gewesen. Llewellyn, der nach
ihm drankam, war es nicht gelungen, den guten Ein-
druck zu zerstören, den der Verteidiger hinterlassen
hatte.
Und dann war sein eigenes Plädoyer an der Rei-
he…
Vorsichtig entfernte Richter Wargrave seine fal-
schen Zähne und ließ sie in ein Wasserglas fallen. Die
geschrumpften Lippen fielen zusammen. Jetzt sah
der Mund grausam aus, grausam wie der eines Raub-
tiers.
Der Richter schloss seine Augen und lächelte.
Er hatte Seton so richtig weich gekocht.
Mit einem leichten Grunzen wegen seines Rheumas
kletterte er ins Bett und machte das Licht aus.
IV
Unten im Esszimmer stand Rogers und rätselte.
Er starrte auf die Porzellanfiguren in der Mitte des
Tisches und murmelte:
«Das ist ja komisch! Ich hätte schwören können,
dass da zehn von ihnen standen.»
General MacArthur wälzte sich von einer Seite auf
die andere. Der Schlaf wollte nicht zu ihm kommen.
In der Dunkelheit sah er wieder und wieder Arthur
Richmonds Gesicht.
Er hatte Arthur gemocht – er hatte ihn verdammt
gern gehabt. Er war froh gewesen, dass Leslie ihn
ebenfalls mochte.
Leslie war so anspruchsvoll. Über die meisten Jun-
gen rümpfte Leslie die Nase und fand, dass sie lang-
weilig waren. «Langweilig!» Einfach so. Aber Arthur
Richmond hatte sie nicht langweilig gefunden. Von
Anfang an waren sie gut miteinander ausgekommen.
Sie hatten zusammen über Theaterstücke geredet
und über Musik und Filme. Sie hatte ihn aufgezogen,
sich über ihn lustig gemacht, ihn auf den Arm ge-
nommen. Und er, MacArthur, war entzückt von dem
Gedanken gewesen, dass Leslie ein mütterliches
Interesse an dem Jungen hatte. Mütterlich! Er war
ein Narr gewesen, nicht daran zu denken, dass
Richmond achtundzwanzig war und Leslie neunund-
zwanzig.
Er hatte Leslie geliebt. Jetzt sah er sie vor sich. Ihr
herzförmiges Gesicht und ihre lachenden, tiefgrauen
Augen, und die braun gelockte Fülle ihrer Haare. Er
hatte Leslie geliebt, und er hatte ihr absolut vertraut.
In Frankreich da draußen, inmitten dieser Hölle, hat-
te er gesessen und an sie gedacht, ihr Foto aus der
Brusttasche seiner Uniformjacke genommen. Und
dann – hatte er es herausgefunden! Es war genauso
gekommen, wie die Dinge in Büchern geschehen.
Der Brief im falschen Umschlag. Sie hatte ihnen bei-
den geschrieben, und sie hatte den Brief an Rich-
mond in den Umschlag gesteckt, der an ihren Ehe-
mann adressiert war. Sogar jetzt noch, Jahre danach,
spürte er den Schock – den Schmerz… Gott, hatte es
geschmerzt!
Und die Sache war schon eine Weile gelaufen. Der
Brief machte das klar. Wochenenden! Richmonds
letzter Heimaturlaub… Leslie – Leslie und Arthur!
Verdammt sei der Kerl. Verdammt sein lachendes
Gesicht, sein knappes «Yes, Sir». Ein Lügner und
Heuchler! Stiehlt einem anderen Mann die Frau! Sie
hatte sich langsam angesammelt – jene kalte, mörde-
rische Wut. Er hatte versucht, sich im Umgang mit
Richmond nichts anmerken zu lassen. Es war ihm
gelungen, so weiterzumachen wie vorher – nichts zu
zeigen. Er hatte versucht, sich Richmond gegenüber
so wie immer zu verhalten. War ihm das gelungen?
Er glaubte, ja. Richmond hatte keinen Verdacht ge-
schöpft. Gründe für wechselhafte Launen gab es da
draußen mehr als genug, wo die Nerven der Männer
immer wieder unter dem Druck der Ereignisse rissen.
Nur der junge Armitage hatte ihn das ein oder an-
dere Mal seltsam angesehen. Ein ganz junger Bur-
sche, aber er bekam viel mit, der Junge.
Armitage hatte vielleicht einen Verdacht – als die
Zeit kam.
Er hatte Richmond bewusst in den Tod geschickt.
Nur ein Wunder hätte ihn da unverletzt durchgeb-
racht. Dieses Wunder geschah nicht. Ja, er hatte
Richmond in den Tod geschickt, und es tat ihm nicht
Leid. Es war ganz einfach gewesen. Fehler wurden
am laufenden Band gemacht, Offiziere ohne Grund
in den Tod geschickt. Es herrschte Verwirrung dort,
Chaos. Die Leute sagten hinterher vielleicht: «Der
alte MacArthur hat ein wenig die Nerven verloren,
einen kolossalen Fehler gemacht, einige seiner besten
Männer geopfert.» Mehr konnten sie nicht sagen.
Aber der junge Armitage war anders. Er hatte sei-
nen Kompaniechef so seltsam angeschaut. Er hatte
vielleicht gewusst, dass Richmond absichtlich in den
Tod geschickt worden war.
(Als der Krieg vorbei war – hatte Armitage da ge-
redet?)
Leslie hatte nichts gewusst. Leslie hatte um ihren
Geliebten geweint (das vermutete er), aber sie weinte
nicht mehr, als er zurück nach England kam. Er hatte
ihr nie erzählt, dass er sie ertappt hatte. Sie waren
zusammengeblieben – nur, dass sie jetzt seltsam ab-
wesend schien. Und dann hatte sie drei oder vier Jah-
re später eine Lungenentzündung bekommen und
war gestorben.
Das war lange her. Fünfzehn – sechzehn Jahre?
Er hatte die Armee verlassen und war nach Devon
gezogen, um hier zu leben – hatte sich die Art von
kleinem Anwesen gekauft, die er immer schon haben
wollte. Nette Nachbarn – ein angenehmer Teil der
Welt. Gelegenheit zum Jagen und Fischen. Er war an
den Sonntagen in die Kirche gegangen. (Aber nicht
an dem Tag, an dem vorgelesen wurde, wie David
Uria auf das Schlachtfeld schickte. Das konnte er
nicht ertragen. Gab ihm ein unbehagliches Gefühl.)
Jeder war sehr freundlich zu ihm gewesen. Das
heißt, am Anfang. Später hatte er so ein unangeneh-
mes Gefühl, dass die Leute hinter seinem Rücken
über ihn redeten. Sie sahen ihn irgendwie anders an.
Als ob sie etwas gehört hätten – irgendein verlogenes
Gerücht…
(Armitage? Wie, wenn Armitage geredet hatte?)
Er hatte danach Menschen gemieden – sich in sich
selbst zurückgezogen. Ein unangenehmes Gefühl,
wenn die Leute über einen redeten.
Und alles war schon so lange her. So – so sinnlos
heute. Leslie war in den Hintergrund getreten und
verblasst und Arthur Richmond auch. Nichts von
dem, was geschehen war, schien noch eine Bedeu-
tung zu haben.
Aber es machte das Leben einsam. Er hatte sich
angewöhnt, seine alten Armeefreunde zu meiden.
(Wenn Armitage geredet hatte, würden sie alles
wissen.)
Und jetzt – heute Abend – hatte eine versteckte
Stimme diese ganze versteckte Geschichte herauspo-
saunt.
War er damit richtig umgegangen? Hatte er Haltung
bewahrt? Das richtige Maß an Gefühl gezeigt – Ent-
rüstung, Abscheu – aber keine Schuld, kein Unbeha-
gen? Schwer zu sagen.
Keiner konnte die Anschuldigung ernst genommen
haben, oder? Es hatte einen Wust weiterer Anschul-
digungen gegeben, allesamt abwegig… Diese reizen-
de junge Person – die Stimme hatte sie beschuldigt,
ein Kind ertränkt zu haben. Idiotisch! Irgendein Ver-
rückter, der mit Anschuldigungen um sich warf!
Emily Brent, die auch – dabei war sie die Nichte
des alten Tom Brent aus dem Regiment. Die Stimme
hatte sie des Mordes beschuldigt! Dabei konnte jeder
Einäugige sehen, dass die Frau so fromm wie nur
irgend möglich war – die Sorte, die mit Pfaffen ver-
kehrte.
Die ganze Sache war verrückt! Verrückt, nichts als
verrückt.
Seitdem sie hierher gekommen waren – wann war
das? Verdammt, das war erst an diesem Nachmittag.
Es schien ein ganzes Ende länger.
Er dachte: «Ich würde gern wissen, wann wir von
hier wieder wegkommen.»
Morgen natürlich, wenn das Motorboot vom Fest-
land kam.
Seltsam, in diesem Augenblick wollte er gar nicht
weg von der Insel… zurück zum Festland, zurück in
sein kleines Haus, zurück zu allen Problemen und
Sorgen. Durch das offene Fenster konnte er die Wel-
len hören, die sich an den Felsen brachen – ein wenig
lauter als früher am Abend. Auch der Wind erhob
sich jetzt.
«Ein friedliches Geräusch», dachte er. «Ein friedli-
cher Ort…»
Er dachte: «Das Beste an einer Insel, bist du erst
einmal da, ist – dass du nicht weiter kannst… du
kommst an das Ende der Dinge…»
Plötzlich wusste er, dass er die Insel gar nicht ver-
lassen wollte.
VI
Vera Claythorne lag hellwach in ihrem Bett und
starrte an die Decke.
Neben ihr brannte das Licht. Sie hatte Angst vor
der Dunkelheit.
«Hugo… Hugo…», dachte sie gerade. «Warum füh-
le ich, dass du mir heute Abend so nah bist?… Ir-
gendwo ganz in der Nähe…»
«Wo ist er wirklich? Ich weiß es nicht. Ich werde es
nie wissen. Er ging einfach weg – weg aus meinem
Leben.»
Es nutzte nichts, nicht an Hugo denken zu wollen.
Er war ihr nah. Sie musste an ihn denken – zurück-
denken…
Cornwall…
Die schwarzen Felsen, der weiche gelbe Sand. Mrs.
Hamilton, stämmig und gut gelaunt. Und Cyril, im-
mer ein wenig quengelig, an ihrer Hand zerrend.
«Ich will zum Felsen schwimmen, Miss Claythorne.
Warum kann ich nicht raus zum Felsen schwim-
men?»
Und sie sah hoch – traf auf Hugos Augen, die sie
beobachteten.
Die Abende, als Cyril längst im Bett lag…
«Wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang, Miss
Claythorne?»
«Was für eine gute Idee.»
Der schickliche Abendspaziergang den Strand ent-
lang. Das Mondlicht – die weiche Atlantikluft.
Und dann Hugos Arme, die sie umschlangen.
«Ich liebe dich. Ich liebe dich. Weißt du, dass ich
dich liebe, Vera?»
Ja, sie wusste es.
(Oder dachte, sie wüsste es.)
«Ich kann dich nicht bitten, mich zu heiraten. Ich
besitze keinen Pfennig. Ich kann gerade mich selbst
durchbringen. Komisch, weißt du, einmal hatte ich
drei Monate lang das Glück, mir vorzustellen, ich
würde ein reicher Mann. Cyril wurde erst drei Mona-
te nach dem Tod von Maurice geboren. Wenn er ein
Mädchen gewesen wäre…»
Wenn das Kind ein Mädchen gewesen wäre, hätte
Hugo alles geerbt. Er war enttäuscht gewesen, das
gab er zu.
«Ich hatte natürlich nicht darauf gebaut. Aber es
war doch ein Schlag. So geht’s. Pech. Cyril ist ein
nettes Kind. Ich mag ihn schrecklich gern.» Und er
mochte ihn wirklich. Immer bereit, mit seinem klei-
nen Neffen Spiele zu spielen und ihn zum Lachen zu
bringen. Verbitterung lag nicht in Hugos Wesen.
Cyril war nicht sehr kräftig. Ein schwächliches
Kind – keine Widerstandskraft. Die Sorte Kind, viel-
leicht, die nicht lange genug lebte, um erwachsen zu
werden…
Und dann…?
«Miss Claythorne, warum kann ich nicht zum Fel-
sen rausschwimmen?»
Diese irritierende, nervende Wiederholung.
«Es ist zu weit, Cyril.»
«Aber Miss Claythorne…»
Vera stand auf. Sie ging zur Frisiertoilette und
schluckte drei Aspirin. «Ich wünschte, ich hätte rich-
tige Schlaftabletten.»
Sie dachte:
«Wenn ich mich umbringen wollte, würde ich eine
Überdosis Veronal nehmen – etwas in der Art – kein
Zyankali!»
Sie fröstelte, als sie sich an Anthony Marstons ver-
zerrtes lila Gesicht erinnerte.
Als sie am Kaminsims vorbeikam, sah sie auf die
gerahmten Verse:
Zehn kleine Negerlein,
die zechten in der Scheun’.
Eins verschluckte sich dabei,
da waren’s nur noch neun.
«Es ist schrecklich», dachte sie. «Genau wie heute
Abend…»
Warum hatte Anthony Marston sterben wollen?
Sie wollte nicht sterben.
Sie konnte sich nicht vorstellen, sterben zu wol-
len…
Der Tod – war für die anderen…
Sechstes Kapitel
D r. Armstrong träumte…
Es war sehr heiß im Operationssaal…
Bestimmt hatten sie die Temperatur zu
hoch gestellt? Der Schweiß rann ihm das Gesicht
herunter. Seine Hände waren feucht. Es war schwie-
rig, das Skalpell festzuhalten…
Wie schön scharf es war…
Es war leicht, mit so einem Messer einen Mord zu
begehen. Und natürlich beging er gerade einen
Mord…
Der Körper der Frau sah anders aus. Es war ein
großer, sperriger Körper gewesen. Dies war aber ein
magerer Körper. Und das Gesicht war versteckt.
Wer war es, den er töten musste?
Er konnte sich nicht erinnern. Aber er musste es
wissen! Sollte er die Schwester fragen?
Die Schwester beobachtete ihn. Nein, er konnte sie
nicht fragen. Sie war misstrauisch, das konnte er se-
hen.
Aber wer lag da vor ihm auf dem OP-Tisch?
Sie hätten das Gesicht nicht so zudecken dürfen…
Wenn er nur das Gesicht sehen könnte…
Ah! So war es besser. Eine junge Lernschwester
zog das Taschentuch weg. Emily Brent, natürlich. Er
musste Emily Brent umbringen. Wie bösartig ihre
Augen waren. Ihre Lippen bewegten sich. Was sagte
sie gerade?
«Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen…»
Jetzt lachte sie. Nein, Schwester, legen Sie das Ta-
schentuch nicht zurück. Ich muss sehen. Ich muss
das Betäubungsmittel geben. Wo ist der Äther? Ich
muss den Äther mitgebracht haben. Was haben Sie
mit dem Äther gemacht, Schwester? Châteauneuf-du-
Pape? Ja, der geht genauso gut.
Nehmen Sie das Taschentuch weg, Schwester.
Natürlich! Ich habe es die ganze Zeit gewusst! Es
ist Anthony Marston! Sein Gesicht ist lila und ver-
zerrt. Aber er ist nicht tot – er lacht! Er bringt den
OP-Tisch ins Wanken.
Passen Sie auf, Mann, passen Sie auf. Schwester,
halten Sie den Tisch ruhig – ruhig halten.
Dr. Armstrong erschrak und wachte auf. Es war
Morgen. Das Sonnenlicht strömte ins Zimmer.
Jemand war über ihn gebeugt – rüttelte ihn. Es war
Rogers. Rogers, der mit weißem Gesicht rief. «Dok-
tor – Doktor!»
Plötzlich war Dr. Armstrong hellwach.
Er setzte sich im Bett auf und fragte scharf. «Was
ist los?»
«Die Frau ist’s, Herr Doktor. Ich kann sie nicht
wach kriegen. O Gott. Ich kann sie nicht wach krie-
gen. Und – und sie sieht so komisch aus.»
Dr. Armstrong handelte schnell und umsichtig. Er
warf sich seinen Morgenmantel über und folgte Ro-
gers.
Er beugte sich über das Bett, in dem die Frau fried-
lich auf der Seite lag. Er hob die kalte Hand, zog das
Augenlid hoch. Es dauerte ein paar Minuten, bevor
er sich aufrichtete und vom Bett abwandte.
Rogers flüsterte: «Ist – sie – ist sie –?» Er fuhr mit
der Zunge über seine trockenen Lippen.
Armstrong nickte. «Ja, sie ist tot.»
Seine Augen ruhten nachdenklich auf dem Mann
vor ihm. Dann wanderten sie zurück zu dem Tisch
am Bett, zum Waschtisch, dann wieder zu der Frau.
«War es – war es – das Herz, Herr Doktor?»
Dr. Armstrong brauchte eine Weile, bis er antwor-
tete. Dann fragte er:
«Wie stand es denn mit ihrer Gesundheit?»
«Das Rheuma hat sie geplagt, manchmal.»
«War sie in der letzten Zeit bei einem Arzt in Be-
handlung?»
«Einem Arzt?» Rogers starrte ihn an. «Sie ist seit
Jahren bei keinem Arzt mehr gewesen – weder sie
noch ich.»
«Hatten Sie Grund zu der Annahme, dass mit ih-
rem Herzen etwas nicht stimmt?»
«Nein, Herr Doktor, davon weiß ich nichts.»
«Hat sie gut geschlafen?»
Jetzt wichen Rogers’ Augen ihm aus. Die Hände
des Mannes verschränkten sich, drehten und wanden
sich unruhig.
«Sie schlief nicht so besonders – nein», murmelte
er.
«Nahm sie Tabletten, um schlafen zu können?»,
fragte der Arzt scharf.
Rogers blickte ihn überrascht an.
«Tabletten? Um einzuschlafen? Davon weiß ich
nichts. Ich bin sicher, sie hat keine genommen.»
Armstrong ging hinüber zum Waschtisch.
Eine Reihe von Flaschen stand darauf. Haarlotion,
Lavendelwasser, Abführmittel, Gurkenglyzerin für
die Hände, ein Mundwasser, Zahnpasta und Wund-
salbe.
Rogers half ihm suchen und zog die Schubladen
der Frisiertoilette auf. Danach nahmen sie sich die
Kommode vor. Aber es gab nichts, was auf Schlaf-
mittel oder Tabletten hinwies.
«Sie hat letzte Nacht nichts genommen, Sir», sagte
Rogers, «außer dem, was Sie ihr gegeben haben…»
II
Als um neun Uhr früh der Gong zum Frühstück er-
tönte, waren alle schon auf und warteten auf Anwei-
sungen.
General MacArthur und der Richter spazierten auf
der Terrasse umher und tauschten ihre Ansichten
über die politische Lage aus.
Vera Claythorne und Philip Lombard waren auf
den höchsten Punkt der Insel, gleich hinter dem
Haus, geklettert. Dort hatten sie William Henry Blore
entdeckt, der auf das Festland starrte.
«Kein Motorboot in Sicht», brummte er. «Danach
halte ich hier Ausschau.»
«Devon ist eine verschlafene Gegend», antwortete
Vera mit einem Lächeln. «Hier braucht alles seine
Zeit.»
Philip sah in eine andere Richtung aufs Meer hi-
naus. Plötzlich fragte er:
«Was halten Sie vom Wetter?»
Blore schaute in den Himmel. «Scheint ganz in
Ordnung.»
Lombard spitzte die Lippen zu einem Pfiff. «Der
Sturm wird losgehen, bevor es Abend ist», sagte er.
«Also Sturm – wie?», brummte Blore.
Von unten klang das Dröhnen des Gongs herauf.
«Frühstück», freute sich Lombard. «Das kann ich
gut gebrauchen.»
Als sie den steilen Abhang hinunterliefen, sagte
Blore zu Lombard mit nachdenklicher Stimme: «Wis-
sen Sie, das schafft mich – warum wollte sich dieser
junge Kerl umbringen? Ich habe die ganze Nacht
drüber gegrübelt.»
Vera lief ein Stück voraus. Lombard war leicht zu-
rückgefallen.
«Haben Sie eine andere Theorie?», fragte er Blore.
«Ich hätte gern Beweise. Vor allem ein Motiv. War
ja nicht so, als ob er arm gewesen wär.»
Emily Brent trat aus der Terrassentür und gesellte
sich zu ihnen.
«Kommt das Boot?», fragte sie.
«Noch nicht», antwortete Vera.
Sie gingen hinein zum Frühstück. Auf der Anrichte
stand eine große Platte mit Eiern und gebratenem
Speck, daneben Tee und Kaffee.
Rogers hielt für sie die Tür auf, dann schloss er sie
von außen.
«Der Mann sieht heute Morgen krank aus», be-
merkte Emily Brent.
Dr. Armstrong, der nah am Fenster stand, räusper-
te sich.
«Sie müssen heute Morgen alle – äh – Pannen ent-
schuldigen», sagte er. «Rogers hat sein Möglichstes
getan, allein für das Frühstück zu sorgen, Mrs. Ro-
gers war – äh – war nicht in der Lage, heute Morgen
weiterzumachen.»
«Was ist los mit der Frau?», fragte Emily Brent
scharf.
«Lassen Sie uns mit dem Frühstück anfangen»,
schlug Dr. Armstrong vor. «Die Eier werden kalt.
Danach gibt es ein paar Dinge, die ich gerne mit Ih-
nen abklären würde.»
Sie verstanden den Wink. Teller wurden gefüllt,
Kaffee und Tee wurde eingeschenkt. Die Mahlzeit
begann.
Gespräche über die Insel waren in gegenseitigem
Einverständnis tabu. Sie plauderten locker über ak-
tuelle Ereignisse. Die Nachrichten aus dem Ausland,
Ereignisse aus der Welt des Sports, das neuerliche
Auftauchen des Ungeheuers von Loch Ness.
Danach, als die Teller abgeräumt waren, rückte Dr.
Armstrong seinen Stuhl ein wenig zurück, räusperte
seine Kehle frei und ergriff das Wort.
«Ich dachte, es wäre das Beste, Sie hätten schon ge-
frühstückt, bevor ich Ihnen eine traurige Nachricht
überbringe. Mrs. Rogers starb im Schlaf.»
Überraschte und geschockte Ausrufe wurden laut.
«Wie furchtbar!», rief Vera. «Zwei Tote auf dieser
Insel, seitdem wir angekommen sind.»
Richter Wargrave sagte mit seiner leisen, deutlichen
Stimme und mit zusammengezogenen Augenbrauen:
«Hm – sehr bemerkenswert – was war die Todesur-
sache?»
Armstrong zuckte die Schultern. «Schwer zu sagen
aus dem Stegreif.»
«Muss es eine Autopsie geben?»
«Ich werde auf keinen Fall einen Totenschein aus-
stellen. Ich weiß ja überhaupt nichts über den Ge-
sundheitszustand der Frau.»
«Sie schien ziemlich nervös zu sein», erinnerte Vera
sich. «Und letzte Nacht hat sie einen Schock erlitten.
Es könnte Herzversagen gewesen sein, nehme ich
an?»
«Ihr Herz hörte zweifellos zu schlagen auf», be-
merkte Dr. Armstrong trocken, «aber was die Ursa-
che dafür war, das ist die Frage.»
Ein Wort entfuhr Miss Brent. Es fiel hart und klar
in die Zuhörergruppe.
«Gewissen!», sagte sie.
Armstrong drehte sich zu ihr um. «Was genau mei-
nen Sie damit, Miss Brent?»
Emily Brent sprach mit verkniffenem Mund:
«Sie haben es alle gehört. Sie wurde beschuldigt,
gemeinsam mit ihrem Ehemann ihre ehemalige Herr-
schaft, eine alte Dame, vorsätzlich getötet zu haben.»
«Und das glauben Sie?»
«Ich denke, dass die Anschuldigung der Wahrheit
entspricht», erwiderte Emily Brent. «Sie haben sie alle
gestern Abend gesehen. Sie ist völlig zusammengeb-
rochen und hat das Bewusstsein verloren. Der
Schock darüber, dass sie mit ihrer Gottlosigkeit
konfrontiert wurde, war zu viel für sie. Sie starb
buchstäblich vor Angst.»
Dr. Armstrong schüttelte zweifelnd den Kopf.
«Es ist eine mögliche Theorie», gab er zu. «Aber
ohne eine genauere Kenntnis ihres Gesundheitszu-
stands lässt sie sich nicht vertreten. Wenn eine Herz-
schwäche vorhanden war –»
«Nennen Sie es ein Werk Gottes», sagte Emily
Brent ruhig. «Wenn Ihnen das lieber ist.»
Alle wirkten schockiert.
«Das treibt die Dinge ein bisschen zu weit, Miss
Brent», schimpfte Blore.
Sie sah ihn mit glänzenden Augen an und reckte
das Kinn. «Sie halten es für unmöglich, dass Gottes
Zorn eine Sünderin ereilt! Ich nicht!»
Der Richter strich über sein Kinn. «Meine sehr ver-
ehrte Dame», murmelte er mit sanfter Ironie in der
Stimme. «Nach meiner Erfahrung mit bösen Taten
überlässt die Vorsehung die Arbeit der Überführung
und Bestrafung uns Sterblichen – und der Vorgang
ist oft genug mit Schwierigkeiten beladen. Es gibt
keine Abkürzungen.»
Emily Brent zuckte mit den Schultern.
Blore fragte scharf. «Was hat sie gestern Abend ge-
gessen oder getrunken, nachdem sie zu Bett gegan-
gen ist?»
«Nichts», erwiderte Armstrong.
«Sie hat nichts zu sich genommen? Keine Tasse
Tee? Kein Glas Wasser? Ich wette mit Ihnen, sie hat
eine Tasse Tee getrunken. Menschen wie sie tun
das.»
«Rogers versichert mir, dass sie nichts zu sich ge-
nommen hat. Überhaupt nichts.»
«Hm», brummte Blore. «Genau das hätte ich von
ihm auch erwartet.»
Sein Tonfall war so bedeutungsschwer, dass der
Arzt ihn musterte.
«Ist das Ihre Meinung?», fragte Philip Lombard.
«Und wenn’s so wäre?», polterte Blore los. «Wir
haben gestern Abend alle die Anschuldigungen ge-
hört. Vielleicht alles Märchen – reine Fantasiepro-
dukte. Vielleicht aber auch nicht. Stellen Sie sich ei-
nen Augenblick vor, sie wären wahr. Rogers und sei-
ne Angetraute hätten die alte Dame über den Jordan
geschickt. Na, wohin führt uns das? Sie haben sich
ganz sicher und glücklich gefühlt, bis –»
Vera unterbrach ihn mit leiser Stimme: «Nein, ich
glaube nicht, dass sich Mrs. Rogers jemals sicher ge-
fühlt hat.»
Blore wirkte verärgert über die Unterbrechung. Ty-
pisch Frau, sagte sein Blick. «Das mag so sein»,
knurrte er. «Wie auch immer, aus Sicht der beiden
besteht für sie im Augenblick keine wirkliche Gefahr.
Und dann plaudert gestern Abend ein unbekannter
Verrückter alles aus. Was passiert? Die Frau hält das
nicht aus – sie bricht zusammen. Denken Sie daran,
wie der Ehemann über sie gebeugt war, als sie wieder
zu sich kam. Das war nicht der besorgte Ehemann!
Niemals im Leben! Er war wie eine Katze, die über
heiße Pflastersteine streift. Er hatte Angst um sein
Leben, Angst, was sie sagen könnte.
Das ist die Situation, über die Sie nachdenken soll-
ten. Die beiden haben einen Mord begangen und
sind damit durchgekommen. Aber was, wenn die
ganze Sache wieder aufgewühlt wird, was passiert
dann? Zehn zu eins, dass die Frau alles verraten wird.
Sie hat nicht die Nerven, das kühl und selbstbewusst
durchzustehen. Sie ist eine lebende Gefahr für ihren
Ehemann. Genau das ist sie. Er hat keine Probleme.
Er wird mit einem ehrlichen Gesicht lügen bis zum
Jüngsten Tag – aber er kann sich ihrer nicht sicher
sein. Und wenn sie zusammenbricht, ist sein Hals in
Gefahr! Also tut er etwas in ihre Teetasse, um sicher-
zugehen, dass sie für immer ihren Mund hält.»
«An ihrem Bett stand keine leere Tasse», sagte
Armstrong langsam, «da stand gar nichts. Ich habe
nachgesehen.»
«Ist doch klar, dass da nichts steht!», schnaubte
Blore. «Das Erste, was er tun würde, nachdem sie
getrunken hat, wäre, die Tasse und die Untertasse
beiseite schaffen und sie ordentlich spülen.»
Es entstand eine Pause. Dann sagte General Ma-
cArthur zweifelnd: «Möglich wär’s. Aber ich kann
mir nicht vorstellen, dass ein Mann seiner Frau so
etwas antut.»
Blore lachte kurz auf.
«Wenn ein Mann Angst um seinen Hals hat, küm-
mert er sich einen Dreck um Gefühle.»
Einen Moment lang war es still. Bevor jemand das ;
Wort ergreifen konnte, öffnete sich die Tür und Ro-
gers trat herein. Er sah von einem zum anderen und
fragte: «Gibt es noch irgendetwas, das ich für Sie tun
könnte?»
Richter Wargrave rutschte unruhig auf seinem
Stuhl hin und her. «Um wie viel Uhr kommt das Mo-
torboot normalerweise hier herüber?», erkundigte er
sich.
«Zwischen sieben und acht, Sir. Manchmal kurz
nach acht. Keine Ahnung, was Fred Narracott heute
Morgen macht. Wenn er krank ist, schickt er seinen
Bruder.»
«Wie spät ist es jetzt?», fragte Philip Lombard.
«Zehn Minuten vor zehn, Sir.»
Lombards Augenbrauen hoben sich. Er nickte
langsam.
Rogers blieb wartend stehen.
General MacArthur sprach plötzlich und mit
Wucht: «Tut mir Leid, die Sache mit Ihrer Frau, Ro-
gers. Der Doktor hat es uns gerade erzählt.»
Rogers senkte den Kopf. «Jawohl, Sir. Danke, Sir.»
Er nahm den leeren Schinkenteller und verließ den
Raum.
Und wieder herrschte Schweigen.
III
Auf der Terrasse sagte Philip Lombard: «Dieses Mo-
torboot –»
Blore sah ihn an und nickte.
«Ich weiß, was Sie denken, Mr. Lombard. Ich habe
mir die gleiche Frage gestellt», gab er zu. «Das Mo-
torboot hätte schon vor gut zwei Stunden hier sein
sollen. Es ist nicht gekommen. Warum?»
«Haben Sie die Antwort gefunden?», wollte Lom-
bard wissen.
«Das ist kein Zufall – so viel kann ich sagen. Es ist
ein Teilchen vom Ganzen. Alles gehört zusammen.»
«Sie glauben, das Boot wird nicht kommen?», fragte
Lombard.
Hinter ihm ertönte eine Stimme – eine gereizte,
ungeduldige Stimme.
«Das Motorboot kommt nicht», sagte sie.
Blore drehte seine breiten Schultern zur Seite und
musterte den Sprecher nachdenklich.
«Sie glauben es also auch nicht, Herr General?»
«Natürlich kommt es nicht», sagte General MacAr-
thur scharf. «Wir rechnen alle mit dem Motorboot,
um von dieser Insel wegzukommen. Darum dreht
sich alles hier. Aber wir werden von dieser Insel nicht
wegkommen… Keiner von uns wird je wegkom-
men… Das ist das Ende – das Ende von allem…»
Er zögerte, dann fuhr er mit seltsam leiser Stimme
fort: «Das ist Frieden – wirklicher Frieden. Ans Ende
zu kommen – und nicht weiter zu müssen… Ja,
Friede…»
Abrupt drehte er sich um und entfernte sich – die
Terrasse entlang, dann schräg den Abhang hinunter
zum Meer und weiter bis zum Ende der Insel, wo
einzelne Felsen weit draußen im Wasser standen.
Er ging ein wenig unsicher, wie ein Mann, der nur
halb bei Bewusstsein war.
«Da geht noch einer, der verrückt ist», knurrte Blo-
re. «Sieht so aus, als ob es mit uns allen so enden
wird.»
«Sie werden nicht so enden, Blore», sagte Philip
Lombard.
Der Exinspektor lachte.
«Es braucht viel, bis ich durchdrehe.» Trocken füg-
te er hinzu: «Und ich nehme auch nicht an, dass Sie
das tun werden, Mr. Lombard.»
Philip Lombard erwiderte: «Ich fühle mich ganz ge-
sund im Moment, danke.»
IV
Dr. Armstrong trat auf die Terrasse. Er blieb unent-
schlossen stehen. Zu seiner Linken standen Blore
und Lombard. Zu seiner Rechten stapfte Wargrave
mit gesenktem Kopf hin und her.
Armstrong zögerte nicht länger und wandte sich
Letzterem zu.
In diesem Augenblick kam Rogers aus dem Haus.
«Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen, Sir?»
Armstrong drehte sich um.
Er war verblüfft von dem, was er sah. Rogers’ Ge-
sicht war grau-grün, und es arbeitete in ihm. Seine
Hände zitterten. Der Kontrast zu seiner noch vor
wenigen Minuten gezeigten Zurückhaltung war so
stark, dass Armstrong völlig erstaunt war.
«Bitte, Sir. Wenn ich mit Ihnen sprechen könnte,
drinnen, Sir.»
Der Arzt machte kehrt und betrat das Haus mit
dem aufgelösten Butler.
«Was ist denn los, Mann? Nehmen Sie sich zusam-
men.»
«Hier herein, Sir. Kommen Sie.»
Er öffnete die Tür zum Esszimmer. Der Doktor
trat ein. Rogers folgte ihm und schloss die Tür hinter
sich.
«Also», fragte Armstrong. «Was ist los?»
Die Muskeln an Rogers’ Hals arbeiteten. Er
schluckte.
«Es passieren Dinge hier, die versteh ich nicht»,
stieß er hervor.
«Dinge? Was für Dinge?», fragte Armstrong scharf.
«Sie denken bestimmt, ich bin verrückt. Sie werden
sagen, das ist nichts. Aber ich hätte gern eine Erklä-
rung. Eine Erklärung. Weil es keinen Sinn macht.»
«Sagen Sie mir, wovon Sie reden, Mann. Sprechen
Sie nicht in Rätseln.»
Rogers schluckte wieder.
«Die kleinen Figuren, Sir. Auf dem Tisch, in der
Mitte. Die kleinen Porzellanfiguren. Das waren zehn.
Ich schwöre, dass es zehn waren.»
«Ja», bestätigte Armstrong. «Zehn. Wir haben sie
gestern beim Dinner alle gezählt.»
Rogers trat näher.
«Das ist es ja, Sir. Gestern Abend, als ich abge-
räumt habe, waren es nur noch neun, Sir. Das ist mir
aufgefallen, und ich fand es komisch. Und dann heu-
te Morgen. Ich hab es nicht bemerkt, als ich fürs
Frühstück gedeckt habe. Ich war durcheinander, völ-
lig durcheinander. Aber jetzt, als ich abräumen wollte
– sehen Sie selbst, Sir, wenn Sie mir nicht glauben.
Es sind nur noch acht. Nur acht. Das macht doch
keinen Sinn, Sir, oder? Nur acht.»
Siebtes Kapitel
N ach dem Frühstück hatte Emily Brent Vera
Claythorne vorgeschlagen, noch einmal zum
höchsten Punkt der Insel zu wandern und
nach dem Boot Ausschau zu halten. Vera hatte zu-
gestimmt.
Der Wind war frischer geworden. Kleine weiße
Schaumkronen schaukelten auf dem Meer. Es waren
keine Fischerboote draußen – und kein Motorboot in
Sicht.
Das eigentliche Dorf Sticklehaven war nicht zu se-
hen, nur der Hügel darüber; eine hervorspringende
Klippe aus rotem Felsen verbarg die kleine Bucht.
Emily Brent sagte: «Der Mann, der uns gestern
hergebracht hat, schien mir ein verlässlicher Mensch.
Es ist wirklich höchst seltsam, warum er sich heute
Morgen so sehr verspätet.»
Vera sprach nicht. Sie kämpfte mit einem aufstei-
genden Gefühl der Panik.
Ärgerlich befahl sie sich: «Du musst ruhig bleiben.
Das ist gar nicht deine Art. Du hattest immer ausge-
zeichnete Nerven.»
Laut sagte sie nach ein oder zwei Minuten: «Ich
wünschte, er würde kommen. Ich – ich will weg von
hier.»
«Ich habe keinerlei Zweifel, dass wir das alle wol-
len», bemerkte Emily Brent trocken.
«Es ist alles so ungewöhnlich», wunderte sich Vera.
«Es scheint keinen – keinen Sinn in all dem zu ge-
ben.»
Die ältere Frau neben ihr sagte lebhaft: «Ich ärgere
mich über mich selbst, dass ich mich so leicht habe
hereinlegen lassen. Der Brief ist wirklich absurd,
wenn man ihn genau betrachtet. Aber ich hatte da-
mals keinerlei Zweifel – überhaupt keinen.»
«Warum auch?», murmelte Vera mechanisch.
«Man nimmt die Dinge viel zu oft als selbstver-
ständlich hin», sagte Emily.
Vera schauderte, sie holte tief Luft.
«Glauben Sie wirklich – was Sie beim Frühstück ge-
sagt haben?»
«Seien Sie ein wenig präziser, meine Liebe. Worauf
genau spielen Sie an?»
«Glauben Sie wirklich, dass Rogers und seine Frau
diese alte Dame umgebracht haben?», fragte sie mit
leiser Stimme.
Emily Brent betrachtete nachdenklich das Meer.
Dann antwortete sie: «Ich bin mir ganz sicher. Was
denken Sie?»
«Ich weiß nicht, was ich denken soll.»
«Es passt alles gut zusammen», stellte Emily Brent
fest. «Die Art, wie die Frau in Ohnmacht gefallen ist.
Und der Mann ließ das Tablett fallen, wenn Sie sich
erinnern. Und dann, wie er darüber gesprochen hat.
Das klang nicht echt. O ja, ich denke, sie haben es
getan.»
«Wie sie aussah –», erinnerte sich Vera. «Von ihrem
eigenen Schatten erschreckt! Ich habe noch nie eine
so verängstigte Frau gesehen… sie muss von der
Sache verfolgt gewesen sein…»
«Ich erinnere mich an einen Spruch, der in meinem
Zimmer hing, als ich noch ein Kind war», murmelte
Miss Brent. «Sei gewiss, deine Sünde fällt auf dich
zurück. Das ist nur zu wahr. Sei gewiss, deine Sünde
fällt auf dich zurück.»
Vera sprang auf.
«Aber Miss Brent – Miss Brent – in diesem Fall –»
«Ja, meine Liebe?»
«Die anderen? Was ist mit den anderen?»
«Ich verstehe Sie nicht ganz.»
«Die ganzen anderen Beschuldigungen – die – die
waren doch unwahr? Aber wenn das mit Rogers
wahr ist –» Sie unterbrach sich, unfähig, Ordnung in
das Chaos ihrer Gedanken zu bringen.
Emily Brents Stirn, die sich verblüfft gerunzelt hat-
te, glättete sich wieder.
«Ah, jetzt verstehe ich Sie. Nun, da ist dieser Herr
Lombard. Er gibt zu, dass er zwanzig Männer ihrem
Tod überlassen hat.»
«Das waren nur Eingeborene», sagte Vera.
Emily Brent entgegnete scharf: «Sie sind trotzdem
unsere Brüder.»
«Unsere Brüder», dachte Vera, «unsere Brüder.
Gleich fange ich an zu lachen. Ich bin hysterisch. Ich
bin nicht mehr ich selbst…»
Emily Brent fuhr nachdenklich fort: «Natürlich
sind einige Anschuldigungen sehr weit hergeholt und
lächerlich. Beispielsweise gegen den Richter, der nur
seine Pflicht getan hat im Rahmen seines Amtes.
Und der ehemalige Scotland-Yard-Mann. Und auch
mein eigener Fall.»
Sie hielt inne und fuhr dann fort: «Natürlich habe
ich unter den gegebenen Umständen gestern Abend
nichts gesagt. Es war kein passendes Diskussions-
thema in Anwesenheit von Gentlemen.»
«Nein?»
Vera hörte mit Interesse zu. Miss Brent fuhr gelas-
sen fort:
«Beatrice Taylor stand in meinen Diensten. Kein
ordentliches Mädchen – wie ich leider zu spät he-
rausfand. Ich habe mich sehr in ihr getäuscht. Sie
hatte gute Manieren und war sauber und willig. Ich
war mit ihr sehr zufrieden. Aber das war alles die
reinste Heuchelei. Sie war ein lockeres Mädchen oh-
ne jede Moral. Widerwärtig! Es dauerte eine Weile,
bis ich herausfand, dass sie ‹in Schwierigkeiten› war,
wie man so sagt.»
Sie hielt inne, ihre feine Nase kräuselte sich in Ekel.
«Es war für mich ein großer Schock. Ihre Eltern war-
en anständige Leute, die sie sehr streng erzogen hat-
ten. Es spricht für sie, dass sie das Verhalten ihrer
Tochter nicht billigten.»
Vera starrte Miss Brent an: «Was geschah dann?»
«Selbstverständlich habe ich sie nicht eine Stunde
länger unter meinem Dach behalten. Niemand wird
von mir sagen können, dass ich die Unmoral billige.»
«Was geschah – mit ihr?», fragte Vera mit leiser
Stimme.
«Die gottlose Kreatur war nicht zufrieden damit,
eine Sünde auf dem Gewissen zu haben», sagte Miss
Brent. «Sie beging eine noch schwerere Sünde. Sie
nahm sich das Leben.»
«Sie brachte sich um?», flüsterte Vera entsetzt.
«Ja, sie warf sich in den Fluss.»
Vera zitterte.
Sie starrte auf das feine, ruhige Profil von Miss
Brent und fragte: «Was haben Sie gefühlt, als Sie er-
fuhren, was sie getan hatte? Tat es Ihnen nicht Leid?
Haben Sie sich keine Vorwürfe gemacht?»
Emily Brent straffte sich: «Ich? Es gab nichts, was
ich mir vorwerfen könnte.»
«Aber wenn Ihre – Härte – sie dazu getrieben hat.»
«Ihr eigenes Verhalten – ihre eigene Sünde – trieb
sie dazu», entgegnete Emily Brent scharf. «Wenn sie
sich wie eine ordentliche, bescheidene junge Frau
verhalten hätte, wäre nichts von all dem geschehen.»
Sie wandte ihr Gesicht Vera zu. Da war kein
Selbstvorwurf, kein Unbehagen in ihren Augen. Sie
waren hart und selbstgerecht. Emily Brent saß auf
dem höchsten Punkt der Insel, eingeschlossen im
Panzer ihrer Tugend.
Die kleine ältliche Jungfer kam Vera keineswegs
mehr komisch vor.
Plötzlich war sie – Furcht erregend.
II
Dr. Armstrong trat aus dem Esszimmer wieder hi-
naus auf die Terrasse.
Der Richter saß jetzt in einem Sessel und sah
gleichmütig aufs Meer hinaus.
Lombard und Blore standen weiter links, sie rauch-
ten, sprachen aber nicht.
Wie schon zuvor, zögerte der Arzt einen Moment.
Sein Blick ruhte prüfend auf Richter Wargrave. Er
wollte sich mit jemandem beraten. Er schätzte den
scharfen, logischen Verstand des Richters. Trotzdem
zögerte er. Richter Wargrave mochte intelligent und
clever sein, aber er war ein älterer Herr. Armstrong
fühlte, dass das, was an diesem entscheidenden
Punkt des Geschehens gebraucht wurde, ein Mann
der Tat war.
Er fasste einen Entschluss.
«Lombard, kann ich Sie einen Moment sprechen?»
Philip schreckte hoch.
«Selbstverständlich.»
Die beiden Männer verließen die Terrasse. Sie
schlenderten den Abhang hinunter zum Wasser. Als
sie außer Hörweite waren, sagte Armstrong: «Ich
muss Sie konsultieren.»
Lombards Augenbrauen hoben sich.
«Mein lieber Freund, ich habe keinerlei medizini-
sche Fachkenntnisse.»
«Nein, nein, ich meine bezüglich der allgemeinen
Situation.»
«Das ist natürlich etwas anderes», sagte Lombard.
«Ganz ehrlich, was halten Sie von der Lage?», fragte
Armstrong.
Lombard überlegte einen Moment lang. Dann sagte
er: «Sie gibt einem zu denken, oder?»
«Was ist Ihre Meinung bezüglich dieser Frau? Tei-
len Sie Blores Theorie?»
Philip paffte Rauch in die Luft.
«Sie ist gut nachvollziehbar», meinte er, «– für sich
betrachtet.»
«Genau.»
Armstrong klang erleichtert. Philip Lombard war
kein Narr.
«Vorausgesetzt, man teilt die Grundannahme», fuhr
Lombard fort, «dass Mr. und Mrs. Rogers ihren
Mord damals erfolgreich vertuschen konnten. Und
warum sollte ihnen das nicht gelungen sein? Was
denken Sie, wie haben sie es gemacht? Die alte Dame
vergiftet?»
«Es könnte noch einfacher gegangen sein», meinte
Armstrong. «Ich habe Rogers heute Morgen gefragt,
woran Miss Brady gelitten hat. Seine Antwort war
aufschlussreich. Ich brauche nicht in die medizini-
schen Details zu gehen, aber bei einer gewissen Art
von Herzschwäche wird Amylnitrit verordnet. Wenn
eine Attacke kommt, wird eine Ampulle dieses Nit-
rits zerbrochen, und es wird inhaliert. Wenn man das
Nitrit nicht verabreichen würde – nun, die Folgen
könnten leicht tödlich sein.»
«So einfach ist das», sagte Philip Lombard nach-
denklich. «Es muss ziemlich verlockend gewesen
sein.»
Der Arzt nickte.
«Ja, keine gezielte Handlung. Kein Arsen besorgen
und verabreichen – nichts Bestimmtes – nur – nichts
tun! Und Rogers eilt durch die Nacht, um einen Arzt
zu holen, und beide fühlen sich sicher, dass niemand
je davon erfahren wird.»
«Und selbst wenn jemand davon erfährt, kann ih-
nen nie etwas nachgewiesen werden», setzte Lom-
bard die Beweisführung fort.
Plötzlich runzelte er die Stirn.
«Natürlich – das erklärt eine Menge.»
«Wie bitte?», fragte Armstrong verwundert.
«Ich meine – das erklärt diese Insel», sagte Lom-
bard. «Es sind alles Verbrechen, die den Tätern nicht
nachgewiesen werden können. Zum Beispiel die Ro-
gers7. Ein anderes Beispiel der alte Wargrave, der
seinen Mord im Rahmen der Gesetze verübte.»
«Sie glauben diese Geschichte?», fragte Armstrong
scharf.
Philip Lombard lächelte.
«Aber ja. Natürlich glaube ich sie. Wargrave ermor-
dete Seton, ermordete ihn so sicher, als wenn er ihm
ein Messer durch die Brust gestoßen hätte! Aber er
war schlau genug, es von der Richterbank aus zu tun
mit seiner Perücke und Robe. Sodass man ihm dieses
kleine Verbrechen normal nicht nachweisen kann.»
Plötzlich fuhr ein Gedanke wie der Blitz durch
Armstrongs Kopf.
«Mord im Krankenhaus. Mord im Operationssaal.
Sicher – ja, sicher wie der Tod!»
«Deshalb –», sagte Armstrong. «Deshalb – Mr.
Owen – deshalb diese Insel!»
Armstrong atmete tief durch.
«Jetzt kommen wir der Sache näher. Was ist der
wahre Grund, uns alle hierher zu bringen?»
«Was denken Sie?», wollte Philip Lombard wissen.
«Lassen Sie uns noch einmal kurz zu dem Tod die-
ser Frau zurückkehren», schlug Armstrong vor.
«Welche möglichen Theorien gibt es? Rogers brachte
sie um, weil er Angst hatte, sie würde alles verraten.
Zweite Möglichkeit: Sie verlor die Nerven und fand
einen Ausweg für sich.»
«Selbstmord, wie?», fragte Philip Lombard.
«Was sagen Sie dazu?»
«Es könnte einer gewesen sein», gab Lombard zu.
«Wenn es Marstons Tod nicht geben würde. Zwei
Selbstmorde innerhalb von zwölf Stunden sind etwas
schwer zu schlucken! Und wenn Sie mir sagen, dass
Anthony Marston, ein junger Stier ohne Nerven und
mit hübsch wenig Hirn, Skrupel bekam, weil er zwei
Kinder niedergemäht hat, und sich deshalb das Le-
ben nimmt – nun, die Vorstellung ist lächerlich! Au-
ßerdem, wie hat er sich das Zeug besorgt? Nach al-
lem, was ich je gehört habe, ist Zyankali nichts, was
man in der Westentasche mit sich herumschleppt.
Aber das ist Ihr Gebiet.»
«Kein vernünftiger Mensch trägt Zyankali mit sich
herum», bestätigte Armstrong. «Das tut höchstens
jemand, der ein Wespennest stilllegen will.»
«Der fleißige Gärtner oder Gutsbesitzer, vielleicht?
Und wieder wäre das nicht Anthony Marston. Es
fällt mir auf, dass dieses Zyankali noch einer Erklä-
rung bedarf. Entweder hatte Anthony Marston vor,
sich umzubringen, bevor er hierher kam, und ist des-
halb gut vorbereitet gekommen – oder – »
Armstrong warf ihm das Wort zurück: «Oder?»
Philip Lombard grinste.
«Warum wollen Sie, dass ich es sage. Wenn es Ih-
nen schon auf der Zunge liegt. Natürlich wurde
Anthony Marston ermordet.»
III
Dr. Armstrong sog die Luft tief ein.
«Und Mrs. Rogers?»
Lombard sprach langsam:
«Ich könnte an Anthonys Selbstmord glauben – mit
Schwierigkeiten –, wenn es Mrs. Rogers nicht gäbe.
Ich könnte an Mrs. Rogers’ Selbstmord glauben –
ohne weiteres –, wenn es nicht Anthony Marston
gäbe. Ich kann glauben, dass Rogers seine Frau aus
dem Weg räumte – wenn es da nicht den unerwarte-
ten Tod von Anthony Marston gäbe. Aber was wir
brauchen, ist eine Theorie, die diese beiden, so rasch
aufeinander folgenden Todesfälle erklärt.»
«Ich kann Ihnen beim Aufbau Ihrer Theorie viel-
leicht behilflich sein», bot Armstrong an.
Und er wiederholte, was Rogers ihm über das Ver-
schwinden der beiden kleinen Porzellanfiguren be-
richtet hatte.
«Ja, die kleinen Porzellan-Neger», sagte Lombard.
«Gestern Abend beim Dinner waren es mit Sicher-
heit noch zehn. Und jetzt sind es acht, sagen Sie?»
Dr. Armstrong zitierte:
«Zehn kleine Negerlein, die zechten in der Scheun’.
Eins verschluckte sich dabei, da waren’s nur noch
neun.
Neun kleine Negerlein, die blieben nachts lang
wach.
Eins schlief dann für immer ein, da waren’s nur
noch acht.»
Die beiden Männer sahen sich an. Philip Lombard
grinste und warf seine Zigarette weg.
«Das passt zu gut, um Zufall zu sein! Anthony
Marston verschluckt sich oder erstickt gestern Abend
nach dem Dinner, und Mutter Rogers verschläft sich
ganz gehörig.»
«Und folglich?», fragte Armstrong.
Lombard ging auf ihn ein.
«Folglich stinkt die Sache zum Himmel Herr X! Mr.
– Owen! U. N. Owen! Mr. Unbekannt. Ein unbe-
kannter Irrer, der frei herumläuft!»
«Ah!» Armstrong seufzte erleichtert auf. «Sie teilen
meine Meinung. Aber sehen Sie auch, wohin uns das
führt? Rogers hat geschworen, dass niemand außer
uns und ihm und seiner Frau auf dieser Insel ist.»
«Rogers irrt sich! Oder Rogers lügt möglicherwei-
se.»
Armstrong schüttelte den Kopf.
«Ich glaube nicht, dass er lügt. Der Mann hat
Angst. Er hat so viel Angst, dass er kaum noch den-
ken kann.»
Philip Lombard nickte.
«Kein Motorboot heute Morgen», sagte er. «Das
passt. Wieder Mr. Owens kleine Arrangements. Die
Insel soll isoliert werden, bis Mr. Owen seinen Job zu
Ende geführt hat.»
Armstrong wurde blass.
«Sie haben Recht – der Mann muss ein entlaufener
Verrückter sein!»
«Es gibt eine Sache, die Mr. Owen nicht bedacht
hat», sagte Philip Lombard mit einem ganz neuen
Ton in der Stimme.
«Und das wäre?»
«Diese Insel ist mehr oder weniger ein kahler Fel-
sen. Die haben wir schnell durchsucht. Wir werden
unseren verehrten Herrn U. N. Owen schon aufstö-
bern.»
«Er wird gefährlich sein», sagte Armstrong erregt.
«Gefährlich? Wer hat Angst vor dem großen bösen
Wolf? Ich werde gefährlich, wenn ich ihn zu packen
kriege!»
Er hielt inne und sagte dann: «Wir sollten Blore mit
einspannen. Er wird im Notfall ein guter Mann sein.
Den Frauen sagen wir am besten nichts. Was die an-
deren angeht, der General ist gaga, denke ich, und
Wargrave ist ein Meister im Nichtstun. Wir drei wer-
den uns um die Sache kümmern.»
Achtes Kapitel
B lore war leicht zu gewinnen. Ihre Argumente
leuchteten ihm sofort ein. «Was Sie da über
die Porzellanfiguren sagen, ist entscheidend.
Das ist verrückt, total verrückt. Aber da ist noch et-
was. Glauben Sie nicht, es könnte Owens Plan sein,
andere die Arbeit für sich machen zu lassen?»
«Das müssen Sie genauer erklären, Blore!»
«Also, nach dem Wirbel gestern Abend wird der
junge Marston nervös und vergiftet sich. Und Ro-
gers, der wird ebenfalls nervös und erledigt seine
Frau. Alles nach U.N.Os Plan.»
Armstrong schüttelte den Kopf. Er hob den Punkt
mit dem Zyankali hervor. Blore gab ihm Recht.
«Ja, das hatte ich ganz vergessen. So was trägt man
nicht mit sich rum, normalerweise. Aber wie kam es
in seinen Drink?»
«Darüber habe ich nachgedacht», sagte Lombard.
«Marston hatte an dem Abend mehrere Drinks. Zwi-
schen der Zeit, wo er den letzten trank, und der Zeit,
wo er den Drink davor leerte, klafft eine Lücke.
Während dieser Zeit stand sein Glas irgendwo auf
einem Tisch herum. Ich meine, bin mir aber nicht
ganz sicher, dass es auf dem kleinen Tisch am Fens-
ter stand. Das Fenster war offen. Jemand hätte das
Zyankali in das Glas geben können.»
«Ohne dass wir alle ihn sehen?», fragte Blore un-
gläubig.
«Wir waren alle – anderweitig beschäftigt», bemerk-
te Lombard trocken.
«Das stimmt», sagte Armstrong langsam. «Wir war-
en alle ungeheurer Verbrechen beschuldigt worden.
Wir sind herumgelaufen, durch den Raum gestreift.
Haben diskutiert, waren unaufmerksam, mit unseren
eigenen Dingen beschäftigt. Ich denke, es hätte so
sein können…»
Blore zog die Schultern hoch.
«Tatsache ist, dass jemand es getan haben muss!
Meine Herren, lassen Sie uns anfangen. Hat jemand
zufällig einen Revolver bei sich? Oder ist das viel-
leicht zu viel erwartet?»
«Ich habe einen», antwortete Lombard und tät-
schelte seine Tasche.
Blores Augen öffneten sich weit, und er fragte in
bemüht beiläufigem Ton: «Tragen Sie den immer bei
sich?»
«Meistens», erwiderte Lombard. «Ich bin schon an
ziemlich gefährlichen Orten gewesen, müssen Sie
wissen.»
«Sie sind bestimmt noch an keinem gefährlicheren
Ort als diesem hier gewesen!», knurrte Blore. «Wenn
sich ein Irrer auf dieser Insel versteckt, hat er garan-
tiert ein ganzes Waffenarsenal bei sich – von einem
Messer oder Dolch ganz zu schweigen.»
Armstrong hustete.
«Sie könnten sich täuschen, Blore. Viele mordlusti-
ge Irre sind ganz ruhige, unauffällige Leute. Ange-
nehme Menschen.»
Blore erwiderte: «Ich glaube nicht, dass dieser zur
freundlichen Sorte gehört, Dr. Armstrong.»
II
Die drei Männer brachen auf zu ihrer Tour um die
Insel.
Das Unternehmen gestaltete sich unerwartet ein-
fach. An der nordwestlichen Seite, zur Küste hin,
fielen die Felsen senkrecht ins Meer ab, ihre Oberflä-
che war glatt.
Auf dem Rest der Insel gab es keine Bäume und
sehr wenig Versteckmöglichkeiten. Die drei Männer
arbeiteten sorgfältig und methodisch, liefen rauf und
runter, vom höchsten Punkt der Insel bis hinunter
zum Wasser. Sie nahmen im Felsen die kleinste Un-
regelmäßigkeit in Augenschein, die zum Eingang ei-
ner Höhle hätte führen können. Aber es gab keine
Höhlen.
Am Wasser entlanglaufend, gelangten sie schließ-
lich dorthin, wo General MacArthur saß und aufs
Meer hinausschaute. Es war sehr friedlich, mit Wel-
len, die über die Felsen schwappten. Der alte Mann
saß sehr aufrecht, die Augen auf den Horizont ge-
richtet.
Er achtete nicht auf den Suchtrupp, der näher kam.
Seine Selbstvergessenheit verursachte zumindest bei
einem von ihnen ein leichtes Unbehagen.
«Das ist nicht normal», dachte Blore bei sich, «sieht
aus, als wäre er in Trance oder so.»
Er räusperte sich und sagte in einem gekünstelten
Plauderton: «Ein friedliches Plätzchen haben Sie sich
gesucht, Sir.»
Der General blickte finster. Er warf einen raschen
Blick über seine Schulter.
«Wir haben so wenig Zeit – so wenig Zeit. Ich
muss wirklich darauf bestehen, dass mich niemand
stört.»
«Wir werden Sie nicht stören», versicherte Blore.
«Wir machen nur so was wie ‘ne Tour über die Insel.
Wir haben uns gefragt, ob sich hier jemand verste-
cken kann, wissen Sie.»
Der General runzelte die Stirn und sagte bestimmt:
«Sie verstehen nicht – Sie verstehen überhaupt nicht.
Bitte, gehen Sie.»
Blore ging. Als er wieder zu den anderen beiden
kam, sagte er: «Er ist verrückt… es bringt nichts, mit
ihm zu reden.»
«Was hat er gesagt?», fragte Lombard neugierig.
Blore zuckte mit den Schultern.
«Etwas in der Art von, es ist zu wenig Zeit und er
will nicht gestört werden.»
Dr. Armstrong runzelte die Stirn:
«Ich frage mich, ob…»
III
Die Durchsuchung der Insel war praktisch abge-
schlossen. Die drei Männer standen am höchsten
Punkt und sahen hinüber zum Festland. Es waren
keine Boote auf dem Wasser. Der Wind frischte auf.
«Keine Fischerboote draußen», sagte Lombard. «Es
wird Sturm geben. Verdammt lästig, dass wir das
Dorf von hier aus nicht sehen können. Sonst könn-
ten wir ihnen ein Zeichen geben oder so etwas.»
«Wir könnten heute Abend ein Signalfeuer ma-
chen», schlug Blore vor.
Lombard sagte mit gerunzelter Stirn: «Das Teufli-
sche daran ist, dass all das vermutlich eingeplant ist.»
«Wie das?»
«Wie soll ich das wissen? Vielleicht ein übler
Scherz. Wir werden hierher gelockt, Signale können
nicht aufgefangen werden und so weiter. Den Leuten
im Dorf hat man bestimmt erzählt, dass es sich um
eine Wette handelt. Oder so eine verrückte Ge-
schichte.»
«Glauben Sie, die Leute schlucken so was?», fragte
Blore zweifelnd.
«Das ist leichter zu schlucken als die Wahrheit!»,
bemerkte Lombard trocken. «Wenn man den Leuten
im Dorf erzählt hätte, die Insel müsste isoliert wer-
den, bis Mr. Unbekannt/Owen in Ruhe alle seine
Gäste ermordet hat – denken Sie, das würden die
glauben?»
«Es gibt Augenblicke, da kann ich es selbst nicht
glauben», gestand Dr. Armstrong. «Und doch – »
Philip Lombards Lippen kräuselten sich verächtlich
und entblößten seine Zähne.
«Und doch – genau das ist es! Sie haben es gerade
gesagt, Doktor!»
Blore starrte nach unten ins Wasser.
«Niemand könnte da hinuntergeklettert sein.
Oder?»
Armstrong schüttelte den Kopf.
«Das bezweifle ich. Es ist zu glatt. Und wo sollte er
sich verstecken?»
«Es könnte ein Loch im Felsen geben», sagte Blore.
«Wenn wir ein Boot hätten, könnten wir um die Insel
rudern.»
«Wenn wir ein Boot hätten, wären wir alle jetzt
schon halb auf dem Festland!», erwiderte Lombard.
«Nur zu wahr.»
Plötzlich sagte Lombard: «Wir können diesen Fel-
sen hier untersuchen. Es gibt nur einen Ort, wo ein
Hohlraum sein könnte – ein klein wenig rechts, da
unten. Wenn Sie ein Seil besorgen, können Sie mich
hinunterlassen zum Nachsehen.»
«Wir sollten das überprüfen», stimmte Blore zu.
«Obwohl es absurd scheint – auf den ersten Blick!
Ich werde sehen, ob ich was finde.»
Er drehte sich um und lief zum Haus.
Lombard sah hinauf zum Himmel. Die Wolken be-
gannen sich zusammenzuballen. Der Wind blies kräf-
tiger.
Er warf einen Seitenblick auf Armstrong.
«Sie sind sehr still, Doktor. Woran denken Sie?»
Armstrong sagte langsam: «Ich habe mich gerade
gefragt, wie verrückt der alte MacArthur wirklich
ist…»
IV
Vera war den Morgen über unruhig gewesen. Sie hat-
te Emily Brent gemieden – aus einer tiefen Abnei-
gung heraus.
Miss Brent hatte ihren Stuhl um die Ecke des Hau-
ses getragen, um aus dem Wind zu sein. Da saß sie
und strickte.
Jedes Mal, wenn Vera an sie dachte, war ihr, als sä-
he sie das bleiche Gesicht einer Ertrunkenen, mit
Seetang, der sich in ihren Haaren verfing… ein Ge-
sicht, das früher einmal hübsch gewesen war – un-
verschämt hübsch vielleicht – und das jetzt jenseits
von Mitleid und Furcht war.
Und Emily Brent saß seelenruhig und selbstgerecht
da und strickte.
Auf der Hauptterrasse saß Richter Wargrave zu-
sammengesunken in seinem Sessel, den Kopf tief
zwischen den hochgezogenen Schultern.
Als Vera ihn anschaute, sah sie einen Mann im
Zeugenstand – einen jungen Mann mit blonden Haa-
ren und blauen Augen und einem verwirrten, veräng-
stigten Gesicht. Edward Seton. Und in ihrer Vorstel-
lung sah sie, wie die alten Hände des Richters das
schwarze Barett auf den Kopf setzten und wie er
begann, das Urteil zu verlesen…
Vera wanderte langsam zum Meer hinunter. Sie lief
bis zum äußersten Ende der Insel, wo ein alter Mann
saß und zum Horizont starrte.
General MacArthur regte sich, als sie näher kam.
(Er wandte den Kopf – eine seltsame Mischung aus
Fragen und Angst lag in seinem Blick. Es erschreckte
sie. Er sah sie eine Weile aufmerksam an.
«Wie seltsam!», dachte sie. «Es ist fast, als ob er
wüsste…»
Er sagte: «Ah, Sie sind das. Sie sind gekommen…»
Vera setzte sich neben ihn.
«Sitzen Sie gerne hier und schauen hinaus aufs
Meer?»
Er nickte leicht mit dem Kopf.
«Ja», bestätigte er. «Es ist angenehm. Es ist, glaube
ich, ein guter Platz, um zu warten.»
«Zu warten?», fragte Vera scharf. «Worauf warten
Sie?»
«Auf das Ende», sagte er sanft. «Aber ich denke,
das wissen Sie, oder? Es ist doch so. Wir warten alle
auf das Ende.»
«Wie meinen Sie das?», fragte sie mit zittriger
Stimme.
«Niemand von uns wird diese Insel wieder verlas-
sen», verkündete General MacArthur. «Das ist der
Plan. Sie wissen das natürlich. Bestimmt. Was Sie
vielleicht nicht verstehen können, ist die Erleichte-
rung!»
«Die Erleichterung?», fragte Vera verblüfft.
«Ja. Natürlich. Sie sind noch sehr jung», sagte er.
«An diesen Punkt sind Sie noch nicht gekommen.
Aber sie kommt, bestimmt. Die Erlösung, wenn Sie
wissen, Sie haben mit all dem abgeschlossen – Sie
müssen die Last nicht länger tragen. Eines Tages
werden Sie das Gleiche fühlen…»
Vera antwortete mit rauer Stimme: «Ich verstehe
Sie nicht.»
Ihre Finger verkrampften sich. Plötzlich überfiel sie
die Angst. Angst vor diesem ruhigen, alten Soldaten.
«Wissen Sie, ich habe Leslie geliebt. Sehr ge-
liebt…», sagte er nachdenklich.
«War Leslie Ihre Frau?», fragte Vera.
«Ja, meine Ehefrau… Ich habe sie sehr geliebt –
und ich war stolz auf sie. Sie war so hübsch und so
fröhlich.»
Er war einen Moment lang still, dann fuhr er fort:
«Ja, ich habe Leslie geliebt. Deshalb habe ich es ge-
tan.»
«Sie meinen –», fragte Vera und verstummte.
General MacArthur nickte leicht mit dem Kopf.
«Es führt zu nichts, jetzt noch zu leugnen – nicht,
wenn wir alle sterben werden. Ich habe Richmond in
den Tod geschickt. Auf eine Art war es Mord. Selt-
sam. Ich, ein Mörder – ich bin immer so ein geset-
zestreuer Mensch gewesen! Aber damals habe ich das
nicht so gesehen. Ich hatte keine Bedenken. ‹Ge-
schieht ihm recht, verdammt noch mal› – das habe
ich damals gedacht. Aber hinterher – »
Mit harter Stimme fragte Vera: «Was war hinter-
her?»
Er schüttelte sacht den Kopf und sah verwirrt und
ein wenig gequält aus.
«Ich weiß nicht. Ich – weiß nicht. Es war alles an-
ders, verstehen Sie. Ich weiß nicht, ob Leslie je etwas
vermutet hat – ich glaube nicht. Aber wissen Sie, ich
habe mich mit ihr nicht mehr ausgekannt. Sie war
weit weggegangen, dorthin, wo ich sie nicht erreichen
konnte. Und dann starb sie – und ich war allein…»
«Allein», wiederholte Vera. «Allein», schallte das
Echo ihrer Stimme vom Felsen zu ihr zurück.
«Sie werden ebenfalls froh sein, wenn das Ende
kommt», sagte General MacArthur.
Vera stand auf.
«Keine Ahnung, wovon Sie reden!»
«Ich weiß, mein Kind», sagte er. «Ich weiß…»
«Nein, das tun Sie nicht. Sie verstehen überhaupt
nichts…»
General MacArthur sah wieder auf das Meer hi-
naus. Es war, als hätte er vergessen, dass sie hinter
ihm stand.
Sehr sanft und sehr leise sagte er:
«Leslie…?»
Als Blore mit dem aufgerollten Seil über dem Arm
aus dem Haus zurückkehrte, fand er Armstrong, wo
er ihn verlassen hatte. Er starrte in die Tiefe.
«Wo ist Mr. Lombard?», fragte Blore atemlos.
«Weg», meinte Armstrong locker. «Wollte die eine
oder andere Theorie testen. Er muss jeden Moment
wieder auftauchen. Hören Sie, Blore, langsam mache
ich mir doch Sorgen.»
«Ich würde sagen, wir machen uns alle Sorgen.»
Der Arzt winkte ungeduldig ab.
«Aber ja – aber ja. Das meine ich nicht. Ich denke
an den alten MacArthur.»
«Was ist mit ihm?»
«Was wir suchen, ist ein Verrückter. Wie wär’s mit
MacArthur?», fragte Dr. Armstrong grimmig.
«Sie halten ihn für einen Mörder?», fragte Blore un-
gläubig.
«Das will ich nicht gesagt haben», schränkte
Armstrong ein. «Keineswegs. Aber natürlich bin ich
kein Spezialist für Geisteskrankheiten. Und unter
diesem Aspekt habe ich ihn noch nicht betrachtet.
Ich habe mich noch nicht einmal mit ihm unterhal-
ten.»
«Gaga, ja!», räumte Blore ein. «Aber ich würde nicht
sagen…»
Armstrong unterbrach ihn. Er war sichtlich darum
bemüht, die Fassung zu bewahren:
«Sie haben vermutlich Recht! Aber verdammt, es
muss doch jemanden geben, der sich auf dieser Insel
versteckt! Ah, da kommt Lombard.»
Sorgfältig knoteten sie das Seil um ihn fest.
«Ich pass schon auf mich auf», sagte Lombard.
«Achten Sie nur auf einen plötzlichen Zug am Seil.»
Nachdem sie gemeinsam eine Weile Lombards Ab-
stieg beobachtet hatten, bemerkte Blore:
«Er klettert wie eine Katze, finden Sie nicht?»
In seiner Stimme schwang ein seltsamer Unterton
mit.
Armstrong erwiderte: «Ich würde vermuten, dass er
seinerzeit mehr als einmal bergsteigen war.»
«Vielleicht.»
Einen Moment lang war es still – bis der Exinspek-
tor brummte: «Komische Sache, diese Höhle. Wissen
Sie, was ich glaube?»
«Was?»
«Er ist nicht ganz echt!»
«In welcher Hinsicht?», fragte Armstrong skeptisch.
«Nur so ein Gefühl», knurrte Blore. «Ich würde ihm
nicht einen Zentimeter über den Weg trauen.»
Dr. Armstrong sagte: «Ich vermute, sein Leben war
ganz schön abenteuerlich.»
Blore erwiderte: «Ich wette, dass einige seiner
Abenteuer unter der Decke gehalten werden muss-
ten.» Er hielt kurz inne und fuhr fort. «Haben Sie
zufällig einen Revolver mitgebracht?»
Armstrong starrte ihn an.
«Ich? Großer Gott, nein. Warum sollte ich?»
«Und warum hat Mr. Lombard das getan?», fragte
Blore.
«Ich vermute – aus Gewohnheit», antwortete
Armstrong verunsichert.
Blore schnaubte.
Plötzlich straffte sich das Seil. Für eine Weile hat-
ten sie alle Hände voll zu tun. Als die Anstrengung
nachließ, meinte Blore:
«Es gibt solche und solche Gewohnheiten! Mr.
Lombard nimmt an die abgelegensten Orte einen
Revolver mit, so weit, so gut, und einen Gaskocher
und einen Schlafsack und einen Vorrat an Insekten-
pulver, denk ich mal. Aber Gewohnheit würde ihn
nicht veranlassen, die ganze Ausrüstung hierher zu
bringen! Nur in Büchern tragen die Leute Revolver
mit sich herum, als wäre es die natürlichste Sache der
Welt.»
Dr. Armstrong schüttelte verwirrt den Kopf.
Sie beugten sich vornüber und beobachteten Lom-
bard. Seine Suche war sorgfältig, und sie konnten auf
Anhieb sehen, dass sie vergebens war. Jetzt kam er
über den Rand der Klippe. Er wischte sich den
Schweiß von der Stirn.
«Also», sagte er. «Wir kommen der Sache näher. Er
ist entweder im Haus oder nirgendwo.»
VI
Das Haus war schnell durchsucht. Sie durchkämmten
zuerst die wenigen Außengebäude und nahmen sich
dann das Hauptgebäude vor. Der Zollstock von Mrs.
Rogers, den sie in der Küchentischschublade fanden,
half ihnen dabei. Aber es gab keine geheimen Kam-
mern, deren Existenz nicht zu erklären war. Alles
war übersichtlich und klar, ein modernes Gebäude
ohne Verstecke. Sie gingen zuerst durch das Erdge-
schoss. Als sie zu der Etage hinaufstiegen, wo die
Schlafzimmer waren, sahen sie durch das Fenster des
Treppenabsatzes Rogers, der ein Tablett mit Cock-
tails auf die Terrasse trug.
«Eine wundervolle Kreatur, der gute Diener», be-
merkte Philip Lombard leichthin. «Macht weiter mit
unerschütterlicher Haltung.»
Armstrong sagte anerkennend: «Rogers ist ein
erstklassiger Butler, das kann man nicht anders sa-
gen!»
«Und seine Frau war eine erstklassige Köchin»,
schwärmte Blore. «Dieses Dinner – gestern
Abend…»
Sie betraten das erste Zimmer.
Fünf Minuten später standen sie wieder auf dem
Treppenabsatz. Niemand, der sich versteckte – kein
mögliches Versteck.
«Da ist eine kleine Treppe», rief Blore.
«Sie führt zu den Räumen des Personals», erklärte
Dr. Armstrong.
«Unter dem Dach muss es einen Raum geben»,
vermutete Blore. «Für Zisternen, den Wassertank
und Ähnliches. Es ist unsere beste Chance – und die
einzige!»
Und dann, wie sie so dastanden, hörten sie plötz-
lich Geräusche von oben. Leise, flüchtige Schritte
direkt über ihren Köpfen.
Sie hörten sie alle. Armstrong griff nach Blores
Arm. Lombard hob warnend den Finger.
«Still! – Hören Sie!»
Da war es wieder – jemand bewegte sich leicht,
flüchtig über ihren Köpfen.
«Jetzt ist er im Schlafzimmer», flüsterte Armstrong.
«Da, wo Mrs. Rogers liegt.»
«Natürlich!», flüsterte Blore zurück. «Das beste
Versteck von allen. Da geht niemand hin. Los jetzt –
so leise wie möglich.»
Sie schlichen vorsichtig die Treppe hinauf.
Auf dem kleinen Absatz vor der Tür des Schlaf-
zimmers machten sie Halt. Ja, es war jemand im
Raum. Von drinnen hörte man ein feines Knacken.
«Jetzt», flüsterte Blore.
Er warf die Tür auf und preschte hinein, die ande-
ren beiden dicht hinter ihm.
Dann blieben alle drei wie angewurzelt stehen.
Rogers stand im Zimmer, seine Arme voll gepackt
mit Kleidungsstücken.
VII
Blore fasste sich als Erster:
«‘tschuldigung – äh – Rogers. Wir hörten jemand
hier herumlaufen und dachten – also – »
Er hielt inne.
«Es tut mir Leid, meine Herren», sagte Rogers. «Ich
war gerade dabei, meine Sachen zu holen. Sie haben
sicher nichts dagegen, dass ich eines der leeren Gäs-
tezimmer auf der unteren Etage beziehe? Das kleins-
te Zimmer.»
Er sprach zu Armstrong gewandt, und Armstrong
erwiderte:
«Selbstverständlich. Selbstverständlich. Machen Sie
nur.»
Er vermied es, auf den Körper zu schauen, der mit
einem Laken zugedeckt auf dem Bett lag.
«Vielen Dank, Sir», sagte Rogers.
Mit seinen Sachen auf dem Arm verließ er das
Zimmer und nahm die Treppe zum unteren Stock-
werk.
Armstrong ging zum Bett und hob das Laken. Er
sah auf das friedliche Gesicht der toten Frau hinun-
ter. Jetzt stand keine Furcht mehr darin. Nur Leere.
«Ich wünschte, ich hätte mein Labor hier», murmel-
te Armstrong. «Ich wüsste zu gern, welches Mittel es
war.»
Dann wandte er sich an die anderen beiden.
«Lassen Sie uns die Sache zu Ende bringen. Ich ha-
be im Gefühl, dass wir nichts finden werden.»
Blore kämpfte mit den Riegeln einer kleinen Luke.
«Dieser Rogers bewegt sich verdammt leise», knurr-
te er. «Vor einer Minute haben wir ihn noch im Gar-
ten gesehen. Niemand hat ihn heraufkommen ge-
hört.»
«Deshalb haben wir wohl gedacht, da oben müsste
ein Fremder herumlaufen», meinte Lombard.
Blore entschwand in einen dunklen höhlenartigen
Gang. Lombard zog eine Taschenlampe hervor und
folgte ihm.
Fünf Minuten später standen drei Männer auf dem
oberen Treppenabsatz und sahen einander an. Sie
waren schmutzig und mit Spinnweben bedeckt. Ihre
Gesichter sahen grimmig aus.
Es gab nur acht Menschen auf der Insel – sie
selbst.
Neuntes Kapitel
L ombard sagte langsam: «Wir haben uns geirrt.
Auf der ganzen Linie! Haben uns in einen
Albtraum aus Aberglauben und Wahnsinn
hineingesteigert, und alles nur, weil zwei Todesfälle
gleichzeitig eingetreten sind!»
«Trotzdem stimmt da was nicht», widersprach
Armstrong. «Zum Teufel, ich bin Arzt, ich kenne
mich mit Selbstmord aus. Anthony Marston war
nicht der Typ dafür.»
«Könnte es nicht doch ein Unfall gewesen sein?»,
fragte Lombard unsicher.
«Verdammt komische Art von Unfall», schnaubte
Blore.
Es war still, bis Blore fortfuhr: «Und was ist mit der
Frau?»
«Mrs. Rogers?»
«Ja. Es wäre doch möglich, dass das ein Unfall ge-
wesen ist.»
«Ein Unfall? Was für einer denn?», wollte Philip
Lombard wissen.
Blore wirkte etwas verlegen. Sein rotes Gesicht
glühte. Es platzte aus ihm heraus:
«Sie haben ihr doch Betäubungsmittel gegeben,
Doktor, oder etwa nicht?»
Armstrong starrte ihn an.
«Betäubungsmittel? Was wollen Sie damit sagen?»
«Gestern Abend. Sie haben selbst gesagt, dass Sie
ihr was zum Schlafen gegeben haben.»
«Ja, natürlich. Ein harmloses Beruhigungsmittel.»
«Was war es genau?»
«Ich habe ihr eine schwache Dosis Trional gegeben,
ein völlig harmloses Mittel.»
Blores Gesicht wurde noch röter.
«Nun mal Klartext! Sie haben ihr nicht zufällig eine
Überdosis verpasst?»
«Was wollen Sie damit sagen?», fragte Dr.
Armstrong wütend.
«Es wäre doch möglich, dass Sie einen Fehler ge-
macht haben. Soll vorkommen, so was.»
«Ich habe nichts dergleichen getan», sagte
Armstrong scharf. «Diese Unterstellung ist lächer-
lich.»
Er hielt inne und fügte dann in kaltem, beißendem
Ton hinzu: «Oder wollen Sie andeuten, ich hätte ihr
absichtlich eine Überdosis gegeben?»
«Hören Sie auf. Beide», griff Philip Lombard ein.
«Wir müssen kühlen Kopf bewahren. Wir sollten
nicht anfangen, uns gegenseitig zu beschuldigen.»
«Ich habe nur gesagt, dass dem Doktor vielleicht
ein Fehler passiert ist», knurrte Blore.
Dr. Armstrong lächelte bemüht und entblößte die
Zähne. «Ärzte können es sich nicht leisten, solche
Fehler zu machen, mein Lieber.»
«Es wäre nicht Ihr Erster», konterte Blore, «wenn
man der Schallplatte glauben darf.»
Armstrong wurde blass.
«Warum werden Sie so ausfallend, Blore?», fragte
Philip Lombard ärgerlich. «Wir sitzen alle im selben
Boot. Wir müssen uns zusammenreißen! Was ist ei-
gentlich mit Ihrem schmutzigen kleinen Meineid?»
Mit geballten Fäusten ging Blore einen Schritt auf
ihn zu. «Das war kein Meineid! Eine miese Lüge ist
das! Sie können mir das Wort verbieten, Mr. Lom-
bard, aber es gibt Dinge, die ich wissen will – und
eins davon betrifft Sie!»
Lombard zog die Brauen hoch.
«Mich?»
«Jawohl! Ich will wissen, warum Sie zu einem klei-
nen geselligen Treffen einen Revolver mitgebracht
haben.»
«Das wollen Sie wirklich wissen?»
«Jawohl, das will ich wissen, Mr. Lombard.»
Lombards Antwort kam unerwartet: «Blore, Sie
sind nicht halb so dumm, wie Sie aussehen.»
«Schon möglich! Was ist mit dem Revolver?»
Lombard lächelte.
«Ich habe ihn eingesteckt, weil ich dachte, es könn-
te Ärger geben.»
Misstrauisch knurrte Blore: «Das haben Sie uns ge-
stern Abend nicht erzählt.»
Lombard schüttelte den Kopf.
«Wollten Sie uns das unterschlagen?», bohrte Blore
weiter.
«Wenn Sie so wollen, ja.»
«Jetzt spucken Sie’s schon aus.»
«Ich ließ Sie alle in dem Glauben, ich wäre auf die
gleiche Weise hierher eingeladen worden wie die
meisten anderen. Das stimmt nicht ganz. In Wirk-
lichkeit war es so, dass ich von jemand angesprochen
wurde – von einem gewissen Morris. Er bot mir
hundert Guineas dafür, dass ich hierher komme und
die Augen offen halte. Sagte, ich hätte den Ruf, der
richtige Mann für eine brenzlige Situation zu sein.»
«Und?», fragte Blore ungeduldig.
«Das ist schon alles», schloss Lombard mit einem
Grinsen.
«Aber er hat Ihnen doch sicher noch mehr er-
zählt?», meinte Dr. Armstrong.
«Leider nein. Klappte zu wie eine Auster. ‹Machen
Sie’s oder lassen Sie’s›, das waren seine Worte. Ich
war knapp bei Kasse. Ich hab’s gemacht.»
Blore war noch nicht überzeugt.
«Warum haben Sie uns all das nicht gestern Abend
erzählt?»
«Mein lieber Blore», Lombards Schulterzucken
sprach Bände, «woher sollte ich denn wissen, ob die
Ereignisse gestern Abend nicht genau die waren, um
die ich mich kümmern sollte? Also blieb ich in De-
ckung und erzählte eine unverfängliche Geschichte.»
Dr. Armstrong folgerte messerscharf. «Aber jetzt –
jetzt denken Sie anders?»
Lombards Züge verdüsterten sich und wurden hart.
«Ja. Ich weiß jetzt, dass ich im gleichen Boot wie
Sie sitze. Die hundert Guineas waren nur Mr. Owens
kleiner Köder, um mich in die Falle zu locken, genau
wie Sie.»
Nachdenklich fuhr er fort:
«Denn wir sitzen in einer Falle – darauf schwöre
ich jeden Eid! Der Tod von Mrs. Rogers! Der von
Tony Marston. Die Figuren, die vom Tisch ver-
schwinden! O ja, Mr. Owens Handschrift ist klar zu
erkennen – aber wo, zum Teufel, steckt Mr. Owen
selbst?»
Unten ertönte feierlich der Gong zum Mittagessen.
II
Rogers stand neben der Tür zum Esszimmer. Als die
drei Männer die Treppe herunterkamen, machte er
ein, zwei Schritte auf sie zu und sagte mit einer lei-
sen, besorgten Stimme: «Ich hoffe, Sie sind mit dem
Mittagessen zufrieden. Es gibt gekochten Schinken
und kalte Zunge und dazu Pellkartoffeln. Außerdem
haben wir noch Käse mit Kräckern und Obst aus der
Dose.»
«Klingt gut», meinte Lombard. «Die Vorräte rei-
chen also?»
«Wir haben große Lebensmittelbestände – alles in
Dosen. Die Speisekammer ist ausgezeichnet be-
stückt. Eine absolute Notwendigkeit, Sir, würde ich
sagen, auf einer Insel, wo man unter Umständen ta-
gelang vom Festland abgeschnitten ist.»
Lombard nickte.
Rogers folgte den dreien ins Esszimmer und mur-
melte:
«Ich mache mir Sorgen, Sir. Fred Narracott ist heu-
te nicht mit seinem Boot rübergekommen. Das ist
heute ganz besonders unglücklich, könnte man sa-
gen.»
«Ja», stimme Lombard zu. «‹Ganz besonders un-
glücklich› trifft es sehr gut.»
Miss Brent kam ins Zimmer. Ein Wollknäuel war
ihr he runtergefallen, und sie wickelte es sorgfältig
wieder auf. Dann setzte sie sich auf ihren Platz am
Tisch.
«Das Wetter wechselt», bemerkte sie. «Der Wind ist
ziemlich stark, und die Wellen haben Schaumkro-
nen.»
Gemessenen Schrittes betrat Richter Wargrave den
Raum. Mit schnellen Blicken, die aus Augen unter
buschigen Brauen hervorschossen, musterte er die im
Esszimmer Versammelten.
«Sie hatten einen bewegten Vormittag», stellte er
fest.
In seiner Stimme schwang ein boshaftes Vergnügen
mit.
Außer Atem hastete Vera Claythorne ins Zimmer.
«Sie haben hoffentlich nicht auf mich gewartet»,
sagte sie schnell. «Komme ich zu spät?»
«Sie sind nicht die Letzte», klärte Emily Brent sie
auf. «Der General ist auch noch nicht hier.»
Sie setzten sich um den Tisch.
«Würden Sie bitte anfangen, Madam», forderte Ro-
gers Miss Brent auf. «Oder wollen Sie noch warten?»
«General MacArthur sitzt unten am Meer», erzählte
Vera. «Ich glaube nicht, dass er den Gong dort hören
kann» – sie zögerte einen Moment –, «er ist heute
etwas verwirrt, glaube ich.»
«Ich gehe hinunter», schlug Rogers vor, «und sage
ihm, dass das Mittagessen fertig ist.»
«Das mache ich.» Dr. Armstrong sprang auf. «Fan-
gen Sie inzwischen mit dem Essen an.»
Er verließ den Raum. Hinter sich hörte er Rogers’
Stimme:
«Kalte Zunge oder kalten Schinken, Madam?»
III
Den fünf Menschen am Tisch fiel es sichtlich
schwer, Konversation zu machen. Draußen kamen
immer wieder heftige Windböen auf und legten sich
rasch wieder.
Vera fröstelte. «Da zieht ein Sturm auf», sagte sie.
Blore leistete seinen Beitrag zur Unterhaltung in lo-
ckerem Plauderton:
«Gestern, im Zug von Plymouth, war so ein alter
Kerl, der hat die ganze Zeit gesagt, ‹da braut sich was
zusammen›. Einfach irre, wie diese alten Seebären
sich mit dem Wetter auskennen.»
Rogers lief um den Tisch und sammelte die benutz-
ten Teller ein. Plötzlich blieb er mit den Tellern in
der Hand stehen.
Mit seltsam ängstlicher Stimme sagte er:
«Da kommt jemand angerannt…»
Sie konnten es alle hören – Füße, die über die Ter-
rasse rannten.
In diesem Augenblick wussten sie es – wussten es,
ohne dass man es ihnen sagte…
Wie auf Verabredung sprangen alle auf. Sie standen
da und starrten auf die Tür.
Dr. Armstrong erschien, völlig außer Atem.
Er keuchte: «General MacArthur –»
«Tot!» Das Wort explodierte in Veras Mund.
«Ja, er ist tot…»
Es entstand eine Pause – eine lange Pause.
Sieben Menschen sahen einander an und wussten
nicht, was sie sagen sollten.
IV
Der Sturm brach los, als der Leichnam des alten
Mannes durch die Haustür hereingetragen wurde.
Die anderen standen in der Eingangshalle.
In diesem Augenblick fiel zischend und tosend der
Regen nieder. Als Blore und Armstrong mit ihrer
Last die Treppe hinaufstiegen, drehte sich Vera Clay-
thorne hastig um und lief in das leere Esszimmer. Es
war so, wie sie es verlassen hatten. Der Nachtisch
stand unberührt auf der Anrichte.
Vera trat zum Tisch. Dort stand sie immer noch,
als Rogers leise ins Zimmer trat.
Er fuhr zusammen, als er sie sah.
«Sie, Miss! Ich – ich wollte nur nachsehen…»
Eine Frage stand in seinen Augen.
«Sehen Sie ruhig nach, Rogers!» Ihre Stimme war so
laut und heiser, dass sie selbst erschrak. «Sie haben ja
Recht. Es sind nur noch sieben…!»
General MacArthur war auf sein Bett gelegt worden.
Nach einer abschließenden Untersuchung verließ
Dr. Armstrong den Raum und ging nach unten. Er
fand die anderen im Salon versammelt.
Miss Brent strickte. Vera Claythorne stand am
Fenster und starrte auf den prasselnden Regen drau-
ßen. Blore saß breitbeinig in einem Sessel, die Hände
auf den Knien. Lombard lief ruhelos auf und ab. Am
anderen Ende des Raumes saß Richter Wargrave in
einem Ohrensessel, die Augen halb geschlossen. Sie
öffneten sich, als der Arzt das Zimmer betrat.
«Nun, Herr Doktor?», fragte er mit durchdringen-
der Stimme.
Armstrong war kreidebleich:
«Kein Herzversagen», berichtete er. «Nichts derg-
leichen. MacArthur wurde mit einem Schlagstock
oder einem ähnlichen Gerät der Hinterkopf einge-
schlagen.»
In das entstehende Raunen tönte erneut die klare
Stimme des Richters:
«Haben Sie die Tatwaffe gefunden?»
«Nein.»
«Trotzdem sind Sie sich Ihrer Sache sicher?»
«Vollkommen sicher.»
Mit ruhiger Stimme sagte der Richter:
«Jetzt wissen wir genau, woran wir sind.»
Es bestand kein Zweifel darüber, wer in dieser Si-
tuation das Sagen hatte. Am Vormittag hatte War-
grave noch zusammengesunken in seinem Sessel auf
der Terrasse gesessen und sich von jeglicher Aktivität
fern gehalten. Jetzt übernahm er das Kommando mit
einer Selbstverständlichkeit, wie man sie durch jahre-
lange Erfahrung in einer Führungsposition gewinnt.
Er war zweifellos der Vorsitzende dieses Gerichts.
Richter Wargrave räusperte sich und sprach weiter.
«Als ich heute Morgen auf der Terrasse saß, meine
Herren, wurde ich Zeuge Ihrer Aktivitäten, die zwei-
fellos einen einzigen Zweck verfolgten: Sie haben die
Insel nach dem unbekannten Mörder durchsucht.»
«Völlig richtig, Sir», bestätigte Philip Lombard.
Der Richter fuhr fort:
«Sie waren ohne jeden Zweifel zu derselben Er-
kenntnis gelangt wie ich – dass nämlich der Tod von
Anthony Marston und Mrs. Rogers weder zufällig
noch selbst verschuldet war. Und zweifellos erkann-
ten Sie daraufhin die Absicht, mit der uns Mr. Owen
auf diese Insel lockte.»
«Er ist ein Verrückter! Ein Irrer!», rief Blore heiser.
Der Richter hustete.
«Ja, das ist er gewiss. Aber das tut nichts zur Sache.
Unsere wichtigste Aufgabe ist es jetzt – unser Leben
zu retten.»
Armstrong unterbrach ihn mit zittriger Stimme.
«Ich sage Ihnen, es gibt niemanden auf dieser Insel.
Niemanden!»
Der Richter strich sich über das Kinn.
«In Ihrem Sinne gibt es niemanden, nein», sagte er
sanft. «Zu diesem Ergebnis bin ich schon heute
Morgen gekommen. Ich hätte Ihnen sagen können,
dass Ihre Suche vergeblich sein würde. Dennoch bin
ich fest davon überzeugt, dass ‹Mr. Owen› oder ‹Mr.
Unbekannt› – um ihn bei seinem selbstgewählten
Namen zu nennen – sich tatsächlich auf dieser Insel
aufhält. Und zwar ganz sicher. Angesichts des Plans,
mit dem wir es hier zu tun haben – und der nichts
mehr und nichts weniger vorsieht, als über Menschen
Gericht zu halten, deren Verbrechen das Gesetz
nicht erreichen kann –, gibt es nur eine Möglichkeit,
wie dieser Plan ausgeführt werden könnte. Mr. Owen
kann nur auf eine einzige Weise auf diese Insel ge-
langt sein. Es steht zweifelsfrei fest: Mr. Owen ist
einer von uns…»
VI
«O nein, nein, nein…»
Wie ein Stöhnen brach es aus Vera hervor.
Der Richter sah sie scharf an.
«Mein liebes Fräulein», sagte er. «Wir müssen den
Tatsachen ins Auge sehen. Wir befinden uns alle in
großer Gefahr. Einer von uns ist U. N. Owen, und
wir wissen nicht, wer. Von den zehn Personen, die
auf diese Insel gekommen sind, scheiden drei als
mögliche Täter aus. Anthony Marston, Mrs. Rogers
und General MacArthur sind über jeden Verdacht
erhaben! Bleiben noch wir sieben. Von diesen sieben
ist einer, wenn ich so sagen darf, ein ‹falsches› Neger-
lein.»
Er hielt inne und musterte die Runde.
«Sind wir uns in diesem Punkte einig?»
«Es klingt völlig absurd», erwiderte Armstrong.
«Aber ich glaube, Sie haben Recht.»
«Ganz ohne jeden Zweifel», brummte Blore. «Und
wenn Sie mich fragen, ich habe da auch schon eine
Idee –»
Eine schnelle Handbewegung des Richters unterb-
rach ihn.
«Dazu kommen wir noch.» Ruhig sprach er weiter:
«Jetzt sollten wir uns erst einmal über die Fakten ei-
nig sein.»
Emily Brent strickte immer noch.
«Ihre Argumentation scheint logisch», sagte sie.
«Ich stimme Ihnen zu: Einer von uns muss vom
Teufel besessen sein.»
«Ich kann es nicht glauben», murmelte Vera. «Ich
kann einfach nicht…»
«Und Sie, Lombard?», fragte der Richter.
«Ich bin Ihrer Meinung, Sir. Völlig.»
Zufrieden nickte der Richter.
«Lassen Sie uns nun das Beweismaterial sondieren.
Am Anfang sollten wir uns folgende Frage stellen:
Haben wir Grund, eine spezielle Person zu verdäch-
tigen? Mr. Blore, ich glaube, Sie wollten dazu etwas
sagen.»
Blore holte tief Luft: «Lombard hat einen Revol-
ver», platzte er heraus. «Gestern Abend hat er nicht
die Wahrheit gesagt. Das gibt er selbst zu.»
Philip Lombard lächelte spöttisch. «Sieht so aus, als
müsste ich alles noch einmal erklären.»
Das tat er dann auch. Knapp und präzise erzählte
er seine Geschichte.
«Und welchen Beweis dafür haben wir?», schnaubte
Blore. «Es gibt nichts, was Ihre Geschichte bestätigt.»
Der Richter hustete.
«Unglücklicherweise sind wir alle in der gleichen Si-
tuation. Wir können nur auf unser eigenes Wort ver-
trauen.»
Er beugte sich vor.
«Sie haben alle immer noch nicht begriffen, in
welch seltsamer Lage wir uns befinden. Nach mei-
nem Dafürhalten können wir nur auf eine einzige Art
vorgehen. Ist jemand unter uns, den wir auf Grund
der uns vorliegenden Beweise von jeglichem Ver-
dacht freisprechen könnten?»
Sofort meldete sich Dr. Armstrong zu Wort.
«Ich bin ein bekannter Arzt. Die bloße Vorstellung,
ich stünde im Verdacht…»
Wieder unterbrach die Handbewegung des Richters
einen Redner, bevor er seine Ausführungen beendet
hatte. Richter Wargrave sagte mit seiner leisen, klaren
Stimme:
«Auch ich bin eine bekannte Persönlichkeit! Aber,
mein sehr geehrter Herr, das beweist gar nichts!
Auch Ärzte können dem Wahnsinn anheim fallen.
Es gibt Richter, die verrückt geworden sind. Und», er
schaute zu Blore hinüber, «auch Polizisten wurden
schon wahnsinnig!»
«Wie dem auch sei», warf Lombard ein, «die Frauen
nehmen Sie doch wohl davon aus.»
Der Richter zog die Brauen hoch. Seine Stimme
hatte jenen ätzenden Klang, den man bei Gericht so
gut von ihm kannte, als er fragte:
«Verstehe ich Sie richtig? Wollen Sie behaupten,
Frauen wären frei von Mordgelüsten?»
Irritiert erwiderte Lombard: «Natürlich nicht. Aber
trotzdem scheint es kaum möglich…»
Er brach abrupt ab. Richter Wargrave wandte sich
mit unverändert leiser, säuerlicher Stimme an
Armstrong:
«Ich nehme doch an, Dr. Armstrong, dass eine
Frau kräftemäßig dazu fähig gewesen wäre, dem ar-
men MacArthur den tödlichen Schlag zu versetzen?»
«Absolut», antwortete der Arzt gelassen, «vorausge-
setzt, sie benutzt das passende Instrument, einen
Gummiknüppel oder einen Totschläger zum Bei-
spiel.»
«Es würde also keine übermäßig große Kraftans-
trengung erfordern?»
«Überhaupt nicht.»
Richter Wargrave reckte seinen Schildkrötenhals.
«Die beiden anderen Todesfälle wurden durch das
Verabreichen von Gift verursacht», erinnerte er sie.
«Das hätte natürlich, und das wird niemand bestrei-
ten, auch eine Person mit ganz geringen Kräften tun
können.»
«Ich glaube, Sie sind verrückt!», rief Vera wütend.
Er drehte langsam den Kopf, bis seine Augen auf
ihr ruhten. Er musterte sie mit dem leidenschaftslo-
sen Blick des Mannes, der gewohnt ist, die menschli-
che Natur in der Waagschale der Justiz zu wiegen.
«Er sieht mich nur als – als Exemplar einer Gat-
tung. Und», der nächste Gedanke überraschte sie, «er
mag mich nicht besonders.»
In ruhigem Ton sagte der Richter gerade: «Liebes
Fräulein, bitte beherrschen Sie sich. Ich beschuldige
Sie doch gar nicht.»
Mit einer Verbeugung wandte er sich an Miss
Brent: «Ich hoffe, Sie sind nicht gekränkt, Miss
Brent, wenn ich darauf bestehe, dass jeder von uns
gleichermaßen unter Verdacht steht?»
Emily Brent strickte. Sie sah nicht hoch. Mit eisiger
Stimme sagte sie:
«Die Vorstellung, mich der Tötung eines Mitmen-
schen zu beschuldigen – und gar der von drei Men-
schen – ist selbstverständlich völlig absurd für jeden,
der mich und meinen Charakter kennt. Aber ich sehe
ein, dass wir Fremde füreinander sind und dass unter
den gegebenen Umständen keiner von uns ohne
glasklare Beweise davonkommt. Wie ich bereits sag-
te, ein Teufel ist unter uns.»
«Dann sind wir uns einig», stellte der Richter fest.
«Ausnahmen allein auf Grund von Charakter oder
Beruf wird es nicht geben.»
«Und was ist mit Rogers?», wollte Lombard wissen.
«Was soll mit ihm sein?»
Der Richter sah ihn ungerührt an.
«Also, meiner Ansicht nach scheidet Rogers so
ziemlich aus.»
«Tatsächlich? Und aus welchem Grund?»
«Zum einen, weil er nicht schlau genug dafür ist,
und dann, weil seine Frau zu den Opfern gehört.»
Wieder zog der Richter die Augenbrauen hoch:
«Zu meiner Zeit, junger Mann, habe ich mehrfach
mit Menschen zu tun gehabt, die des Mordes an ihrer
Ehefrau angeklagt waren – und für schuldig befun-
den wurden.»
«Ganz Ihrer Meinung. Gattenmord ist sehr gut
möglich, liegt schon fast in der Natur der Sache!»,
schnaubte Blore. «Aber nicht dieser Mord! Ich könn-
te mir vorstellen, dass Rogers seine Frau umbringt,
weil er Angst hat, sie würde zusammenbrechen und
ihn verraten, oder weil er sie plötzlich nicht mehr
mag, oder weil er sich mit einer kleinen, süßen Maus,
die weniger Haare auf den Zähnen hat, zusammen-
tun will. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er
dieser wahnsinnige Owen ist, der in seinem Gerech-
tigkeitswahn seine Frau für etwas bestraft, was sie
beide zusammen verbrochen haben.»
«Gerüchte sind keine Beweise», warnte Wargrave.
«Wir wissen nicht, ob Rogers und seine Frau ihre
Arbeitgeberin wirklich umgebracht haben. Das könn-
te eine falsche Behauptung gewesen sein, um uns
glauben zu machen, Rogers sei in derselben Lage wie
wir anderen. Mrs. Rogers’ panische Angst gestern
Abend könnte sie befallen haben, als sie plötzlich
entdeckte, dass ihr Mann verrückt geworden war.»
«Also gut, wie Sie wollen», gab Lombard sich ge-
schlagen. «U. N. Owen ist einer von uns. Ausnahmen
sind nicht zulässig. Wir kommen alle in Frage.»
«Mir geht es darum», erklärte der Richter, «dass
keine Ausnahmen auf Grund von Charakter, Beruf
oder Wahrscheinlichkeit gemacht werden. Wir müs-
sen jetzt untersuchen, ob einer oder mehrere von uns
auf Grund von Fakten ausscheiden. Etwas einfacher
ausgedrückt: Ist jemand unter uns, der unter keinen
Umständen Anthony Marston Zyankali oder Mrs.
Rogers eine Überdosis Schlafmittel hätte verabrei-
chen können und der keine Gelegenheit hatte, den
tödlichen Schlag gegen General MacArthur zu füh-
ren?»
Blores besorgtes Gesicht hellte sich auf. Er beugte
sich vor.
«Jetzt reden Sie Klartext, Sir! Genau das ist es! Da
müssen wir ran! Was den jungen Marston betrifft –
also, ich glaube, da kann man nichts machen. Es
wurde ja schon gesagt, dass jemand ihm was von
draußen ins Glas geschmuggelt hat, ehe er sich zum
letzten Mal nachschenkte. Und jemand im Zimmer
hätte das noch viel leichter machen können. Ich kann
mich nicht erinnern, ob Rogers im Zimmer war, aber
jeder von uns hätte es genauso gut tun können.»
Er schwieg einen Moment. Dann fuhr er fort:
«Nehmen Sie einmal diese Rogers – also da fallen
einem gleich zwei Leute ein: ihr Mann und der Dok-
tor. Für jeden wäre es ein Kinderspiel gewesen…»
Armstrong sprang auf. Er zitterte.
«Ich protestiere – das ist einfach unerhört! Ich
schwöre, dass die Dosis, die ich ihr gegeben habe,
völlig –»
«Dr. Armstrong!»
Die scharfe, leise Stimme duldete keinen Wider-
spruch. Der Arzt brach mitten im Satz abrupt ab.
Die eisige, leise Stimme des Richters sprach weiter.
«Ihre Empörung ist nur natürlich. Trotzdem müs-
sen Sie zugeben, dass die Tatsachen für sich spre-
chen. Sowohl Sie als auch Rogers hätten ihr mit
Leichtigkeit eine Überdosis verabreichen können.
Kommen wir jetzt aber zu den anderen. Welche
Möglichkeit hatte ich selbst oder Inspektor Blore
oder Miss Brent oder Miss Claythorne oder Mr.
Lombard, das Gift zu verabreichen? Kann einer von
uns völlig von jedem Verdacht ausgenommen wer-
den?» Er hielt einen Augenblick inne. «Ich glaube
nicht.»
«Ich war nicht einmal in der Nähe dieser Frau!»,
wehrte sich Vera wütend. «Das können alle hier be-
schwören.»
Richter Wargrave legte eine kurze Pause ein, ehe er
sagte:
«Soweit ich mich erinnere, spielten sich die Dinge
folgendermaßen ab – bitte korrigieren Sie mich,
wenn ich mich irre. Anthony Marston und Mr. Lom-
bard legten Mrs. Rogers aufs Sofa, dann trat Dr.
Armstrong zu ihr. Er schickte Rogers nach einem
Glas Brandy. Als Nächstes stellte sich die Frage, wo-
her die Stimme kam, die wir soeben vernommen hat-
ten. Wir gingen alle ins Nebenzimmer mit Ausnahme
von Miss Brent, die im Zimmer zurückblieb – ganz
allein mit der bewusstlosen Mrs. Rogers.»
Rote Flecken erschienen auf Emily Brents Wangen.
Sie unterbrach ihre Strickarbeit.
«Das ist unerhört!», empörte sie sich.
Gnadenlos fuhr die leise Stimme fort: «Als wir in
dieses Zimmer zurückkamen, fanden wir Sie, Miss
Brent, wie Sie sich über die Frau auf dem Sofa beug-
ten.»
«Ist Menschlichkeit ein Verbrechen?», schnappte
Emily Brent zurück.
«Ich stelle nur die Tatsachen fest. Rogers kam mit
dem Brandy, den er natürlich sehr wohl vorher hätte
präparieren können. Der Brandy wurde der Frau ein-
geflößt, und kurz darauf halfen ihr Dr. Armstrong
und ihr Ehemann hinauf ins Schlafzimmer, wo Dr.
Armstrong ihr ein Beruhigungsmittel gab.»
«Genauso war’s», rief Blore. «Absolut. Damit sind
der Richter, Mr. Lombard, ich natürlich und Miss
Claythorne aus dem Schneider.»
Seine Stimme war laut und triumphierend. Richter
Wargrave musterte ihn mit kaltem Blick und mur-
melte:
«Stimmt das wirklich? Wir müssen jede denkbare
Möglichkeit in Erwägung ziehen.»
Blore starrte ihn ungläubig an.
«Was meinen Sie damit?»
«Stellen Sie sich vor», fuhr der Richter fort, «oben
in ihrem Schlafzimmer liegt Mrs. Rogers im Bett.
Allmählich beginnt das Beruhigungsmittel, das der
Doktor ihr gegeben hat, zu wirken. Sie ist schläfrig
und willenlos. Angenommen, in diesem Moment
klopft es an die Tür, jemand tritt ein und bringt ihr
zum Beispiel eine Tablette oder ein Getränk, und er
sagt ihr, dies schicke der Doktor und sie solle es so-
fort einnehmen. Können Sie sich auch nur eine Se-
kunde lang vorstellen, sie hätte nicht gehorsam und
ohne zu überlegen alles eingenommen und hinunter-
geschluckt?»
Alle schwiegen. Blore trat stirnrunzelnd von einem
Bein aufs andere.
Philip Lombard sagte: «Ich glaube diese Geschichte
keine Sekunde. Außerdem hat keiner von uns dieses
Zimmer verlassen, und zwar noch Stunden später
nicht. Wir waren mit Marstons Tod und dem ganzen
Drumherum beschäftigt.»
«Jemand hätte ja auch später noch sein oder ihr
Schlafzimmer wieder verlassen können», gab der
Richter zu bedenken.
Lombard widersprach: «Aber dann wäre doch Ro-
gers da oben gewesen.»
Dr. Armstrong wurde unruhig.
«Nein», sagte er. «Rogers ging wieder nach unten,
um das Esszimmer und die Anrichte aufzuräumen.
Jeder hätte ungesehen zum Schlafzimmer von Mrs.
Rogers hinaufgehen können.»
«Aber Doktor», mischte Emily Brent sich ein, «die
arme Frau müsste auf Grund Ihres Mittels doch
längst fest geschlafen haben.»
«Mit großer Wahrscheinlichkeit, ja. Aber es ist nicht
hundertprozentig sicher. Bevor man einen Patienten
nicht mehrfach behandelt hat, kann man nicht genau
sagen, wie er auf dieses oder jenes Mittel reagiert. Es
dauert manchmal ziemlich lange, bis ein Beruhi-
gungsmittel wirkt. Es hängt davon ab, wie der Patient
auf dieses spezielle Mittel reagiert.»
«Das müssen Sie natürlich sagen, Doktor», meinte
Blore. «Passt gut ins Konzept.»
Wieder verdüsterte sich Armstrongs Gesicht vor
Wut.
Und wieder erstickte die eisige, leidenschaftslose
Stimme des Richters jedes weitere Wort.
«Gegenseitige Anschuldigungen bringen uns nicht
weiter. Wir brauchen Fakten. Es steht wohl fest, dass
das, was ich geschildert habe, sich so hätte zutragen
können. Ich gebe gern zu, dass die Wahrscheinlich-
keit nicht gerade hoch ist, aber auch hier hängt es
ganz davon ab, wer diese Person gewesen wäre. Das
Erscheinen von Miss Brent oder Miss Claythorne
hätte bei der Kranken keinen Verdacht erregt. Wenn
ich selbst oder die Herren Blore oder Lombard ge-
kommen wären, hätte es zumindest ungewöhnlich
gewirkt. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass
auch ein solcher Besuch nicht unbedingt einen Ver-
dacht bei Mrs. Rogers ausgelöst hätte.»
«Und das führt uns – wohin?», fragte Blore.
VII
Richter Wargrave strich sich über die Lippen. Er
wirkte völlig gefühllos und unbeteiligt, als er redete.
«Somit haben wir auch den zweiten Mord analysiert
und mussten feststellen, dass keiner von uns über
einen Verdacht erhaben ist.»
Er hielt kurz inne und fuhr fort:
«Wir kommen jetzt zum Tod von General MacAr-
thur, der sich heute Morgen ereignet hat. Ich fordere
jeden, der glaubt, ein Alibi zu haben, auf, es uns vor-
zutragen. Was mich betrifft, so möchte ich gleich
sagen, dass ich kein brauchbares Alibi besitze. Ich
war den ganzen Vormittag auf der Terrasse und habe
über die sonderbare Situation nachgedacht, in die wir
alle hineingeraten sind.
Ich habe den ganzen Morgen auf diesem Stuhl dort
gesessen, bis der Gong ertönte. Während dieser Zeit
war ich des Öfteren völlig allein und unbeobachtet
und hätte durchaus die Möglichkeit gehabt, zum
Strand hinunterzugehen, den General zu töten und
wieder zu meinem Stuhl zurückzukehren. Es gibt nur
mein Wort als Beweis dafür, dass ich die Terrasse
nicht verlassen habe. Unter den gegebenen Umstän-
den reicht das nicht aus. Was fehlt, ist ein Beweis.»
Blore ergriff das Wort:
«Ich war den ganzen Morgen mit Lombard und Dr.
Armstrong zusammen. Die können das bestätigen.»
«Sie sind zum Haus gelaufen, um ein Seil zu holen»,
erinnerte sich Armstrong.
«Klar doch. Ging direkt dorthin und kam gleich
wieder zurück. Das wissen Sie doch.»
«Es hat ziemlich lange gedauert…»
Blore lief scharlachrot an.
«Was zum Teufel wollen Sie damit sagen,
Armstrong?»
«Ich sage nur, dass Sie lange weg waren», wieder-
holte Armstrong.
«Musste erst danach suchen! Ein langes Seil findet
man ja nicht einfach so.»
Richter Wargrave mischte sich ein: «Waren Sie bei-
de während Mr. Blores Abwesenheit zusammen?»
«Sicher doch», sagte Armstrong in aggressivem
Ton. «Das heißt, Lombard ging kurz weg, ich blieb,
wo ich war.»
«Ich wollte ausprobieren, ob es möglich ist,
Leuchtsignale zum Festland hinüberzuschicken.»
Lombard lächelte. «Wollte den günstigsten Fleck da-
für finden. Ich war höchstens eine oder zwei Minu-
ten weg.»
Armstrong nickte: «Das stimmt. Ich versichere Ih-
nen, für einen Mord war er nicht lange genug weg.»
«Hat einer von Ihnen beiden auf die Uhr gesehen?»,
fragte der Richter.
«Nein.»
«Ich hatte keine dabei», sagte Philip Lombard.
«Eine oder zwei Minuten sind eine ziemlich unge-
naue Zeitangabe», bemerkte der Richter.
Er wandte sich der aufrechten Gestalt mit dem
Strickzeug im Schoß zu:
«Miss Brent?»
«Ich habe mit Miss Claythorne zusammen einen
Spaziergang zum höchsten Punkt der Insel gemacht.
Anschließend habe ich auf der Terrasse in der Sonne
gesessen.»
«Ich glaube nicht, dass ich Sie dort gesehen habe»,
sagte der Richter.
«Ich saß um die Ecke, auf der Ostseite. Dort ist
man aus dem Wind.»
«Und da saßen Sie bis zum Mittag?»
«Jawohl.»
«Miss Claythorne?»
Vera antwortete bereitwillig.
«Morgens war ich schon ziemlich früh mit Miss
Brent zusammen», sagte sie mit klarer Stimme. «Da-
nach bin ich ein bisschen herumgewandert. Später
bin ich hinunter zum Meer gelaufen und habe mich
mit General MacArthur unterhalten.»
Richter Wargrave unterbrach sie: «Um welche Zeit
war das?»
Zum ersten Mal war Veras Antwort recht ungenau.
«Ich weiß nicht genau. Etwa eine Stunde vor dem
Mittagessen – es könnte auch weniger gewesen sein.»
«War es bevor oder nachdem wir mit ihm geredet
hatten?», fragte Blore.
«Ich weiß es nicht», antwortete Vera. «Er – er war
sehr sonderbar.»
Sie fröstelte.
«Was meinen Sie mit ‹sonderbar›?», wollte der Rich-
ter wissen.
«Er sagte, wir würden alle sterben. Und dass er auf
das Ende warte. Er machte mir Angst…»
Der Richter nickte.
«Was taten Sie als Nächstes?»
«Ich ging zum Haus zurück. Unmittelbar vor dem
Essen ging ich wieder hinaus und bin den Hügel hin-
ter dem Haus hochgeklettert. Ich war den ganzen
Tag über schrecklich unruhig.»
Der Richter strich sich übers Kinn.
«Bleibt noch Rogers. Aber ich bezweifle, ob seine
Aussage unseren bisherigen Erkenntnissen noch et-
was hinzufügen wird.»
Der vor Gericht zitierte Rogers hatte wenig zu be-
richten. Er war den ganzen Vormittag mit Haushalts-
angelegenheiten und dem Zubereiten des Mittages-
sens beschäftigt gewesen. Vor dem Essen hatte er
Cocktails auf die Terrasse getragen und danach seine
Sachen aus der Dachkammer in sein neues Zimmer
geräumt. Den ganzen Morgen hatte er nicht aus dem
Fenster geschaut, und überhaupt hatte er nichts ge-
sehen, was irgendeinen Hinweis auf den Tod von
General MacArthur geben könnte. Aber er konnte
schwören, dass noch acht Porzellanfiguren auf dem
Tisch standen, als er ihn zum Essen deckte.
Rogers war am Ende seiner Aussage angelangt und
schwieg.
Richter Wargrave räusperte sich.
«Jetzt kommt die große Zusammenfassung», flüs-
terte Lombard Vera Claythorne zu.
«Wir haben die Umstände dieser drei Todesfälle
nach besten Kräften untersucht», begann der Richter.
«Obwohl es im einen oder anderen Fall so aussieht,
als ob bestimmte Personen aller Wahrscheinlichkeit
nach nichts damit zu tun hätten, können wir den-
noch niemanden völlig von einem Verdacht freispre-
chen. Ich wiederhole daher meine feste Überzeu-
gung: Von den sieben Personen, die hier in diesem
Raum versammelt sind, ist einer ein gefährlicher und
wahrscheinlich wahnsinniger Verbrecher. Wir haben
keinerlei Hinweise, wer diese Person sein könnte.
Was wir beim jetzigen Stand der Dinge tun können,
ist, nach Möglichkeiten zu forschen, wie Hilfe vom
Festland zu holen ist. Sollte sich diese Hilfe verzö-
gern, was angesichts der herrschenden Wetterver-
hältnisse nur allzu wahrscheinlich ist, müssen wir
Mittel und Wege finden, wie wir uns schützen kön-
nen.
Ich bitte Sie alle, dies zu bedenken und mir Ihre
Vorschläge mitzuteilen. In der Zwischenzeit sollte
jeder und jede von uns auf der Hut sein. Bisher hatte
der Mörder leichtes Spiel, weil seine Opfer ahnungs-
los waren. Von nun an ist es unsere Pflicht, jedem zu
misstrauen. Gewarnt ist gewappnet. Gehen Sie kein
Risiko ein und seien Sie wachsam. Das wäre alles.»
«Die Verhandlung wird vertagt…», murmelte Philip
Lombard leise.
Zehntes Kapitel
«G lauben Sie das alles?», fragte Vera.
Sie und Philip saßen zusammen auf der
Fensterbank im Salon. Draußen prasselte
der Regen, der Sturm heulte und drückte in heftigen
Böen gegen die Fensterscheiben.
Philip Lombard neigte den Kopf leicht zur Seite,
bevor er antwortete.
«Sie meinen, ob ich glaube, dass der alte Wargrave
Recht hat, wenn er sagt, es ist einer von uns?»
«Ja.»
«Schwer zu sagen», antwortete er nachdenklich.
«Logisch betrachtet hat er Recht, und dennoch…»
«Und dennoch klingt alles unglaublich!», vollendete
Vera seinen Satz.
Philip Lombard verzog das Gesicht.
«Die ganze Sache ist unglaublich! Aber nach Ma-
cArthurs Tod gibt es wenigstens in einer Hinsicht
keinen Zweifel mehr. Es geht nicht mehr um einen
Unfall oder Selbstmord. Es ist tatsächlich Mord. Ge-
nauer gesagt drei Morde bis jetzt.»
Vera schauderte.
«Es ist wie ein böser Traum. Ich habe immer das
Gefühl, solche Dinge können eigentlich gar nicht
passieren!»
«Ich weiß», sagte er verständnisvoll. «Gleich klopft
jemand an die Tür und bringt den Frühstückstee he-
rein.»
«Ich wünschte, das wäre so!»
«Ja, aber so ist es leider nicht», sagte Lombard mit
ernster Stimme. «Wir sind mittendrin in diesem
Traum! Und wir müssen von jetzt an sehr gut auf-
passen.»
Vera senkte die Stimme und flüsterte:
«Wenn – wenn es einer von denen ist – wer, glau-
ben Sie, ist es?»
Plötzlich grinste Lombard.
«Wenn ich Sie richtig verstehe, nehmen Sie uns
zwei davon aus? Einverstanden. Ich weiß ganz si-
cher, dass ich nicht der Mörder bin, und Sie, Vera,
kommen mir alles andere als verrückt vor. Für mich
sind Sie eine der vernünftigsten und normalsten
Frauen, die ich kenne. Ich würde meinen guten Ruf
darauf verwetten, Sie sind völlig normal.»
«Vielen Dank», sagte Vera und zwang sich zu lä-
cheln.
«Kommen Sie, Miss Vera Claythorne», neckte
Lombard sie, «wollen Sie das Kompliment nicht zu-
rückgeben?»
Vera zögerte einen Moment, ehe sie antwortete:
«Sie haben zugegeben, dass Ihnen das menschliche
Leben nicht besonders heilig ist. Trotzdem kann ich
mir nicht vorstellen, dass Sie die Schallplatte bespro-
chen haben.»
«Richtig getippt. Wenn ich einen oder mehrere
Morde begehen würde, dann nur, wenn ich richtig
was davon hätte. Diese Massenabfertigung ist nicht
mein Stil. Wir zwei sind also die Ausnahme und
können uns ganz auf unsere fünf Mitgefangenen
konzentrieren. Wer von ihnen ist Mr. Unbekannt,
Mr. U. N. Owen? Lassen Sie mich raten, blind und
ohne einen konkreten Anhaltspunkt – ich tippe auf
Wargrave!»
«Oh!», entfuhr es Vera überrascht. Sie dachte kurz
nach. Dann fragte sie: «Und warum?»
«Kann ich nicht genau sagen. Vielleicht, weil er ein
alter Mann ist und jahrzehntelang bei Gerichtsver-
handlungen den Vorsitz geführt hat. Im Klartext
heißt das, er hat jedes Jahr monatelang Gott gespielt.
Irgendwann steigt das einem zu Kopf. Er fängt an,
sich allmächtig zu fühlen, als jemand, der Macht über
Leben und Tod hat – und dann rastet er aus und will
noch einen Schritt weitergehen: Er will Henker und
oberster Richter in einer Person sein.»
«Ja, das halte ich für möglich… », antwortete Vera
nachdenklich.
«Und auf wen tippen Sie?», fragte Lombard.
«Auf Dr. Armstrong.» Ihre Antwort kam wie aus
der Pistole geschossen.
Lombard stieß einen leisen Pfiff aus.
«Was? Der Doktor? Auf ihn wäre ich zuallerletzt
gekommen.»
Vera schüttelte den Kopf.
«O nein! Bei zwei Toten war Gift im Spiel. Das
weist eindeutig auf einen Arzt hin. Außerdem kön-
nen Sie nicht bestreiten, dass das Einzige, was Mrs.
Rogers mit Sicherheit eingenommen hat, das Beruhi-
gungsmittel war, das er ihr gegeben hat.»
«Das ist richtig», stimmte er ihr zu.
«Wenn ein Arzt wahnsinnig wird, dauert es relativ
lange, ehe jemand Verdacht schöpft», sagte Vera.
«Und Ärzte sind dauernd überlastet und haben
schrecklich viel Stress.»
«Stimmt», gab Lombard zu. «Aber ich bezweifle,
dass er MacArthur umbringen konnte. Die kurze
Zeit, die ich ihn allein gelassen habe, hätte dafür
nicht gereicht – es sei denn, er wäre gerannt – zum
Meer hinunter und wieder zurück. Ich glaube nicht,
dass er so gut in Form ist und so fit, dass man ihm
die Anstrengung nachher nicht anmerkt.»
«Er hat es nicht zu dem Zeitpunkt getan», erklärte
Vera. «Er hatte später noch Gelegenheit dazu.»
«Wann denn?»
«Als er hinunterlief, um den General zum Essen zu
holen.»
Wieder stieß Phillip einen leisen Pfiff aus.
«Sie denken also, er hat es erst dann getan? Das wä-
re ziemlich kaltblütig!»
«Welches Risiko wäre er denn eingegangen?», fragte
Vera ungeduldig. «Er ist der Einzige, der sich in der
Medizin auskennt. Er kann beschwören, dass die
Leiche mindestens schon eine Stunde tot war. Und
wer wollte ihm widersprechen?»
Philip betrachtete sie nachdenklich.
«Ihre Idee ist ganz schön clever. Ich frage mich…»
II
«Wer ist es, Mr. Blore? Das muss ich wissen. Wer ist
es?»
In Rogers’ Gesicht arbeitete es. Seine Finger um-
klammerten ein Fensterleder, das er in der Hand
hielt.
«Tja, mein Lieber, das ist die Frage!», erwiderte
Exinspektor Blore.
«Einer von uns, hat Seine Lordschaft gesagt. Aber
wer? Das will ich wissen. Wer ist dieser Satan in
Menschengestalt?»
«Das wüssten wir alle gern.»
«Aber Sie wissen doch was, Mr. Blore», sagte Ro-
gers mit verschwörerischer Stimme. «Sie haben ganz
sicher ‘ne Vermutung, hab ich Recht?»
«Vielleicht habe ich wirklich eine Vermutung», sag-
te Blore bedächtig, «aber glauben ist nicht wissen. Ich
kann mich irren. Aber eins steht fest: Wenn ich
Recht habe, ist die Person, von der wir reden, ein
ziemlich gerissener Bursche – wirklich ziemlich geris-
sen.»
Rogers wischte sich den Schweiß von der Stirn.
«Es ist wie ein böser Traum», krächzte er mit heise-
rer Stimme. «Ein Albtraum!»
Blore sah ihn neugierig an. «Haben Sie selbst viel-
leicht einen Verdacht, Rogers?»
Der Butler schüttelte den Kopf.
«Ich weiß nicht. Ich weiß überhaupt nichts, und das
macht mir am allermeisten Angst. Dass man nichts
weiß…»
III
«Wir müssen weg von hier – unbedingt – weg! Koste
es, was es wolle!», rief Doktor Armstrong erregt.
Richter Wargrave blickte nachdenklich aus dem
Fenster des Rauchsalons. Seine Finger spielten mit
der Kordel seiner Brille.
«Ich will nicht behaupten, ich könnte das Wetter
vorhersagen», antwortete er, «aber ich würde meinen,
dass es momentan für ein Boot schier unmöglich ist,
zu uns herüberzukommen – selbst wenn jemand von
unserer Zwangslage wüsste. Unter vierundzwanzig
Stunden ist da nichts zu machen, und auch dann nur,
wenn der Wind sich wieder beruhigt.»
Dr. Armstrong ließ seinen Kopf in die Hände sin-
ken und stöhnte auf: «Und in der Zwischenzeit wer-
den wir vielleicht allesamt im eigenen Bett ermor-
det?»
«Ich hoffe nicht», sagte Richter Wargrave. «Ich ha-
be vor, jede mögliche Vorsichtsmaßnahme dagegen
zu ergreifen.»
Blitzartig schoss Armstrong die Erkenntnis durch
den Kopf, dass ein alter Mann wie der Richter mögli-
cherweise viel stärker am Leben hing als mancher
junge Mensch. In den Jahren seiner Tätigkeit als Arzt
hatte er sich darüber schon oft gewundert. Hier war
er selbst etwa zwanzig Jahre jünger als der Richter,
und doch war sein Überlebenswille wesentlich gerin-
ger ausgeprägt.
Der Richter dachte gerade: «Im eigenen Bett er-
mordet! Ärzte sind doch alle gleich – können nur in
Klischees denken. Von absolut durchschnittlichem
Verstand.»
«Immerhin hat es schon drei Opfer gegeben», sagte
Dr. Armstrong jetzt. «Daran möchte ich Sie erin-
nern.»
«Gewiss. Aber erinnern Sie sich bitte daran, dass sie
allesamt auf den Angriff nicht vorbereitet waren. Wir
aber sind vorgewarnt.»
«Und was nutzt uns das?» Dr. Armstrongs Stimme
klang bitter. «Früher oder später –»
«Ich glaube, es gibt einiges, was wir tun können»,
erklärte der Richter.
«Wir wissen noch nicht einmal, wer es sein könnte»,
gab Armstrong zu bedenken.
Der Richter strich sich übers Kinn und murmelte:
«Ach wissen Sie, das würde ich so nicht sagen.»
Armstrong starrte ihn an.
«Heißt das, Sie wissen, wer…?»
«Was die tatsächlichen Beweise angeht», antwortete
er vorsichtig, «wie sie bei Gericht gefordert werden,
muss ich passen, ich habe keine. Aber wenn ich die
ganze Sache noch einmal durchgehe, scheint mir,
dass sich eine bestimmte Person ganz klar abzeich-
net. Ja, das glaube ich.»
Armstrong starrte ihn an.
«Ich verstehe nicht.»
IV
Miss Brent ging nach oben auf ihr Zimmer.
Sie nahm ihre Bibel und setzte sich ans Fenster. Sie
schlug eine Seite auf. Nach kurzem Zögern legte sie
die Bibel beiseite und ging zum Frisiertisch. Aus ei-
ner Schublade holte sie ein kleines, in schwarzes Pa-
pier gebundenes Notizbuch. Sie schlug es auf und
begann zu schreiben.
Etwas Schreckliches ist geschehen. General MacAr-
thur ist tot. (Sein Cousin ist mit Elsie MacPherson
verheiratet.) Es besteht kein Zweifel, dass er er-
mordet wurde. Nach dem Mittagessen hielt uns der
Richter eine höchst interessante Ansprache. Er ist
davon überzeugt, dass der Mörder einer von uns
ist. Das heißt, einer von uns ist vom Teufel beses-
sen. Wie ich bereits vermutet habe. Wer von uns ist
es? Alle fragen sich das. Ich allein weiß…
Eine Zeit lang saß sie reglos da. Ihre Augen blickten
ziellos und verschwommen. Der Bleistift schwankte
wie trunken zwischen ihren Fingern. In zittrigen,
einzeln hingekritzelten Großbuchstaben schrieb sie:
«Der Name des Mörders lautet Beatrice Taylor…»
Ihre Augen fielen zu.
Plötzlich schreckte sie hoch, wachte auf. Sie blickte
auf das Notizbuch. Ärgerlich stieß sie einen Fluch
aus und untersuchte die unsicheren, verzerrten Kra-
kel des letzten Satzes. Mit gepresster Stimme fragte
sie sich:
«Habe ich das geschrieben? Wirklich ich? Ich muss
langsam verrückt werden…»
Das Unwetter tobte immer heftiger. Der Sturm heul-
te gegen die Hausseite.
Alle waren im Wohnzimmer versammelt. Teil-
nahmslos saßen sie beieinander. Und beobachteten
sich heimlich gegenseitig.
Als Rogers mit dem Tee hereinkam, fuhren sie er-
schrocken zusammen.
«Soll ich die Vorhänge zuziehen?», erkundigte er
sich. «Es wäre etwas gemütlicher.»
Mit allgemeiner Zustimmung wurden die Vorhänge
zugezogen und die Lampen eingeschaltet. Behaglich-
keit breitete sich im Raum aus, die Düsternis hellte
sich ein wenig auf. Bestimmt würde sich der Sturm
bis morgen beruhigen und jemand würde herüber-
kommen… ein Boot würde anlegen…
«Möchten Sie den Tee einschenken, Miss Brent?»,
fragte Vera Claythorne.
«Nein, machen Sie das nur, meine Liebe!», antwor-
tete die ältere Frau. «Die Teekanne ist so schwer.
Und außerdem habe ich zwei Stränge von meiner
grauen Wolle verloren. Ärgerlich ist das.»
Vera trat zum Teetisch. Das muntere Klappern und
Klirren von Porzellan ertönte. Die Normalität kehrte
zurück.
Tee! Gelobt sei der ganz normale tägliche Nachmit-
tagstee! Philip Lombard machte eine witzige Bemer-
kung. Blore gab eine zurück. Dr. Armstrong erzählte
eine humorvolle Geschichte. Richter Wargrave, der
normalerweise Tee hasste, schlürfte genussvoll.
Mitten in diese entspannte Stimmung platzte Ro-
gers.
Und Rogers war außer sich. Nervös und ohne je-
manden direkt anzusprechen, sprudelte er heraus:
«Entschuldigen Sie, Sir, aber weiß hier jemand, was
aus dem Badezimmervorhang geworden ist?»
Ruckartig hob Lombard den Kopf.
«Der Badezimmervorhang? Was zum Teufel mei-
nen Sie, Rogers?»
«Er ist weg, Sir. Hat sich in Luft aufgelöst. Ich habe
die Runde gemacht und alle Vorhänge zugezogen,
und der im Klo – im Bad, meine ich – war nicht
mehr da.»
«War er denn heute Morgen noch da?», fragte Rich-
ter Wargrave.
«O ja, Sir.»
«Um was für eine Art Vorhang handelt es sich?»,
wollte Blore wissen.
«Scharlachrotes Wachstuch, Sir, passend zu den
scharlachroten Kacheln.»
«Und der ist jetzt verschwunden?», wunderte Lom-
bard sich.
«Verschwunden, Sir.»
Mit starrem Blick sahen sich beide an.
«Was soll das schon bedeuten?», polterte Blore los.
«Es ist verrückt – wie alles andere auch. Ist doch eh
egal. Mit einem Wachstuchvorhang kann man nie-
mand umbringen. Vergessen Sie’s.»
«Ja, Sir», sagte Rogers. «Vielen Dank, Sir.»
Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Im Zimmer breitete sich von neuem die Angst aus.
Und wieder begannen sie, sich heimlich zu beo-
bachten.
VI
Das Abendessen kam, wurde verzehrt und wieder
abgeräumt. Ein einfaches Mahl, überwiegend aus
Dosen.
Später, im Salon, war die Anspannung so groß, dass
sie kaum noch auszuhalten war.
Um neun Uhr erhob sich Emily Brent.
«Ich gehe zu Bett.»
«Ich gehe auch zu Bett», schloss sich Vera ihr an.
Die beiden Frauen stiegen die Treppe hinauf.
Lombard und Blore kamen mit ihnen. Oben ange-
kommen, warteten die beiden Männer, bis die Frauen
in ihre Zimmer gegangen und die Türen hinter sich
geschlossen hatten. Sie hörten das Geräusch zweier
Riegel, die vorgeschoben wurden, dann das Drehen
der Schlüssel im Schloss.
Blore grinste: «Man braucht ihnen nicht zu sagen,
dass sie ihre Tür abschließen sollen!»
«Die sind jedenfalls für die Nacht in Sicherheit»,
sagte Lombard.
Er stieg die Treppe wieder hinunter, und der ande-
re folgte ihm.
VII
Die vier Männer gingen eine Stunde später zu Bett.
Gemeinsam gingen sie nach oben. Vom Esszimmer
aus, wo er den Frühstückstisch deckte, sah Rogers sie
hinaufgehen. Er hörte, wie sie auf dem oberen Trep-
penabsatz stehen blieben.
Dann sprach die Stimme des Richters.
«Ich brauche Ihnen wohl nicht zu raten, Gentle-
men, Ihre Tür abzuschließen.»
«Wir sollten zusätzlich noch einen Stuhl unter den
Türgriff klemmen», meinte Blore. «Man kriegt Tür-
schlösser nämlich auch von außen auf.»
«Mein lieber Blore», murmelte Lombard, «Ihr Prob-
lem ist: Sie wissen einfach zu viel!»
«Gute Nacht, meine Herren», verabschiedete der
Richter sich förmlich. «Mögen wir uns alle morgen
wohlbehalten Wiedersehen.»
Rogers kam aus dem Esszimmer und schlich die
Treppe bis zur Hälfte nach oben. Er beobachtete,
wie vier Gestalten durch vier Türen verschwanden,
und hörte, wie sich vier Schlüssel im Schloss drehten
und vier Riegel vorgeschoben wurden.
Er nickte. «So ist’s gut», murmelte er.
Dann ging er ins Esszimmer zurück. Alles war
schon für den nächsten Morgen vorbereitet. Sein
Blick verweilte kurz auf der Spiegelplatte mit den
sieben Porzellanfiguren in der Mitte des Tisches.
Plötzlich huschte ein Grinsen über sein Gesicht.
Er flüsterte: «Wenigstens heute Abend spult keiner
mehr dumme Tricks ab.»
Er durchquerte das Zimmer und schloss die Tür
zur Anrichte ab. Dann ging er durch die andere Tür
in den Flur, zog die Tür zu, verschloss sie und ließ
den Schlüssel in seine Tasche gleiten.
Zuletzt löschte er das Licht und eilte die Treppe
hinauf in sein neues Schlafzimmer.
Es gab nur ein einziges mögliches Versteck, den
großen Kleiderschrank. Er schaute sofort hinein.
Dann machte er sich bettfertig – aber erst nachdem
er die Tür verschlossen und verriegelt hatte.
«Tricks gibt’s heut Nacht keine mehr», sagte er sich.
«Dafür hab ich gesorgt.»
Elftes Kapitel
P hilip Lombard hatte die Angewohnheit, bei
Tagesanbruch aufzuwachen. So auch an die-
sem Morgen. Auf einen Ellbogen gestützt, lag
er da und lauschte. Der Wind hatte sich etwas beru-
higt, blies aber immer noch kräftig. Er hörte es nicht
regnen…
Gegen acht Uhr hatte der Wind wieder an Stärke
zugenommen, aber Lombard hörte ihn nicht. Er war
wieder eingeschlafen.
Um halb zehn saß er auf der Bettkante und schaute
auf seine Uhr. Er hielt sie ans Ohr. In einem wolfs-
ähnlichen Lächeln, das so typisch für ihn war, legten
seine Lippen die Zähne frei.
Ganz leise flüsterte er: «Ich glaube, es wird langsam
Zeit, etwas zu unternehmen.»
Fünf Minuten später klopfte er an die verschlosse-
ne Tür von Blores Zimmer. Der öffnete vorsichtig,
die Haare zerzaust und die Augen schlaftrunken.
«Schlafen bis in die Puppen, wie?», flachste Lom-
bard gut gelaunt. «Zeigt ja wohl, dass Sie ein gutes
Gewissen haben.»
Kurz angebunden knurrte Blore: «Was ist los?»
«Hat jemand Sie gerufen – oder Ihnen Tee ge-
bracht? Wissen Sie, wie spät es ist?»
Blore sah über die Schulter auf den kleinen Reise-
wecker auf dem Nachttisch.
«Fünf nach halb zehn. Unglaublich, dass ich so lan-
ge schlafen konnte. Wo ist Rogers?»
«Zwei Dumme, ein Gedanke», scherzte Lombard.
«Was soll das denn heißen?», fragte Blore scharf.
«Rogers ist verschwunden», antwortete Lombard.
«Das meine ich damit. Er ist weder in seiner Kam-
mer noch sonst irgendwo. Außerdem ist der Teekes-
sel nicht aufgesetzt, und das Feuer in der Küche
noch nicht einmal angezündet.»
«Wo zum Teufel kann er denn sein?», fluchte Blore
leise. «Irgendwo draußen auf der Insel? Warten Sie,
bis ich mich angezogen habe. Bringen Sie mal in Er-
fahrung, ob die anderen etwas wissen.»
Philip Lombard nickte. Er ging an der Reihe ver-
schlossener Türen entlang.
Armstrong war bereits auf und fast angezogen.
Richter Wargrave musste wie Blore aus tiefem Schlaf
geweckt werden. Vera Claythorne war schon fertig
angezogen. Emily Brents Zimmer war leer.
Die kleine Truppe durchstreifte das Haus. Wie Phi-
lip Lombard schon festgestellt hatte, war Rogers’
Zimmer leer. Das Bett war benutzt worden, Rasier-
zeug, Seife und Schwamm waren nass.
«Er ist ganz normal aufgestanden», stellte Lombard
fest.
Vera sprach mit zittriger Stimme, der sie einen fes-
ten und selbstsicheren Klang zu geben versuchte:
«Sie glauben nicht, dass – er sich irgendwo ver-
steckt hat und uns auflauert?»
«Liebe Miss Claythorne», erwiderte Lombard. «Ich
traue momentan jedem alles zu! Ich kann nur raten,
zusammenzubleiben, bis wir ihn finden.»
«Er muss irgendwo draußen auf der Insel sein»,
vermutete Armstrong.
Blore war inzwischen angezogen, aber unrasiert, zu
ihnen gestoßen.
«Wohin ist Miss Brent verschwunden?», wollte er
wissen. «Ist das ein neues Rätsel?»
Doch als sie in die Eingangshalle liefen, kam Emily
Brent durch die Haustür herein. Sie trug einen Re-
genmantel.
«Die Wellen sind noch genauso hoch. Ich glaube
nicht, dass heute ein Boot auslaufen kann.»
«Sind Sie etwa mutterseelenallein auf der Insel
rumspaziert, Miss Brent?», fragte Blore. «Sie sind sich
wohl nicht darüber im Klaren, wie dumm das ist?»
«Ich versichere Ihnen, Mr. Blore, dass ich immer
sehr gut aufgepasst habe», erwiderte Emily Brent.
«Irgendwas von Rogers gesehen?», fragte Blore
grimmig.
Miss Brents Augenbrauen hoben sich.
«Rogers? Nein, ich habe ihn heute Morgen noch
nicht gesehen. Wieso?»
Richter Wargrave kam, rasiert und angezogen und
mit den falschen Zähnen am richtigen Platz im
Mund, die Treppe herunter. Er lief auf die offen ste-
hende Esszimmertür zu.
«Aha», sagte er. «Wie man sieht, hat er den Frühs-
tückstisch gedeckt.»
«Das kann er auch gestern Abend noch gemacht
haben», gab Lombard zu bedenken.
Alle traten ins Zimmer und betrachteten die sorg-
fältig gedeckten Teller und Bestecke, die auf der An-
richte aufgereihten Tassen, den Untersetzer für die
Kaffeekanne. Vera sah es als Erste. Sie packte den
Richter am Arm, und der Griff ihrer trainierten Fin-
ger ließ den alten Herrn zusammenzucken. «Die Fi-
guren!», rief Vera laut. «Sehen Sie nur!» In der Mitte
des Tisches standen nur noch sechs Porzellanfiguren.
II
Sie fanden ihn wenig später.
Er lag in dem kleinen Waschhaus auf der anderen
Seite des Hofes, wo er Holz für das Herdfeuer in der
Küche gehackt hatte. Er hielt das kleine Hackbeil
noch in der Hand. Eine große, schwere Axt lehnte an
der Tür, das Metall der Klinge war in ein stumpfes
Braun verfärbt, das nur allzu gut zu der tiefen Wunde
in Rogers’ Hinterkopf passte…
III
«Alles klar», sagte Armstrong. «Der Mörder hat sich
von hinten an ihn herangeschlichen, die Axt ge-
schwungen und ließ sie in einem einzigen Schlag auf
seinen Kopf niedersausen, als er sich nach vorne
beugte.»
Blore machte sich am Axtstiel und dem Mehlsieb
aus der Küche zu schaffen.
«Hätte es großer Körperkraft bedurft, Doktor?»,
fragte Richter Wargrave.
«Eine Frau könnte es auch getan haben, wenn es
das ist, was Sie meinen», antwortete Armstrong und
streifte die Runde mit einem raschen Blick. Vera
Claythorne und Emily Brent hatten sich in die Küche
zurückgezogen. «Die junge Frau hätte es mit Leicht-
igkeit tun können – sie ist ein sportlicher Typ. Miss
Brent sieht zwar sehr zierlich aus, aber Frauen wie sie
sind oft ziemlich drahtig und stark. Außerdem dürfen
wir nicht vergessen, dass jemand, der geistig verwirrt
ist, oft über ungeahnte Kräfte verfügt.»
Der Richter nickte nachdenklich.
Mit einem Seufzer richtete sich Blore wieder auf.
«Keine Fingerabdrücke. Der Griff ist nach der Tat
abgewischt worden.»
Plötzlich ertönte Gelächter. Sie drehten sich schnell
um. Vera Claythorne stand im Hof. Von wilden
Lachsalven geschüttelt, rief sie mit hoher, schriller
Stimme:
«Züchtet wer auf dieser Insel Bienen? Das soll mir
einer sagen! Wo bekommen wir den Honig her? Ha!
Ha!»
Alle starrten sie verständnislos an. Es war, als wäre
diese vernünftige und beherrschte junge Frau vor
ihrer aller Augen verrückt geworden. Mit der glei-
chen unnatürlichen Stimme fuhr sie fort:
«Starrt mich nicht so an! Als ob ihr denkt, ich hätte
den Verstand verloren. Was ich sage, ist das Nor-
malste von der Welt. Bienen, Bienenstöcke, Bienen!
Ja, versteht ihr denn nicht? Habt ihr nicht diese idio-
tischen Verse gelesen? Die hängen in euren Zim-
mern, damit ihr sie lesen könnt! Wenn wir überlegt
hätten, wären wir gleich hierher gekommen. Sieben
kleine Negerlein, die holzten wie der Specht. Und der
nächste Vers. Ich kann sie inzwischen alle auswendig!
Sechs kleine Negerlein, die liefen ohne Strümpf. Ei-
nes stach die Biene tot… Deswegen frage ich – gibt
es auf dieser Insel Bienen? – Ist das nicht komisch?
Ist das nichts verdammt komisch?»
Wieder brach sie in wildes Gelächter aus. Dr.
Armstrong trat auf sie zu. Er hob die Hand und gab
ihr eine Ohrfeige.
Sie japste, gluckste und schluckte. Eine Minute lang
stand sie reglos da. Dann sagte sie: «Danke… mir
geht’s schon besser.»
Ihre Stimme klang wieder ruhig und kontrolliert –
die Stimme einer tüchtigen Sportlehrerin.
Sie ging über den Hof zurück in die Küche.
Plötzlich wandte sie sich um. «Miss Brent und ich
werden jetzt für alle Frühstück machen», sagte sie.
«Könnten Sie bitte etwas Kleinholz zum Feuerma-
chen bringen?»
Die Spuren, die die Hand des Arztes auf ihrer
Wange hinterlassen hatten, stachen rot hervor.
Als sie in der Küche verschwand, sagte Blore: «Das
haben Sie gut gemacht, Doktor.»
«Es musste sein.» Aus Armstrongs Stimme klang
Bedauern. «Hysterie ist das Letzte, was wir hier brau-
chen können.»
«Sie ist eigentlich kein hysterischer Typ», sagte
Lombard.
«Nein», erwiderte Armstrong. «Überhaupt nicht. Sie
ist eine ganz normale, vernünftige junge Frau. Es war
nur der plötzliche Schock. Das könnte jedem passie-
ren.»
Rogers hatte schon einiges an Holz gehackt, bevor
er erschlagen wurde. Sie sammelten es auf und tru-
gen es in die Küche. Vera und Emily Brent arbeiteten
konzentriert. Miss Brent kratzte die Asche aus dem
Herd, Vera schnitt die Schwarte vom Schinken ab.
Emily Brent bedankte sich für das Holz.
«Danke sehr. Wir machen, so schnell es geht – sa-
gen wir, eine halbe bis dreiviertel Stunde. Das Wasser
muss erst noch kochen.»
IV
Exinspektor Blores Stimme klang heiser, als er sich
an Philip Lombard wandte:
«Wissen Sie, was ich glaube?»
«Da Sie es mir gleich sagen werden, lohnt es sich
nicht zu raten.»
Exinspektor Blore war ein ernster Mann. Ironie
war nichts für ihn.
«Es gab da einen Fall in Amerika», fuhr er unge-
rührt fort. «Ein alter Mann und seine Frau – beide
mit der Axt erschlagen. Am helllichten Vormittag.
Niemand im Haus außer der Tochter und dem
Dienstmädchen. Das Dienstmädchen konnte es nicht
gewesen sein, wie sich herausstellte. Die Tochter war
eine respektable Jungfer vorgerückten Alters. Es
schien völlig unwahrscheinlich. So unwahrscheinlich,
dass sie freigesprochen wurde. Aber sie fanden nie
eine andere Erklärung.» Er hielt inne. «Das fiel mir
wieder ein, als ich die Axt sah – und später, als ich in
die Küche gekommen bin und sie da so ruhig und
gelassen arbeiten gesehen hab. Nicht aus der Ruhe zu
bringen! Das Mädchen mit ihrem hysterischen Anfall
– das ist normal, das ist, was man erwarten würde.
Glauben Sie nicht auch?»
«Kann sein», antwortete Lombard lakonisch.
Blore schwatzte weiter.
«Aber die andere! So adrett und stramm mit ihrer
Schürze – die hat bestimmt mal Mrs. Rogers gehört –
, und wie die das gesagt hat: ‹Das Frühstück ist in
einer halben Stunde fertig.› Wenn Sie mich fragen,
die Frau hat nicht mehr alle Tassen im Schrank! Viele
alte Jungfern werden so. Nicht dass die sich aufs
Morden in großem Stil verlegen, das meine ich nicht,
die werden einfach nur gaga im Kopf. Und jetzt hat
es die erwischt, leider. Religiöser Wahn – glaubt, sie
wär Gottes Werkzeug oder so ähnlich! Und hockt in
ihrer Kammer und liest die Bibel, stellen Sie sich das
mal vor.»
«Das ist noch lange kein Beweis für einen verwirr-
ten Geist, Blore», seufzte Lombard.
Aber Blore schwatzte unbeirrt und schwerfällig
weiter:
«Und dann war die draußen, in ihrem Regenmantel,
das Meer anschauen – das hat sie jedenfalls gesagt.»
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf.
«Rogers wurde getötet, während er Holz hackte –
das heißt, gleich nachdem er aufgestanden war, ganz
früh am Morgen. Miss Brent hätte anschließend nicht
stundenlang draußen herumlaufen müssen. Wenn Sie
mich fragen, hätte der Mörder von Rogers alles daran
gesetzt, gemütlich im Bett zu liegen und selig zu
schnarchen.»
«Sie übersehen das Wichtigste, Mr. Lombard»,
schnaubte Blore. «Wenn diese Frau unschuldig wäre,
hätte sie viel zu viel Angst, um alleine draußen he-
rumzuspazieren. Das tut sie doch nur, wenn sie weiß,
dass sie nichts zu befürchten hat. Das heißt, wenn sie
selbst die Täterin ist.»
«Ein Punkt für Sie», gab Lombard zu, «ja, daran
habe ich noch nicht gedacht.»
Mit der Andeutung eines Grinsens fügte er hinzu:
«Ich bin froh, dass Sie mich nicht mehr verdächti-
gen.»
«Ich hatte Sie tatsächlich erst in Verdacht», gestand
Blore etwas beschämt, «der Revolver – und die ko-
mische Geschichte, die Sie erzählt – oder besser –
nicht erzählt haben. Aber jetzt weiß ich, dass das al-
les wirklich ein bisschen zu offensichtlich war.» Er
hielt inne. «Hoffentlich denken Sie das Gleiche über
mich.»
«Ich kann mich natürlich irren», sagte Philip nach-
denklich, «aber meinem Gefühl nach haben Sie für
so was nicht genug Fantasie. Ich kann nur sagen:
Sollten Sie der Täter sein, dann sind Sie ein ver-
dammt guter Schauspieler, und ich ziehe vor Ihnen
den Hut.» Er senkte die Stimme. «Ganz im Vertrau-
en, Blore, und weil wir beide sowieso bald das Gras
von unten sehen werden – Sie haben sich doch da-
mals diesen kleinen Meineid geleistet, stimmt’s?»
Unbehaglich trat Blore von einem Bein aufs andere.
«Kommt jetzt sowieso nicht mehr drauf an», knurr-
te er. «Was soll’s. Also, Landor war tatsächlich un-
schuldig. Die Bande hatte mich in der Hand, und
unter uns gesagt, haben wir ihn dann für eine Weile
aus dem Verkehr gezogen. Ich sage Ihnen das jetzt
aber wirklich nur so ehrlich, weil…»
«… weil es hier keine weiteren Zeugen gibt», vol-
lendete Lombard grinsend. «Alles bleibt unter uns.
Hoffentlich hat es sich wenigstens für Sie gelohnt.»
«Hab nicht rausgeholt, was ich hätte rausholen
müssen. Ein mieser Haufen, die Purcell-Bande. Aber
ich hab meine Beförderung gekriegt.»
«Und Landor wurde zu Zwangsarbeit verurteilt und
starb im Knast.»
«Ich konnte ja nicht wissen, dass er sterben würde,
oder?», erwiderte Blore.
«Nein, das war eben Ihr Pech.»
«Mein Pech? Sie meinen wohl eher seins.»
«Ihres auch. Weil, so wie es aussieht, Ihr Leben als
Folge davon unerwartet früh enden wird.»
«Wie bitte?» Blore starrte ihn entgeistert an. «Glau-
ben Sie etwa, dass man mit mir das Gleiche wie mit
Rogers und den anderen machen kann? Nicht mit
mir! Ich kann ganz gut auf mich aufpassen, das sage
ich Ihnen.»
«Ich wette nicht gern», sagte Lombard. «Und wenn
Sie tot sind, zahlt mir sowieso keiner was.»
«Und was wollen Sie sagen, Mr. Lombard?»
Philip Lombard lächelte und entblößte seine Zäh-
ne.
«Mein lieber Mr. Blore, ich meine, dass Sie nach
meinem Dafürhalten keine Chance haben!»
«Was?»
«Ihr Mangel an Vorstellungskraft macht Sie zu ei-
ner wandelnden Zielscheibe. Ein Verbrecher mit der
Fantasie eines U.N. Owen kann jederzeit, wenn er –
oder sie – es will, die Jagd auf Sie eröffnen.»
Blores Gesicht lief puterrot an.
«Und wie sieht’s mit Ihnen aus?», fragte er mit wut-
erstickter Stimme.
Philip Lombards Gesicht wurde hart und gefähr-
lich.
«Ich kenne mich selbst ziemlich gut. Ich saß schon
öfter in der Klemme und bin immer wieder heraus-
gekommen! Ich glaube – mehr will ich dazu nicht
sagen –, aber ich glaube, auch aus dieser werde ich
wieder herauskommen.»
In der Bratpfanne brutzelten die Eier. Vera toastete
das Brot und hing ihren Gedanken nach.
«Warum habe ich mich bloß mit diesem hysteri-
schen Auftritt lächerlich gemacht? Das war ein Rie-
senfehler. Bleib ruhig, Vera, bleib ganz ruhig.»
Auf ihren kühlen Kopf war sie doch immer so stolz
gewesen!
Miss Claythorne war wundervoll – behielt klaren
Kopf – schwamm ohne Zögern sofort hinter Cyril
her.»
Warum fiel ihr das ausgerechnet jetzt ein? Das alles
war vorbei – vorbei… lange bevor sie den Felsen
erreichte, war Cyril schon verschwunden. Sie hatte
gespürt, wie die Störung sie erfasste und in die offene
See hinaustrug. Sie hatte sich treiben lassen – war mit
ruhigen Zügen geschwommen, getragen vom Wasser
– bis das Boot sie schließlich erreichte…
Alle hatten sie für ihren Mut und ihre Kaltblütigkeit
gelobt…
Alle außer Hugo. Hugo hatte sie einfach nur ange-
sehen…
Gott, wie weh es, selbst jetzt noch, tat, an Hugo zu
denken…
Wo war er? Was machte er? War er verlobt – ver-
heiratet?
«Vera, der Toast verbrennt», sagte Emily Brent
scharf.
«Entschuldigen Sie, Miss Brent. Wie dumm von
mir!»
Emily Brent hob das letzte Ei aus dem zischenden
Fett.
Vera steckte ein frisches Stück Brot auf die Toast-
gabel. «Sie sind bewundernswert ruhig, Miss Brent.»
«Ich wurde dazu erzogen, mich zu beherrschen und
kein Theater zu machen», sagte Emily Brent und
presste die Lippen zusammen.
Vera dachte automatisch: «Als Kind unterdrückt…
das erklärt einiges…» Laut fragte sie: «Haben Sie kei-
ne Angst?»
Sie hielt kurz inne. Dann fügte sie hinzu: «Oder
macht es Ihnen nichts aus zu sterben?»
Sterben! Wie ein kleiner spitzer Nagel bohrte sich
dieses Wort in Emily Brents feste, erstarrte Hirnmas-
se. Sterben? Aber sie würde doch nicht sterben! Die
anderen – ja, die würden sterben – aber nicht sie,
Emily Brent. Dieses Mädchen hatte keine Ahnung!
Selbstverständlich hatte Emily keine Angst – kein
Brent hatte je Angst gehabt. Ihre ganze Sippe hatte in
der Armee gedient. Sie hatten dem Tod ohne mit der
Wimper zu zucken ins Auge geblickt. Hatten ein auf-
rechtes Leben geführt, so wie sie selbst, Emily Brent,
ein aufrechtes Leben geführt hatte… Sie hatte noch
nie etwas getan, für das sie sich schämen müsste…
Und deshalb würde sie natürlich auch nicht ster-
ben…
«Der Herr kümmert sich um die Seinen. Du sollst
dich nicht fürchten vor dem Schrecken der Nacht,
noch vor dem Pfeil, der am Tage fliegt…» Jetzt war
es Tag – es gab keinen Schrecken. Keiner von uns
wird diese Insel verlassen. Wer hatte das gesagt? Na-
türlich, es war General MacArthur gewesen, dessen
Cousin Elsie MacPherson geheiratet hatte. Ihm
schien das nichts auszumachen. Im Gegenteil, es sah
ganz so aus, als würde er diese Vorstellung begrüßen!
Schlimm! Beinahe eine Sünde, so zu empfinden.
Manche Leute hatten so wenig Respekt vor dem
Tod, dass sie sich tatsächlich selbst das Leben nah-
men. Beatrice Taylor vergangene Nacht hatte sie von
Beatrice geträumt – hatte geträumt, dass sie draußen
war, ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe gepresst
und gestöhnt und gefleht hatte, hereingelassen zu
werden. Emily Brent hatte sie nicht hereinlassen wol-
len, denn wenn sie es tat, würde etwas Schreckliches
geschehen…
Mit einem Ruck kam Emily zu sich. Vera sah sie so
sonderbar an.
Energisch ergriff sie das Wort: «Alles fertig, meine
Liebe. Jetzt tragen wir das Frühstück hinein.»
VI
Beim Frühstück herrschte eine seltsame Stimmung.
Alle waren ausgesprochen höflich.
«Darf ich Ihnen noch Kaffee nachschenken, Miss
Brent?»
«Miss Claythorne, eine Scheibe Schinken?»
«Noch etwas Toast?»
Sechs Personen, alle äußerlich gefasst und ganz
normal.
Aber wie sah es in ihrem Inneren aus? Ihre Gedan-
ken jagten in ihren Köpfen herum wie Eichhörnchen
im Käfig…
«Was passiert als Nächstes? Was kommt jetzt?
Wer? Was?»
«Würde es klappen? Ich weiß nicht recht. Einen
Versuch ist es wert. Wenn genug Zeit bleibt. Mein
Gott, wenn genug Zeit bleibt…»
«Religiöser Wahn, das ist der Schlüssel… Obwohl –
wenn man sie so anschaut, kann man kaum glau-
ben… angenommen, ich irre mich…»
«Es ist verrückt – alles ist verrückt. Ich werde ver-
rückt. Wolle, die verschwindet – ein roter Vorhang –,
es ergibt alles keinen Sinn… Ich kann mir keinen
Reim darauf machen…»
«Der blöde Idiot hat alles geglaubt, was ich ihm er-
zählt habe. Es war so einfach… aber ich muss vor-
sichtig sein, wirklich sehr vorsichtig.»
«Sechs von diesen kleinen Porzellanfiguren… nur
noch sechs – wie viele werden es heute Abend noch
sein?»
«Wer möchte das letzte Ei?»
«Konfitüre?»
«Danke, kann ich Ihnen ein Brot abschneiden?»
Sechs Personen, die ganz normal zusammen frühs-
tückten…
Zwölftes Kapitel
D as Frühstück war vorüber.
Richter Wargrave räusperte sich und sagte
mit leiser, aber gebieterischer Stimme:
«Ich glaube, es wäre ratsam, dass wir uns zusam-
mensetzen und die Lage besprechen. Sollen wir sa-
gen, in einer halben Stunde im Salon?»
Alle murmelten Zustimmung.
Vera begann die Teller zusammenzustellen und
sagte: «Ich decke den Tisch ab und mache den Ab-
wasch.»
«Wir bringen Ihnen die Sachen in die Spülküche»,
bot Philip Lombard an.
«Danke.»
Emily Brent, die gerade aufstehen wollte, setzte
sich wieder.
«Ach herrje», sagte sie.
«Ist etwas, Miss Brent?», fragte der Richter.
«Es tut mir so Leid», entschuldigte Emily sich, «ich
würde Miss Claythorne gerne helfen. Ich weiß nicht
wieso, aber ich fühle mich etwas schwindlig.»
«Schwindlig?» Dr. Armstrong trat zu ihr. «Durchaus
natürlich. Verzögerter Schock. Ich kann Ihnen etwas
geben, das…»
«Nein!»
Das Wort explodierte wie eine Granate auf ihren
Lippen.
Jeder war entsetzt. Dr. Armstrongs Gesicht lief
flammend rot an. Die Angst und das Misstrauen in
ihrem Blick waren nicht zu übersehen.
«Wie Sie wünschen, Miss Brent», sagte er steif.
«Ich wünsche nichts einzunehmen», wiederholte sie
noch einmal. «Absolut nichts. Ich werde ruhig hier
sitzen bleiben, bis der Schwindelanfall wieder vorü-
ber ist.»
Sie räumten weiter zusammen den Frühstückstisch
ab.
«Ich bin ein häuslicher Typ», sagte Blore. «Ich helfe
Ihnen gern, Miss Claythorne.»
«Ich danke Ihnen», antwortete Vera.
Emily Brent blieb allein im Esszimmer sitzen.
Eine Weile drang schwaches Stimmengemurmel
aus der Spülküche zu ihr herüber.
Das Schwindelgefühl legte sich. Jetzt fühlte sie sich
schläfrig, so, als könnte sie jeden Moment einnicken.
In ihren Ohren summte es – oder war das Summen
im Zimmer?
«Klingt wie eine Biene – eine Hummel vielleicht»,
dachte sie.
Jetzt sah sie die Biene. Sie krabbelte gerade die
Fensterscheibe hoch.
Vera Claythorne hatte heute Morgen über Bienen
geredet. Bienen und Honig…
Sie mochte Honig, Honig aus der Wabe, den man
selbst durch ein Musselintuch filterte. Tropf, tropf,
tropf…
Da war jemand im Zimmer… jemand, der nass war
und tropfte… Beatrice Taylor kam aus dem Fluss…
Sie brauchte ihren Kopf nur umdrehen, dann wür-
de sie sie sehen. Aber sie konnte ihren Kopf nicht
bewegen…
Sollte sie um Hilfe rufen… Aber sie konnte nicht
rufen…
Es war niemand sonst im Haus. Sie war allein…
Sie hörte Schritte – leichte, schleppende Schritte,
die von hinten auf sie zukamen. Die stolpernden
Schritte des ertrunkenen Mädchens…
Ein nasser, modriger Geruch stieg ihr in die Na-
se…
An der Fensterscheibe summte die Biene –
brummte…
Dann fühlte sie den Stich.
Den Bienenstich an der Seite ihres Halses…
II
Im Salon warteten alle auf Emily Brent.
«Soll ich sie holen?», bot Vera sich an.
«Einen Augenblick noch», bat Blore.
Vera setzte sich wieder. Jeder sah fragend zu Blore.
«Alle mal herhören», trompetete er. «Ich bin der
Meinung, wir brauchen nicht weiter nach unserem
Mörder zu suchen, wir finden ihn im Esszimmer ne-
benan. Ich schwöre jeden Eid, dass die Frau der Tä-
ter ist, den wir suchen.»
«Und das Motiv?», fragte Armstrong.
«Religiöser Wahn. Was sagen Sie dazu, Doktor?»
«Gut möglich. Dagegen kann ich nichts vorbringen.
Aber wir haben natürlich keine Beweise.»
«Sie war sehr sonderbar in der Küche, als wir das
Frühstück machten. Ihre Augen… », erinnerte sich
Vera schaudernd.
«Das beweist gar nichts», warnte Lombard. «Wir
sind doch alle inzwischen etwas durcheinander!»
«Da ist noch was», schnaubte Blore. «Sie ist die
Einzige, die nach dem Abspielen der Schallplatte kei-
ne Erklärung gegeben hat. Warum wohl? Weil sie
nichts zu erklären hatte.»
Vera rutschte unruhig in ihrem Sessel hin und her.
«Das stimmt nicht ganz. Sie hat mir alles erzählt –
nachher.»
«Was hat sie Ihnen erzählt, Miss Claythorne?», frag-
te Wargrave.
Vera wiederholte die Geschichte von Beatrice Tay-
lor.
«Eine vollkommen glaubwürdige Geschichte», stell-
te Richter Wargrave fest. «Ich persönlich hätte damit
keinerlei Probleme. Sagen Sie, Miss Claythorne, sah
es so aus, als würde sie wegen ihres Verhaltens von
Schuldgefühlen oder Gewissensbissen geplagt?»
«In keinster Weise», berichtete Vera. «Sie war völlig
ungerührt.»
«Herzen, hart wie Granit», schimpfte Blore. «Diese
selbstgerechten alten Jungfern! Nichts als Neid!»
«Es ist jetzt fünf vor elf», sagte Richter Wargrave.
«Ich finde, wir sollten Miss Brent auffordern, an un-
serer Sitzung teilzunehmen.»
«Werden Sie denn nichts unternehmen?», fragte
Blore.
«Ich sehe nicht recht, was wir tun könnten. Unser
Verdacht ist augenblicklich nur ein Verdacht. Ich
werde aber Dr. Armstrong bitten, Miss Brents Be-
nehmen sehr sorgfältig zu beobachten. Lassen Sie
uns jetzt ins Esszimmer gehen.»
Sie fanden Emily Brent in dem Sessel sitzend, in
dem sie sie zurückgelassen hatten. Von hinten sahen
sie nichts Verdächtiges, außer dass sie ihr Herein-
kommen nicht zu bemerken schien.
Dann sahen sie ihr Gesicht… Es war blutunterlau-
fen, mit blauen Lippen und starren Augen.
«Mein Gott, sie ist tot!», rief Blore.
III
Richter Wargrave sprach mit leiser, ruhiger Stimme:
«Und wieder wurde einer von uns freigesprochen –
leider zu spät!»
Armstrong stand über die Tote gebeugt. Er roch an
ihren Lippen, schüttelte den Kopf, spähte in die Au-
genlider.
«Wie ist sie gestorben, Doktor?», fragte Blore. «Sie
war völlig in Ordnung, als wir sie verlassen haben!»
Gebannt starrte Armstrong auf das Mal auf ihrer
rechten Halsseite.
«Das ist der Einstich einer Spritze», erklärte er.
Vom Fenster kam ein brummendes Geräusch.
«Da – eine Biene», rief Vera laut. «Eine Biene. Was
habe ich heute Morgen gesagt!»
«Die Biene hat sie nicht gestochen!», sagte
Armstrong grimmig. «Ein Mensch hat die Spritze in
der Hand gehalten.»
«Welches Gift wurde injiziert?», fragte der Richter.
«Ich vermute, eines der Zyanide. Vermutlich Zyan-
kali, genau wie bei Anthony Marston», erläuterte
Armstrong. «Sie muss innerhalb von Sekunden ge-
storben sein – erstickt.»
«Aber was ist mit der Biene?», rief Vera laut. «Das
kann doch kein Zufall sein?»
«O nein, das ist kein Zufall!», gab Armstrong ihr
grimmig Recht. «Es ist die Vorliebe unseres Mörders
für das Besondere! Er spielt mit uns. Will so nahe
wie möglich an seinem verdammten Kinderreim
bleiben!»
Zum ersten Mal klang seine Stimme unnatürlich,
fast schrill. Als ob selbst seine Nerven, die sich schon
so oft in schwierigen Lagen und gefährlichen Situa-
tionen bewährt hatten, jetzt dem Zerreißen nahe
waren.
«Das Ganze ist verrückt – total wahnsinnig –, wir
alle sind wahnsinnig!», brach es heftig aus ihm he-
raus.
«Wir sind noch im Vollbesitz unserer geistigen
Kräfte», entgegnete der Richter ruhig. «Das hoffe ich
zumindest. Hat jemand hier eine Spritze mit in dieses
Haus gebracht?»
Dr. Armstrong richtete sich auf. «Ja, ich», meldete
er mit leicht unsicherer Stimme.
Vier Augenpaare richteten sich auf ihn. Er wappne-
te sich gegen die Feindseligkeit und den Verdacht,
der ihm aus diesen Augen entgegensprang.
«Ich reise nie ohne», verteidigte er sich. «Das ma-
chen die meisten Ärzte so…»
«Durchaus», sagte der Richter ruhig. «Würden Sie
uns bitte verraten, Doktor, wo diese Spritze sich jetzt
befindet?»
«Im Koffer auf meinem Zimmer.»
«Wir sollten diesen Sachverhalt besser überprüfen»,
schlug Wargrave vor.
In schweigender Prozession gingen alle fünf zu
Armstrongs Zimmer hinauf. Der Inhalt des Koffers
wurde auf den Fußboden gekippt.
Die Spritze fand sich nicht.
IV
«Jemand muss sie gestohlen haben!», sagte
Armstrong wütend.
Im Zimmer herrschte Schweigen.
Mit dem Rücken zum Fenster stand Armstrong da.
Vier Augenpaare, aus denen unverhohlen Verdacht
und Anklage sprachen, waren auf ihn gerichtet. Er
sah von Wargrave zu Vera und stammelte hilflos:
«Ich sage Ihnen, jemand muss sie gestohlen haben.»
Blore schaute zu Lombard, der seinen Blick erwi-
derte.
«Wir sind hier im Zimmer zu fünft», sagte der Rich-
ter. «Einer von uns ist ein Mörder. Die Lage ist
höchst gefährlich. Es muss alles darangesetzt werden,
die vier von uns, die unschuldig sind, zu schützen.
Ich frage Sie daher, Dr. Armstrong, welche Arznei-
mittel befinden sich in Ihrem Besitz?»
«Ich habe einen kleinen Arztkoffer bei mir, den Sie
gerne untersuchen können. Sie werden darin ein paar
Schlafmittel finden – Trional und Sulphonaltabletten
–, eine Schachtel Bromid, Natriumbicarbonat, Aspi-
rin. Weiter nichts. Zyankali befindet sich nicht in
meinem Besitz.»
«Auch ich habe ein paar Schlaftabletten dabei», ge-
stand der Richter. «Ich glaube, Sulphonal. In entspre-
chend hoher Dosis eingenommen, wären sie wahr-
scheinlich tödlich. In Ihrem Besitz, Mr. Lombard,
befindet sich ein Revolver.»
«Und wenn…», schnappte Lombard zurück.
«Nur so viel. Ich schlage vor, dass wir die gesamten
Medikamente des Doktors, meine Sulphonaltablet-
ten, Ihren Revolver und alles andere, was mit Arz-
neimitteln oder Waffen zu tun hat, einsammeln und
an einem sicheren Ort verwahren. Wenn das gesche-
hen ist, sollten wir uns alle einer Durchsuchung un-
terziehen, und zwar sowohl einer Leibesvisitation als
auch einer Durchsuchung aller unserer Sachen.»
«Ich wäre ja verrückt, wenn ich meinen Revolver
aus der Hand gäbe!», meinte Lombard aufgebracht.
Wargrave sah ihn scharf an:
«Mr. Lombard, Sie sind ein kräftig gebauter und
durchtrainierter junger Mann, aber auch Inspektor
Blore ist von ausgesprochen kräftiger Statur. Wie ein
Kampf zwischen Ihnen beiden ausgehen würde, weiß
ich nicht. Ich kann Ihnen aber eines versichern: Auf
Blores Seite werden außer mir noch Dr. Armstrong
und Miss Claythorne sein und ihm nach besten Kräf-
ten beistehen. Ich versichere Ihnen, es sieht nicht gut
aus für Sie, sollten Sie sich weiterhin weigern.»
Lombard warf den Kopf in den Nacken. Seine
Zähne entblößten sich in einem wölfischen Knurren.
«Also gut. Das haben Sie sich ja wirklich schön
ausgedacht.»
Richter Wargrave nickte. «Sie sind ein vernünftiger
junger Mann. Wo ist also Ihr Revolver?»
«In der Nachttischschublade neben meinem Bett.»
«Sehr gut.»
«Ich hole ihn.»
«Ich glaube, es wäre gut, wenn wir alle mitgingen.»
Philips Lächeln glich immer mehr dem Knurren ei-
nes Hundes, als er sagte: «Was sind Sie bloß für ein
misstrauischer alter Teufel.»
Sie gingen den Gang hinunter zu Lombards Zim-
mer.
Mit großen Schritten ging Philip zum Nachttisch
und riss die Schublade auf. Laut fluchend fuhr er
zurück.
Die Nachttischschublade war leer.
«Zufrieden?», fragte Lombard.
Er hatte sich bis auf die nackte Haut ausgezogen,
und die anderen drei Männer hatten sowohl ihn als
auch sein Zimmer peinlich genau untersucht.
Vera Claythorne wartete draußen auf dem Gang.
Die Suche wurde systematisch fortgesetzt. Reihum
unterwarfen sich Armstrong, der Richter und Blore
der gleichen Prozedur.
Die vier Männer tauchten wieder aus Blores Zim-
mer auf. Der Richter wandte sich an Vera:
«Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, Miss Clay-
thorne, dass wir keine Ausnahmen machen können.
Dieser Revolver muss gefunden werden. Haben Sie
einen Badeanzug dabei?» Vera nickte.
«Dann muss ich Sie bitten, in Ihr Zimmer zu ge-
hen, ihn anzuziehen und wieder zu uns zu kommen.»
Vera lief in ihr Zimmer und schloss die Tür. In we-
niger als einer Minute kam sie zurück. Sie trug einen
eng anliegenden Badeanzug aus Seide.
Wargrave nickte anerkennend.
«Ich danke Ihnen, Miss Claythorne. Wenn Sie nun
bitte hier bleiben, während wir Ihr Zimmer durchsu-
chen.»
Geduldig wartete Vera auf dem Gang, bis sie wie-
der herauskamen. Dann ging sie wieder in ihr Zim-
mer, zog sich an und kam zu den Wartenden zurück.
«Wir sind jetzt in einer Sache ganz sicher», sagte der
Richter. «Keiner von uns fünfen ist im Besitz einer
tödlichen Waffe oder gefährlicher Arzneimittel. Das
ist erfreulich. Wir müssen die Arzneimittel jetzt nur
noch an einen sicheren Ort bringen. Ich glaube, in
der Anrichte gibt es einen Besteckkasten.»
«Alles schön und gut», murrte Blore. «Aber wer be-
kommt den Schlüssel dafür? Sie wahrscheinlich.»
Richter Wargrave blieb ihm die Antwort schuldig.
Er ging in die Anrichte, und die anderen folgten
ihm. Dort stand der Kasten für die Aufbewahrung
des Tafelsilbers. Auf Anweisung des Richters wurden
die verschiedenen Medikamente hineingelegt, dann
wurde der Kasten verschlossen. Danach wurde er,
immer noch auf Weisung des Richters, in den Ge-
schirrschrank gestellt, der seinerseits verschlossen
wurde. Anschließend übergab der Richter den
Schlüssel für den Kasten an Philip Lombard und den
Schlüssel für den Schrank an Blore.
«Sie beide sind körperlich die stärksten», erklärte er.
«Es wäre für jeden von Ihnen beiden schwierig, dem
anderen den Schlüssel abzunehmen. Für uns übrige
drei ist es gänzlich unmöglich. Den Schrank oder den
Kasten aufzubrechen, wäre ein mühsames und ge-
räuschvolles Unternehmen und könnte kaum durch-
geführt werden, ohne die Aufmerksamkeit aller zu
erregen.»
Er hielt inne. Dann sagte er: «Ein großes Problem
ist noch ungelöst. Was ist mit Mr. Lombards Revol-
ver?»
«Das müsste der Besitzer am besten wissen»,
schnaubte Blore.
Lombard wurde weiß um die Nase.
«Sie verdammter, vernagelter Idiot! Er ist mir ge-
stohlen worden!»
«Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?», wollte
Wargrave wissen.
«Letzte Nacht. Er lag in der Schublade, als ich ins
Bett gegangen bin – griffbereit, für den Fall, dass
etwas passiert.»
Der Richter nickte. «Er muss heute Morgen, in der
allgemeinen Aufregung bei der Suche nach Rogers
oder als wir seine Leiche entdeckten, gestohlen wor-
den sein.»
«Er muss irgendwo hier im Haus versteckt sein.»
Veras Stimme klang überzeugt. «Wir müssen ihn su-
chen.»
Richter Wargrave strich sich übers Kinn.
«Ich bezweifle, dass unsere Suche etwas bringen
wird», sagte er. «Unser Mörder hatte massenhaft Zeit,
sich ein gutes Versteck auszudenken. Es wird nicht
einfach sein, den Revolver zu finden.»
«Ich weiß zwar nicht, wo der Revolver ist», warf
Blore ein, «aber ich gehe jede Wette ein, dass ich
weiß, wo wir die Spritze finden werden. Kommen Sie
mit.»
Er öffnete die vordere Eingangstür und führte die
anderen um das Haus herum. Nicht weit vom Ess-
zimmerfenster fand er die Spritze. Daneben lag eine
zerschlagene Porzellanfigur – ein sechstes zerbro-
chenes Negerlein.
«Der einzige Ort, wo sie sein konnte.» Blores
Stimme war satt vor Zufriedenheit. «Nachdem er sie
getötet hatte, öffnete der Mörder das Fenster, warf
die Spritze hinaus, nahm die Porzellanfigur vom
Tisch und warf sie hinterher.»
Auf der Spritze fanden sich keine Fingerabdrücke.
Sie war sorgfältig abgewischt worden.
«Lassen Sie uns jetzt nach dem Revolver suchen!»,
schlug Vera vor.
«Unbedingt», stimmte Richter Wargrave ihr zu.
«Aber wir sollten darauf achten, dass wir alle zusam-
menbleiben. Denken Sie bitte daran, wenn wir uns
trennen, bekommt der Mörder seine Chance.»
Sie durchkämmten das Haus sorgfältig vom Dach-
boden bis zu den Kellerräumen. Ohne jeden Erfolg.
Der Revolver war und blieb verschwunden.
Dreizehntes Kapitel
«E iner von uns… einer von uns… einer von
uns…»
Drei Worte, die sich, endlos wiederholt,
Stunde um Stunde tiefer in ihre aufgewühlten Gemü-
ter hineinfraßen.
Fünf Menschen – fünf verschreckte Menschen, die
sich gegenseitig belauerten und sich jetzt kaum noch
bemühten, den Zustand ihrer überreizten Nerven
voreinander zu verbergen.
Man spielte sich nichts mehr vor – auf oberflächli-
che Konversation wurde verzichtet. Aus ihnen waren
fünf Feinde geworden, einzig durch den gemeinsa-
men Trieb zur Selbsterhaltung aneinander gekettet.
Und alle sahen sie plötzlich immer weniger wie
menschliche Wesen aus. Ihre animalischen Züge tra-
ten wieder stärker hervor. Wie eine misstrauische alte
Schildkröte saß Richter Wargrave in sich verkrochen
da, der Körper bewegungslos, die Augen scharf und
lauernd. Exinspektor Blore wirkte wuchtiger und
unbeholfener. Sein Gang glich dem Trott eines lang-
samen, schwergewichtigen Tieres. Seine Augen war-
en blutunterlaufen. Er strahlte Brutalität und
Dummheit aus. Blore glich einem in die Enge getrie-
benen Tier, das jederzeit auf seine Verfolger losgehen
kann. Philip Lombards Sinne waren eher noch schär-
fer geworden. Seine Ohren reagierten auf das kleinste
Geräusch, sein Gang war leichter und schneller, sein
Körper elastisch und anmutig. Er lächelte häufig,
und dabei legten seine Lippen lange, weiße Zähne
frei.
Vera Claythorne war sehr still. Die meiste Zeit saß
sie zusammengekauert in einem Sessel. Ihre Augen
starrten ins Leere. Sie war wie betäubt. Sie glich ei-
nem Vogel, der gegen eine Glasscheibe geflogen und
von einer menschlichen Hand aufgehoben worden
war. Starr vor Angst saß sie jetzt da, unfähig, sich zu
rühren, darauf vertrauend, dass alles gut ausgehen
würde, wenn sie sich nur nicht bewegte.
Armstrongs Nerven waren in desolatem Zustand.
Immer wieder zuckte er zusammen, und seine Hände
zitterten. Er zündete eine Zigarette nach der anderen
an und drückte sie sofort wieder aus. Die Untätigkeit,
zu der sie in ihrer Lage verdammt waren, schien ihn
noch mehr als die anderen zu quälen. Von Zeit zu
Zeit brach ein nervöser Redeschwall aus ihm hervor.
«Wir – wir sollten hier nicht tatenlos herumsitzen!
Es muss doch irgendetwas geben – bestimmt gibt es
doch irgendetwas, das wir tun können? Warum zün-
den wir nicht ein Feuer an?»
«Bei diesem Wetter?», knurrte Blore.
Es regnete wieder in Strömen. Der Sturm heulte in
wilden Böen. Das deprimierende Geräusch des nie-
derprasselnden Regens ließ sie fast wahnsinnig wer-
den.
Stillschweigend hatten sie sich auf eine gemeinsame
Strategie geeinigt. Sie saßen alle im großen Salon.
Nur jeweils einer allein durfte den Raum verlassen.
Die anderen vier warteten dann, bis der Fünfte wie-
der zurückkam.
«Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich das
Wetter wieder beruhigt», sagte Lombard. «Dann
können wir etwas unternehmen – Zeichen geben –
einen Scheiterhaufen entzünden – ein Floß bauen –
irgendwas!»
Armstrong brach in meckerndes Gelächter aus.
«Nur eine Frage der Zeit – der Zeit! Zeit können
wir uns nicht leisten! Wir werden bald alle tot sein…»
Mit seiner leisen und klaren Stimme, aus der leiden-
schaftliche Entschlossenheit sprach, sagte Richter
Wargrave: «Nicht, wenn wir vorsichtig sind. Wir
müssen vorsichtig sein…»
Das Mittagessen war pflichtbewusst verspeist wor-
den – aber auf Förmlichkeiten wurde gänzlich ver-
zichtet. Alle fünf waren in die Küche gegangen. In
der Speisekammer hatten sie einen beträchtlichen
Vorrat an Konserven gefunden. Sie hatten eine Dose
Zunge und zwei Dosen Obst aufgemacht und im
Stehen am Küchentisch gegessen. Danach waren sie
wieder gemeinsam zurück in den Salon gegangen, um
wieder dazusitzen und sich gegenseitig zu belauern.
Und langsam wurden die Gedanken, die ihnen
durch den Kopf jagten, abwegig, fiebrig, krank…
«Es ist Armstrong… ich hab genau gesehen, wie er
mich gerade schräg von der Seite angeguckt hat… in
seinen Augen steht der Irrsinn… kompletter Irr-
sinn… Vielleicht ist er gar kein Arzt… Natürlich, das
ist es! Er ist ein Verrückter, aus einer Anstalt ent-
sprungen und tut jetzt so, als wär er Arzt… das ist
die Wahrheit… soll ich das den anderen sagen?… Es
he rausschreien?… Nein, er wäre nur gewarnt… Au-
ßerdem wirkt er so verdammt normal… wie spät ist
es?… Erst Viertel nach drei!… O Gott, ich werde
selbst noch verrückt… Ja, es ist Armstrong!… Gera-
de jetzt beobachtet er mich…»
«Mich werden sie nicht kriegen! Ich kann auf mich
aufpassen… Ich habe schon früher in der Klemme
gesessen. Wo zum Teufel ist der Revolver?… Wer
hat ihn gestohlen?… Wer hat ihn jetzt?… Keiner hat
ihn, das wissen wir doch… Wir wurden alle durch-
sucht… Keiner kann ihn haben… Aber einer weiß,
wo er ist…»
«Die werden langsam verrückt… alle werden sie
verrückt… vor Todesangst… wir haben alle Angst
vor dem Tod… auch ich habe Angst vor dem Tod…
Ja…, aber das hält den Tod nicht ab… ‹Der Lei-
chenwagen ist vorgefahren, Sir!› Wo habe ich das
bloß gelesen? Die junge Frau… ich werde die junge
Frau beobachten… Genau, ich werde die junge Frau
beobachten…»
«Zwanzig vor vier… erst zwanzig vor vier… viel-
leicht ist die Uhr stehen geblieben… Ich versteh das
nicht – nein, ich versteh das nicht. So was kann gar
nicht passieren… aber es passiert… Warum wachen
wir nicht auf? Wachet auf – der Tag des Gerichts –
nein, bloß das nicht!… Wenn ich nur denken könn-
te… Mein Kopf – irgendwas geschieht da in meinem
Kopf… er platzt gleich, er wird zerspringen… so
was kann einfach nicht passieren… wie spät ist es? O
Gott, es ist erst Viertel vor vier!»
«Ich muss kühlen Kopf bewahren… kühlen Kopf
bewahren… wenn ich nur ruhig bleiben kann… Es
ist alles vollkommen klar – alles gut geplant. Aber
keiner darf Verdacht schöpfen. Es könnte gelingen.
Es muss einfach gelingen! Wer ist der Nächste? Das
ist hier die Frage – wer? Ich glaube – ja, ich glaube,
jawohl, er.»
Als die Uhr fünf schlug, fuhren alle zusammen.
«Möchte jemand vielleicht – Tee?», fragte Vera.
Einen Moment herrschte Stille, dann sagte Blore:
«Ich hätte gern eine Tasse.»
Vera stand auf. «Ich werde Tee machen. Sie kön-
nen alle hier bleiben.»
Richter Wargrave sagte sanft: «Ich glaube, Verehr-
teste, wir würden alle lieber mitkommen und Ihnen
bei der Zubereitung Gesellschaft leisten.»
Vera erstarrte, dann lachte sie kurz und hysterisch.
«Natürlich. Ich verstehe!»
Fünf Menschen gingen in die Küche. Der Tee wur-
de zubereitet und von Vera und Blore getrunken. Die
übrigen drei entschieden sich für Whisky aus einer
frisch geöffneten Flasche und Soda aus einem noch
verplombten Siphon.
Mit dem Lächeln eines Reptils murmelte der Rich-
ter: «Wir müssen sehr vorsichtig sein…»
Sie gingen alle zurück in den Salon. Obwohl es
Sommer war, wirkte der Raum düster. Lombard
schaltete die Lampen ein, doch sie gingen nicht an.
«Natürlich! Der Stromgenerator lief heute den gan-
zen Tag nicht, weil Rogers sich nicht darum küm-
mern konnte.»
Er zögerte. «Wir könnten rausgehen, wahrschein-
lich bringen wir ihn zum Laufen.»
«Im Vorratsraum habe ich eine Packung Kerzen
gesehen», sagte der Richter. «Es ist besser, wenn wir
die benutzen.»
Lombard ging hinaus. Die übrigen vier blieben sit-
zen und beobachteten einander. Mit einer Schachtel
Kerzen und einem Stapel Untertassen kam Lombard
zurück.
Fünf Kerzen wurden angezündet und im Zimmer
verteilt.
Es war Viertel vor sechs.
II
Um zwanzig nach sechs hielt Vera das Herumsitzen
nicht länger aus. Sie beschloss, auf ihr Zimmer zu
gehen und sich den schmerzenden Kopf und die
Schläfen mit kaltem Wasser zu kühlen.
Sie stand auf und ging zur Tür. Rechtzeitig erinner-
te sie sich jedoch, kam zurück und nahm sich eine
Kerze aus der Schachtel. Sie zündete sie an, ließ et-
was Wachs auf eine Untertasse tropfen und drückte
die Kerze fest hinein. Dann verließ sie das Zimmer,
schloss die Tür hinter sich und ließ die vier Männer
drinnen allein zurück. Sie stieg die Treppe hoch und
ging den Gang entlang zu ihrem Zimmer.
Als sie die Tür öffnete, blieb sie plötzlich stehen
und stand wie erstarrt.
Ihre Nasenflügel bebten.
Das Meer… der Geruch des Meeres bei St. Tre-
dennick.
Das war es. Sie konnte sich nicht täuschen. Natür-
lich roch man das Meer auf einer Insel immer, aber
dies hier war anders. So hatte es an jenem Tag am
Strand gerochen – es war Ebbe, und die Felsen war-
en mit Seetang bedeckt, der in der Sonne trocknete.
«Kann ich zur Insel hinausschwimmen, Miss Clay-
thorne?»
«Warum darf ich nicht zur Insel rausschwimmen?»
Verwöhntes, weinerliches Balg. Wenn es Cyril nicht
geben würde, wäre Hugo ein reicher Mann… könnte
die Frau, die er liebt, heiraten…
Hugo…
Aber – war das nicht – Hugo neben ihr? Nein, Hu-
go wartete drinnen im Zimmer auf sie…
Sie machte einen Schritt vorwärts. Ein Luftzug
vorn Fenster erfasste die Flamme der Kerze, sie fla-
ckerte und erlosch…
In der Dunkelheit packte sie plötzlich die Angst…
«Mach dich nicht lächerlich», redete sie sich gut zu.
«Es ist alles in Ordnung. Die anderen sind unten.
Alle vier. In diesem Zimmer ist niemand. Kann gar
niemand sein. Deine Fantasie geht mal wieder mit dir
durch, Vera.»
Aber dieser Geruch – dieser Geruch, wie am Strand
von St. Tredennick… den bildete sie sich nicht ein.
Der war echt.
Im Zimmer war doch jemand… Sie hatte etwas ge-
hört – plötzlich hatte sie etwas gehört…
Und dann, als sie so dastand und lauschte, berührte
eine kalte, feuchte Hand ihre Kehle – eine nasse
Hand, die nach Meer roch…
III
Vera schrie. Sie schrie und schrie – Schreie äußersten
Entsetzens – wilde, verzweifelte Schreie um Hilfe.
Sie hörte die Geräusche von unten nicht, das Pol-
tern eines umgeworfenen Stuhls, das Quietschen ei-
ner aufspringenden Tür, die Schritte der Männer, die
die Treppe hochliefen. In ihr war nichts als blankes
Entsetzen.
Dann flackerten im Gang Lichter auf, und sie kam
langsam wieder zu sich. – Kerzen – Männer stürmten
herein –
«Zum Teufel! Was ist hier los? Gütiger Himmel,
was ist passiert?»
Sie schauderte, machte einen Schritt nach vorn und
brach zusammen. Sie merkte kaum, dass sich jemand
über sie beugte, ihr den Kopf zwischen die Knie
drückte.
Dann rief jemand: «Mein Gott, schaut euch das
an!» Und sofort war sie wieder voll bei Bewusstsein.
Sie öffnete die Augen und hob den Kopf. Jetzt sah
sie, worauf die Blicke der Männer mit den Kerzen
gerichtet waren.
Eine breite Girlande aus nassem Seetang hing von
der Decke herab. Das war es, was im Dunkeln ihren
Hals gestreift hatte. Das hatte sie für eine feuchte
Hand gehalten, die Hand eines Ertrunkenen, der aus
dem Totenreich heraufgestiegen war, um sie zu er-
würgen!
Vera brach in ein hysterisches Lachen aus.
Es war Seetang – nur Seetang – das war es, was so
gerochen hatte…
Dann wurde ihr wieder schwarz vor Augen – Wel-
len von Übelkeit fluteten durch ihren Körper. Wie-
der nahm jemand ihren Kopf und zwang ihn zwi-
schen ihre Knie.
Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Jemand gab ihr
etwas zu trinken – drückte ihr ein Glas an die Lip-
pen. Es roch nach Brandy.
Sie wollte den Alkohol gerade dankbar hinunter-
schlucken, als plötzlich so etwas wie eine Alarmglo-
cke in ihrem Kopf schrillte. Sie setzte sich auf und
stieß das Glas weg.
«Wo kommt das her?», fragte sie scharf.
Es war Blores Stimme, die nach längerem Schwei-
gen antwortete: «Ich hab ihn von unten geholt.»
«Das trinke ich nicht!», heulte Vera auf.
Einen Moment lang war es still, dann lachte Lom-
bard.
«Kompliment, Vera», sagte er anerkennend. «Sie
haben alles unter Kontrolle – selbst wenn Sie gerade
zu Tode erschreckt worden sind. Ich hole eine neue
Flasche, die noch niemand geöffnet hat.»
Er ging schnell hinaus.
«Mir geht es schon wieder gut», flüsterte Vera. «Ich
hätte gern etwas Wasser.»
Armstrong half ihr auf die Füße, sie schwankte.
Auf ihn gestützt, ging sie zum Waschbecken. Sie
drehte den Kaltwasserhahn auf und ließ das Glas voll
laufen.
Blore schnaubte wütend: «Der Brandy ist völlig in
Ordnung.»
«Woher wollen Sie das wissen?», fragte Armstrong.
«Ich habe nichts reingetan. Darauf wollen Sie doch
hinaus!», erwiderte Blore ärgerlich.
«Ich sage gar nicht, Sie hätten das getan. Aber Sie
hätten es tun können, Sie oder irgendjemand hätte
die Flasche für genau so eine Gelegenheit präparie-
ren können.»
Lombard kam mit einer neuen Flasche Brandy und
einem Korkenzieher ins Zimmer zurück.
Er hielt Vera die versiegelte Flasche unter die Nase.
«Nur für Sie, Vera. Absolut kein Betrug möglich.»
Er entfernte die Aluminiumfolie und zog den Kor-
ken. «Wir haben Glück, dass es im Haus einen guten
Alkoholvorrat gibt. Wie zuvorkommend von Mr. U.
N. Owen.»
Vera schüttelte sich heftig.
Armstrong hielt das Glas, während Philip den
Brandy einschenkte.
«Sie sollten das jetzt trinken, Miss Claythorne», re-
dete ihr Armstrong zu. «Sie hatten einen schlimmen
Schock.»
Vera trank ein wenig von dem Brandy. Ihr Gesicht
nahm langsam wieder Farbe an.
«Dieser Mord hier ist nicht ganz nach Plan gelau-
fen», scherzte Philip Lombard.
«Sie glauben – das war Absicht?», fragte Vera mit
erstickter Stimme.
Lombard nickte. «Man hat wohl gehofft, Sie wür-
den vor Angst sterben. Manche Menschen hätten das
getan, nicht wahr, Doktor?»
«Das kann man unmöglich mit Sicherheit sagen»,
antwortete Armstrong ausweichend. «Bei einem jun-
gen, gesunden Menschen ohne Herzschwäche –
ziemlich unwahrscheinlich. Andererseits…»
Armstrong nahm das Glas mit dem Brandy, das
Blore gebracht hatte, in die Hand. Er tauchte einen
Finger hinein und kostete vorsichtig. Sein Gesicht
veränderte sich nicht. «Schmeckt ganz normal», sagte
er unschlüssig.
Wütend trat Blore vor: «Wenn Sie jetzt sagen, ich
hätte da etwas reingetan, schlage ich Ihnen Ihren
gottverdammten Schädel ein.»
Vera, deren Lebensgeister durch den Brandy wieder
erwachten, lenkte von dem heiklen Thema ab und
fragte: «Wo ist eigentlich der Richter?»
Die drei Männer sahen sich an.
«Sonderbar… Dachte, er war mit uns hier hochge-
kommen.»
«Ich auch», sagte Blore. «Sie waren doch auf der
Treppe direkt hinter mir, Doktor, oder?»
«Ich dachte, er käme hinter mir… », sagte
Armstrong. «Etwas langsamer natürlich, er ist ja ein
alter Herr.»
Wieder sahen sie sich an.
«Verdammt komisch…», sagte Lombard.
«Wir müssen ihn suchen», trompetete Blore.
Er lief zur Tür, die anderen folgten ihm. Vera ging
als Letzte.
Als sie die Treppe hinunterstiegen, sagte
Armstrong über die Schulter: «Er könnte natürlich
auch im Salon geblieben sein.»
Sie liefen durch die Eingangshalle. Armstrong rief
laut: «Wargrave, Wargrave, wo sind Sie?»
Es kam keine Antwort. Bis auf das leise Rauschen
des Regens war es totenstill im Haus.
Am Eingang zum Salon blieb Armstrong plötzlich
abrupt stehen. Die anderen versammelten sich um
ihn und schauten ihm über die Schulter.
Jemand schrie auf.
Richter Wargrave saß in seinem Lehnstuhl im hin-
teren Teil des Salons. Rechts und links von ihm
brannten zwei Kerzen. Was die Zuschauer jedoch am
meisten entsetzte und schockierte, war seine Aufma-
chung. Er saß da, in scharlachrotes Tuch gehüllt, mit
einer Richterperücke auf dem Kopf…
Dr. Armstrong gab den anderen zu verstehen, sie
sollten zurückbleiben. Er selbst ging zu der stum-
men, starr blickenden Gestalt hinüber und schwankte
beim Gehen fast ein wenig wie ein Betrunkener.
Er beugte sich vor und blickte in das starre Ge-
sicht. Dann hob er mit einer raschen Bewegung die
Perücke hoch. Sie fiel zu Boden und entblößte die
hohe, kahle Stirn. Genau in der Mitte befand sich ein
rundes, verschmiertes Mal, aus dem etwas he rausge-
sickert war.
Dr. Armstrong ergriff die leblose Hand und fühlte
nach dem Puls. Dann wandte er sich den anderen zu.
«Er wurde erschossen…»
Seine Stimme klang ausdruckslos, tot – wie aus wei-
ter Ferne.
«Verflucht – der Revolver!», schnaubte Blore.
Armstrong sagte mit der gleichen, leblosen Stimme:
«Hat ihn am Kopf erwischt. War sofort tot.»
Vera bückte sich, hob die Perücke auf. «Miss
Brents graue Wolle. Und sie hat danach gesucht… »
Ihre Stimme zitterte vor Entsetzen.
«Und der rote Vorhang aus dem Badezimmer… »,
knurrte Blore.
«Dafür wurden sie also gebraucht…», flüsterte Ve-
ra.
Plötzlich brach Philip Lombard in Gelächter aus –
ein hohes, unnatürliches Lachen.
«Fünf kleine Negerlein, die stritten sich ums Bier.
Eins holte sich der Scharfrichter, da waren’s nur
noch vier. Das ist also das Ende von Scharfrichter
Wargrave. Keine Urteilssprüche mehr! Kein schwar-
zes Barett! Hier sitzt er zum letzten Mal zu Gericht!
Keine Plädoyers mehr, keine Todesurteile für Un-
schuldige. Edward Seton würde ein Freudengeheul
anstimmen, wenn er hier wäre! Der würde sich totla-
chen!»
Sein Ausbruch entsetzte und verblüffte die ande-
ren.
«Heute Morgen haben Sie noch behauptet, er wäre
der, den wir suchen!», empörte sich Vera.
Philip Lombard hatte sich wieder beruhigt.
«Ich weiß, das habe ich gesagt», gab er mit leiser
Stimme zu. «Ich habe mich geirrt. Jetzt gibt es einen
mehr, dessen Unschuld bewiesen ist – wieder zu
spät!»
Vierzehntes Kapitel
S ie hatten Richter Wargrave in sein Zimmer hi-
naufgetragen und aufs Bett gelegt.
Dann waren sie wieder hinuntergegangen.
Nun standen sie in der Eingangshalle und sahen ei-
nander an.
«Was machen wir jetzt?», fragte Blore düster.
«Erst einmal essen», sagte Lombard munter. «Wir
müssen essen, so ist das nun mal!»
Wieder gingen sie in die Küche. Und wieder öffne-
ten sie eine Dose mit Zunge. Alle aßen mechanisch,
ohne viel zu schmecken.
«Ich esse nie wieder Zunge», stöhnte Vera.
Sie hatten das Mahl beendet. Sich gegenseitig beo-
bachtend, saßen sie um den Küchentisch.
«Jetzt sind wir nur noch zu viert», sagte Blore. «Wer
wird der Nächste sein?»
Armstrong starrte ihn an. Fast mechanisch antwor-
tete er: «Wir müssen sehr vorsichtig sein –» Abrupt
hielt er inne.
Blore nickte. «Das hat er immer gesagt – und jetzt
ist er tot!»
«Wie konnte das geschehen?», fragte Armstrong.
Lombard fluchte. «Ein verdammt cleverer Trick!
Jemand hat Miss Claythornes Zimmer mit diesem
Zeug präpariert, und es hat genauso funktioniert, wie
es geplant war. Wir rennen alle nach oben, weil wir
glauben, sie würde gerade umgebracht. Und – in dem
ganzen Trubel – überrascht er den alten Knaben und
legt ihn um.»
«Warum hat niemand den Schuss gehört?», fragte
Blore.
Lombard schüttelte den Kopf.
«Miss Claythorne hat geschrien, der Wind heulte,
wir rannten herum und haben laut nach ihr gerufen.
Da konnte man einfach nichts hören.» Er hielt kurz
inne. «Aber der Trick wird nicht noch einmal funk-
tionieren. Beim nächsten Mal wird er sich etwas
Neues einfallen lassen müssen.»
«Das wird er wohl.» Blores Stimme klang ungemüt-
lich. Die beiden Männer beäugten sich.
«Noch vier von uns», stellte Armstrong fest. «Und
wir wissen nicht, wer davon…»
«Ich weiß…», knurrte Blore.
«Ich habe nicht den geringsten Zweifel…», sagte
Vera.
«Ich vermute, ich weiß jetzt wirklich…», sagte
Armstrong langsam.
«Ich glaube», meldete sich Philip Lombard zu
Wort. «Ich habe jetzt eine ziemlich gute Vorstellung
davon…»
Wieder sahen sich alle an…
Vera stand mühsam auf. «Ich fühle mich scheuß-
lich. Ich muss ins Bett… bin völlig fertig.»
«Ist vielleicht das Beste», meinte Lombard. «Es
bringt nichts, hier herumzusitzen und aufeinander
aufzupassen.»
«Nichts dagegen…», brummte Blore.
Der Doktor murmelte: «Wird wohl das Beste sein –
obwohl ich bezweifle, dass jemand von uns schlafen
wird.»
Sie gingen zur Tür. Blore sagte:
«Ich frage mich, wo dieser Revolver jetzt ist.»
II
Sie stiegen die Treppe hinauf.
Was dann geschah, erinnerte an eine Szene in einer
Komödie.
Jeder der vier stand im Flur, eine Hand auf der
Klinke seiner oder ihrer Zimmertür. Dann öffnete
jeder wie auf Kommando die Tür, ging ins Zimmer
und zog die Tür hinter sich zu. Danach hörte man
das Zuschnappen von Riegeln und Schlössern, das
Quietschen von Möbelstücken, die hin- und herge-
rückt wurden.
Vier verschreckte Menschen hatten sich bis zum
Morgen in ihrem Zimmer verbarrikadiert.
III
Philip Lombard entfuhr ein Seufzer der Erleichte-
rung, nachdem er erfolgreich einen Stuhl unter der
Türklinke eingekeilt hatte.
Er schlenderte zur Frisierkommode.
Im flackernden Licht der Kerze studierte er neugie-
rig sein Gesicht im Spiegel. Dann sprach er leise zu
sich selbst:
«Diese Geschichte hat dich ja ganz schön nervös
gemacht.»
Blitzartig tauchte das wölfische Grinsen wieder auf.
Er zog sich schnell aus, ging zum Bett und legte die
Armbanduhr auf den Nachttisch.
Dann zog er die Schublade heraus.
Er stand da und starrte ungläubig auf den Revolver,
der darin lag…
IV
Vera Claythorne lag im Bett.
Die Kerze neben ihr brannte noch, sie fand nicht
den Mut, sie auszumachen. Sie hatte Angst vor der
Dunkelheit…
Wieder und wieder sagte sie sich: «Bis morgen bist
du in Sicherheit. Gestern Nacht ist nichts passiert,
und heute Nacht wird auch nichts passieren. Es kann
gar nichts passieren. Du hast alles verschlossen und
verriegelt. Niemand kommt an dich heran…»
Und plötzlich dachte sie: «Natürlich! Ich kann hier
bleiben! Kann einfach hier eingeschlossen bleiben!
Essen ist nicht wichtig! Ich kann hier bleiben – in
Sicherheit –, bis Hilfe kommt! Sogar wenn es ein,
zwei Tage dauert…»
Hier bleiben. Ja, aber könnte sie wirklich hier blei-
ben? Stunde um Stunde, ohne mit jemandem zu re-
den, ohne etwas anderes zu tun als grübeln…
Sie würde wieder an Cornwall denken – an Hugo,
an Cyril, an das, was sie zu ihm gesagt hatte.
Dieser grässliche, weinerliche kleine Junge, der sie
ständig genervt hatte…
«Miss Claythorne, warum darf ich nicht zum Felsen
rüberschwimmen? Ich kann’s. Ich weiß, dass ich’s
kann.»
War das wirklich ihre Stimme, die geantwortet hat-
te?
Natürlich kannst du’s, Cyril. Das weiß ich doch.»
«Kann ich dann gehen, Miss Claythorne?»
«Cyril, du weißt doch, was deine Mutter sich für
Sorgen um dich macht. Aber pass auf. Morgen darfst
du zum Felsen hinausschwimmen. Ich werde mich
am Strand mit deiner Mutter unterhalten und sie ein
bisschen ablenken. Und dann, wenn sie nach dir
Ausschau hält, stehst du auf dem Felsen und winkst
ihr zu. Das wird eine Riesenüberraschung!»
«Super, Miss Claythorne, das wird toll!»
Jetzt hatte sie es gesagt. Morgen! Hugo wollte nach
Newquay fahren. Wenn er zurückkam – würde alles
vorüber sein.
Ja, aber gesetzt den Fall, es wäre nicht so? Gesetzt
den Fall, es ginge schief. Was, wenn Cyril noch rech-
tzeitig gerettet würde. Dann, ja, dann würde er sagen:
«Miss Claythorne hat gesagt, ich darf… » Und was
dann? Ein Risiko muss man eingehen!
Wenn es zum Schlimmsten kam, würde sie es
schon durchstehen. «Wie kannst du nur so frech da-
herlügen, Cyril? Das habe ich nie gesagt!» Ihr würde
man glauben. Cyril erzählte häufig irgendwelche Ge-
schichten. Er war kein ehrliches Kind. Natürlich
würde Cyril Bescheid wissen. Aber das machte
nichts… und außerdem würde schon nichts schief
gehen. Sie würde so tun, als ob sie hinter ihm her-
schwimmt, aber sie würde zu spät kommen… Nie-
mand würde auch nur vermuten, dass…
Ob Hugo einen Verdacht hatte? Hatte er sie des-
wegen so sonderbar und irgendwie abwesend ange-
schaut?… Hatte Hugo es geahnt?
War er deshalb nach der polizeilichen Untersu-
chung so überstürzt verschwunden?
Er hatte den einzigen Brief, den sie ihm geschrie-
ben hatte, nie beantwortet…
Hugo…
Vera wälzte sich ruhelos im Bett. Nein, nein, sie
durfte jetzt nicht an Hugo denken. Es tat zu weh!
Das alles war vorbei, vorüber und vorbei… Sie
musste Hugo vergessen.
Weshalb hatte sie heute Abend plötzlich geglaubt,
Hugo sei bei ihr im Zimmer?
Sie starrte zur Decke, auf den großen schwarzen
Haken in der Mitte des Zimmers.
Dieser Haken war ihr vorher nie aufgefallen.
Der Seetang hatte daran gehangen.
Sie zitterte, als sie sich an die feuchtkalte Berührung
erinnerte, die ihren Hals gestreift hatte.
Der Haken an der Decke gefiel ihr nicht. Er zog
den Blick auf sich, übte eine unheimliche Faszination
aus… ein großer, schwarzer Haken…
Exinspektor Blore saß auf der Bettkante.
Seine kleinen, rot umränderten und blutunterlaufe-
nen Augen blickten hellwach aus dem massigen Ge-
sicht. Er sah aus wie ein wilder Eber, der sich zum
Angriff bereitmachte. Ihm war nicht nach Schlafen
zumute.
Die Bedrohung kam jetzt ganz nah… Sechs von
zehn.
Trotz seines Scharfsinns, seiner Vorsicht und Ge-
rissenheit war dem Richter das Schicksal der anderen
nicht erspart geblieben.
Blore schnaubte mit einem Gefühl wilder Genug-
tuung. Was hatte der alte Knacker noch gesagt?
«Wir müssen sehr vorsichtig sein…»
Selbstgerechter, aalglatter alter Heuchler. Saß zu
Gericht und fühlte sich dabei wie Gott der Allmäch-
tige. Jetzt hatte er dafür die Quittung gekriegt… für
ihn war jetzt Schluss mit «vorsichtig sein».
Jetzt waren sie nur noch vier. Das Mädchen, Lom-
bard, Armstrong und er selbst.
Schon bald würde es wieder einen von ihnen erwi-
schen… Aber nicht ihn, William Henry Blore. Dafür
würde er schon sorgen!
(Aber der Revolver… Was war mit dem Revolver?
Der Revolver war und blieb ein Problem!)
Mit zerfurchter Stirn saß Blore auf dem Bett. Er
kniff die kleinen Augen zu und dachte über das
Problem des Revolvers nach…
In der Stille konnte er die Uhren unten schlagen
hören.
Mitternacht.
Er entspannte sich etwas und riskierte sogar, sich
auf dem Bett auszustrecken. Aber er zog sich nicht
aus.
Er lag auf dem Bett und dachte nach. Ging die
ganze Geschichte noch einmal von vorn bis hinten
durch, methodisch und akribisch, wie er es früher im
aktiven Polizeidienst getan hatte. Was sich am Ende
bezahlt machte, war Gründlichkeit.
Die Kerze brannte nieder. Als er sich vergewissert
hatte, dass die Streichhölzer in Griffweite lagen, blies
er sie aus.
Seltsamerweise empfand er die Dunkelheit als be-
unruhigend. Es war, als würden in seinem Kopf
längst vergessene Urängste wach und kämpften in
seinem Bewusstsein um die Vorherrschaft. Gesichter
segelten durch die Luft – das Gesicht des Richters,
grotesk von grauer Wolle gekrönt – das kalte, im Tod
erstarrte Gesicht von Mrs. Rogers – das verzerrte,
purpurrote Gesicht von Anthony Marston.
Und noch ein Gesicht – blass, bebrillt, mit einem
kleinen strohblonden Schnurrbart.
Ein Gesicht, das er irgendwann schon einmal gese-
hen hatte – aber wann? Nicht hier auf der Insel, nein,
das lag viel länger zurück.
Komisch, zu diesem Gesicht fiel ihm kein Name
ein… ein ziemlich dümmliches Gesicht im Grunde –
der Kerl sah wie ein Trottel aus.
Aber ja! Die Erinnerung kam wie ein Schock.
Landor!
Merkwürdig, dass er völlig vergessen hatte, wie
Landor aussah. Gestern hatte er noch versucht, sich
an das Gesicht dieses Kerls zu erinnern, und es war
ihm nicht gelungen.
Und jetzt sah er es vor sich, jeden Zug klar und
deutlich, als ob er es gestern erst gesehen hätte.
Landor hatte eine Frau gehabt. Ein schmales Hand-
tuch von einer Frau mit einem verhärmten Gesicht.
Auch ein Kind war da, ein Mädchen von etwa vier-
zehn. Zum ersten Mal fragte er sich, was wohl aus
ihnen geworden war.
(Der Revolver. Was war aus dem Revolver gewor-
den? Das war jetzt viel wichtiger.)
Je länger er darüber nachdachte, desto merkwürdi-
ger fand er es… er verstand diese Revolvergeschichte
nicht.
Irgendwer in diesem Hause hatte den Revolver…
Unten schlug es ein Uhr.
Blores Gedankengänge wurden abrupt unterbro-
chen. Plötzlich saß er hellwach auf dem Bett. Er hat-
te ein Geräusch gehört – ein ganz schwaches Ge-
räusch – draußen vor seiner Tür.
Jemand schlich im dunklen Haus herum.
Schweiß trat auf seine Stirn. Wer schlich da heim-
lich und leise über die Gänge? Jemand; der nichts
Gutes vorhatte, darauf könnte er wetten!
Trotz seiner Leibesfülle gelang es ihm, geräuschlos
aus dem Bett zu gleiten. Mit zwei Schritten war er an
der Tür und lauschte.
Aber das Geräusch kam nicht wieder. Trotzdem
war Blore überzeugt, dass er sich nicht geirrt hatte.
Er hatte Schritte gehört, draußen, direkt vor seiner
Tür. Mit leisem Prickeln stellten sich seine Nacken-
haare auf. Jetzt wusste er wieder, was Angst war…
Draußen kroch jemand heimlich nachts herum.
Er lauschte – doch das Geräusch wiederholte sich
nicht.
Und jetzt wurde er von einer neuen Versuchung
bedrängt. Er wollte unbedingt hinausgehen und
nachsehen. Wenn er nur feststellen könnte, wer da
im Dunkeln lauerte!
Aber nur ein Verrückter würde jetzt die Tür öffnen!
Wahrscheinlich wartete der andere nur darauf! Viel-
leicht hatte er Blore mit voller Absicht etwas hören
lassen, weil er damit rechnete, dass Blore heraus-
kommen und nachsehen würde.
Starr stand er da und lauschte. Von allen Seiten
konnte er jetzt Geräusche hören, Knacken, Rascheln,
geheimnisvolles Flüstern – aber sein sturer, realisti-
scher Verstand erkannte sie als das, was sie waren:
die Schöpfungen seiner eigenen überhitzten Fantasie.
Plötzlich aber hörte er etwas, das keine Einbildung
war. Schritte, ganz leise, ganz vorsichtige Schritte,
aber deutlich erkennbar für jemand, der wie Blore
mit allen Sinnen lauschte.
Leise kamen sie den Gang entlang (die Zimmer von
Lombard und Armstrong lagen weiter vom Treppen-
absatz weg als seines) und gingen ohne Zögern oder
Zaudern an seiner Zimmertür vorbei.
In diesem Moment traf Blore seine Entscheidung.
Er musste wissen, wer es war! Die Schritte waren
nun endgültig an seiner Tür vorbei und gingen auf
die Treppe zu. Wohin lief der Mann?
Wenn Blore handelte, tat er es schnell, überra-
schend schnell für einen Mann, der so schwerfällig
und langsam aussah. Auf Zehenspitzen schlich er
zum Bett zurück, ließ die Streichhölzer in seine Ta-
sche gleiten, zog den Stecker der Nachttischlampe
heraus und wickelte das Kabel darum. Die Lampe
war aus Chrom mit einem schweren Fuß aus Ebonit
– eine wirkungsvolle Waffe.
Geräuschlos spurtete er durch das Zimmer, ent-
fernte den unter die Türklinke gezwängten Stuhl,
schob vorsichtig den Riegel zurück und schloss die
Tür auf. Er trat auf den Gang hinaus. Von der Ein-
gangshalle unten drangen schwache Laute herauf.
Blore lief auf Strümpfen leise zum Treppenabsatz.
In diesem Augenblick wurde ihm schlagartig klar,
warum er alle Geräusche so deutlich gehört hatte.
Der Wind hatte sich völlig gelegt, und der Himmel
musste jetzt ganz klar sein. Schwaches Mondlicht fiel
durch das Fenster im Treppenhaus und erleuchtete
die Eingangshalle unten.
Im Bruchteil einer Sekunde sah Blore eine Gestalt,
die durch die Eingangstür nach draußen huschte.
Mitten in seiner Verfolgungsjagd hielt Blore inne.
Um ein Haar hätte er sich schon wieder zum Narren
gemacht! Vielleicht war das eine Falle, um ihn aus
dem Haus zu locken!
Aber der andere wusste nicht, dass er einen Fehler
gemacht hatte, durch den er sich Blore vollständig
auslieferte. Von den drei bewohnten Zimmern muss-
te jetzt eines leer sein, und es war ein Leichtes, fest-
zustellen, welches.
Blore ging vorsichtig wieder durch den Korridor
zurück.
Zuerst klopfte er an Dr. Armstrongs Tür. Es kam
keine Antwort.
Er wartete kurz, dann ging er weiter zu Philip
Lombards Zimmer.
Hier kam sofort die Antwort auf sein Klopfen.
«Wer ist da?»
«Ich bin’s, Blore. Ich glaube, Armstrong ist nicht in
seinem Zimmer. Warten Sie einen Moment.»
Er ging zur letzten Tür am Ende des Gangs. Wie-
der klopfte er. «Miss Claythorne. Miss Claythorne.»
«Wer ist da? Was ist denn los?», antwortete Vera
mit Angst in der Stimme.
«Alles in Ordnung, Miss Claythorne. Warten Sie ei-
nen Moment. Ich bin gleich wieder da.»
Er rannte wieder zu Lombards Zimmer. Die Tür
ging auf. Lombard stand in der Tür, eine brennende
Kerze in der linken Hand. Über den Schlafanzug
hatte er seine Hosen angezogen. Seine rechte Hand
steckte in der Schlafanzugjacke.
«Was zum Teufel ist hier los?», fragte er scharf.
Blore informierte ihn hastig. Lombards Augen
glänzten.
«Armstrong! Also ist er unser Vogel!» Er ging zu
Armstrongs Tür. «Tut mir Leid, Blore, aber ich glau-
be nur, was ich sehe.»
Er klopfte heftig gegen das Holz. «Armstrong –
Armstrong!»
Es kam keine Antwort.
Lombard ging in die Knie und schielte durchs
Schlüsselloch. Geschickt steckte er den kleinen Fin-
ger ins Schloss.
«Von innen steckt der Schlüssel nicht.»
«Also hat er von außen zugesperrt und den Schlüs-
sel mitgenommen», vermutete Blore.
Philip nickte. «Er war vorsichtig! Blore, jetzt
schnappen wir ihn uns… diesmal kriegen wir ihn!
Warten Sie einen Moment.»
Er rannte zu Veras Zimmer. «Vera!»
«Ja.»
«Wir sind hinter Armstrong her. Er ist nicht in sei-
nem Zimmer. Was auch immer Sie tun, öffnen Sie
auf keinen Fall die Tür! Verstanden?»
«Ja, verstanden.»
«Wenn Armstrong kommt und sagt, ich wäre tot
oder Blore, reagieren Sie nicht! Klar? Öffnen Sie Ihre
Tür nur, wenn wir beide, Blore und ich, mit Ihnen
reden. Kapiert?»
«Ja. Ich bin doch nicht lebensmüde», rief Vera zu-
rück.
«Gut», sagte Lombard und lief zu Blore. «Und jetzt
– ihm nach! Die Jagd ist eröffnet!»
«Wir sollten vorsichtig sein», mahnte Blore. «Er hat
einen Revolver. Denken Sie daran.»
Philip Lombard kicherte, als er die Treppe hinun-
terrannte. «In diesem Punkt irren Sie sich.» Er öffne-
te die Eingangstür. «Das Schnappschloss ist zurück-
geschoben – damit er leicht wieder hereinkann.»
«Ich habe den Revolver!» Lombard zog ihn halb
aus seiner Tasche. «Hab ihn heute Nacht wieder in
meiner Schublade gefunden.»
Blore erstarrte und blieb auf der Türschwelle ste-
hen. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich schlagar-
tig. Philip Lombard bemerkte es.
«Seien Sie kein Dummkopf, Blore! Ich werde Sie
nicht erschießen! Gehen Sie von mir aus wieder rein
und verbarrikadieren Sie sich! Ich suche Armstrong.»
Damit rannte er hinaus ins Mondlicht. Blore zöger-
te kurz, dann folgte er ihm.
«Ich muss verrückt geworden sein», sagte er sich.
«Na, wenn schon…»
Er legte sich heute ja nicht zum ersten Mal mit be-
waffneten Verbrechern an. Was ihm auch sonst feh-
len mochte, an Mut fehlte es ihm jedenfalls nicht.
Gefahr bekannt, Gefahr gebannt, war sein Motto. Im
Freien hatte er keine Angst. Es machte ihm nur
Angst, wenn die Gefahr schwer zu durchschauen
und von übersinnlichem Hokuspokus begleitet war.
VI
Vera, zum Warten auf die Klärung der Lage verur-
teilt, stand auf und zog sich an.
Zwischendurch schielte sie immer wieder nach der
Tür. Eine solide gearbeitete, stabile Tür. Vera hatte
sie nicht nur verriegelt und abgeschlossen, sondern
zusätzlich noch einen Eichenstuhl unter der Klinke
verkeilt.
Mit Gewalt ließ sie sich nicht öffnen, und schon gar
nicht von Dr. Armstrong. Er war kein körperlich
starker Mann.
Wäre sie Armstrong und plante einen Mord, dann
würde sie List anwenden und nicht Gewalt.
Sie vertrieb sich die Zeit, indem sie sich die Tricks
ausmalte, die er anwenden könnte.
Er könnte zum Beispiel – wie Philip vermutet hatte
– behaupten, einer der beiden Männer sei tot. Oder
er könnte vortäuschen, er selbst sei tödlich verletzt
worden, und sich stöhnend und mit letzter Kraft bis
zu ihrer Zimmertür schleppen.
Es gab noch andere Möglichkeiten. Er könnte be-
haupten, das Haus stünde in Flammen. Er könnte es
sogar selbst anzünden… Ja, das wäre eine Möglich-
keit. Erst lockt er die beiden Männer aus dem Haus,
dann setzt er eine Benzinspur in Brand, die er vorher
selbst gelegt hat, und sie, Vera, würde wie eine Idio-
tin in ihrem Zimmer verbarrikadiert sitzen bleiben,
bis es zu spät war.
Sie lief zum Fenster hinüber. Nicht schlecht. Im
Notfall könnte man durch das Fenster fliehen. Es
war zwar relativ hoch, aber darunter befand sich
freundlicherweise ein Blumenbeet.
Sie setzte sich, griff nach ihrem Tagebuch und be-
gann mit flüssiger, klarer Schrift zu schreiben.
Man musste sich die Zeit vertreiben.
Plötzlich hielt sie in der Bewegung inne und lausch-
te. Sie hatte ein Geräusch gehört, das wie zerbre-
chendes Glas klang. Von irgendwo da unten schallte
es zu ihr hoch.
Angestrengt lauschte sie, aber das Geräusch kam
nicht wieder.
Ihr war, als hörte sie heimliche Schritte, das Knar-
ren der Treppe, Kleider, die raschelten – nichts Be-
stimmtes, sodass sie diese Geräusche, wie schon Blo-
re vor ihr, ihrer Fantasie zuschrieb.
Aber jetzt hörte sie andere, viel realere Geräusche.
Im Erdgeschoss liefen Menschen hin und her, man
hörte Stimmengemurmel. Dann kam jemand ener-
gisch die Treppe herauf – Türen wurden geöffnet
und wieder geschlossen, Geräusche von Schritten auf
dem Dachboden. Und noch mehr Geräusche von
dort.
Schließlich lief jemand den Gang entlang. Und
Lombards Stimme fragte: «Alles in Ordnung, Vera?»
«Ja. Was ist passiert?»
Blore antwortete: «Lassen Sie uns herein?»
Vera ging zur Tür, zog den Stuhl weg und entrie-
gelte die Tür. Sie öffnete. Beide Männer waren außer
Atem, ihre Schuhe und Hosenbeine waren völlig
durchnässt.
«Was ist passiert?»
«Armstrong ist verschwunden… », sagte Lombard.
VII
«Was?» Veras Stimme klang wie ein Schrei.
«Hat sich praktisch in Luft aufgelöst», sagte Lom-
bard.
«Genau so», schnaubte Blore. «In Luft aufgelöst,
wie bei einem billigen Zaubertrick!»
«Unsinn!», widersprach Vera. «Er versteckt sich ir-
gendwo.»
«Nein. Tut er nicht», knurrte Blore. «Es gibt auf
dieser Insel kein Versteck. Die ist kahl wie die Saha-
ra. Und draußen scheint der Mond. Es ist taghell. Er
ist unauffindbar.»
«Bestimmt ist er zum Haus zurückgelaufen», sagte
Vera.
«Daran haben wir auch gedacht. Wir haben das
Haus durchsucht. Sie müssen uns gehört haben. Ich
sage Ihnen: Er ist nicht hier. Er ist weg – abgehauen,
verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst…»
«Ich glaub’s einfach nicht», wiederholte Vera ver-
blüfft.
«Es ist wahr, Vera», erwiderte Lombard.
Er hielt kurz inne. Dann sagte er:
«Da ist noch etwas. Im Esszimmer ist eine Fenster-
scheibe eingeschlagen worden – und jetzt stehen nur
noch drei Porzellanfiguren auf dem Tisch.»
Fünfzehntes Kapitel
D rei Menschen saßen in der Küche beim
Frühstück.
Draußen schien die Sonne. Es war ein
herrlicher Tag. Das Unwetter gehörte der Vergan-
genheit an.
Mit dem Wetterwechsel hatte sich auch die Stim-
mung der Gefangenen auf der Insel gewandelt. Sie
fühlten sich wie gerade aus einem Albtraum erwacht.
Die Gefahr war zwar noch da, aber es war eine Ge-
fahr im hellen Tageslicht. Die lähmende Atmosphäre
der Angst, die sie gestern, als der Wind draußen heul-
te, noch wie eine Decke eingehüllt hatte, war gewi-
chen. Lombard sagte: «Wir können heute versuchen,
mit einem Spiegel vom höchsten Punkt der Insel
Blinksignale zu senden. Vielleicht läuft drüben ja ein
aufgeweckter Kerl über die Klippen, der ein SOS-
Signal erkennt, wenn er es sieht. Das hoffe ich jeden-
falls. Am Abend könnten wir es mit einem Feuer
versuchen – viel Holz gibt es zwar nicht – und natür-
lich könnten sie drüben denken, wir feiern hier nur
eine Party mit Wein, Weib und Gesang.»
«Irgendjemand kennt bestimmt die Morsezeichen»,
meinte Vera. «Und dann kommen sie und holen uns
hier weg. Noch vor heute Abend.»
«Das Wetter ist gut jetzt, ganz klar», antwortete
Lombard. «Aber das Meer hat sich noch nicht beru-
higt. Zu hoher Wellengang. Vor morgen wird kein
Boot an die Insel herankommen.»
«Noch eine Nacht hier!», stöhnte Vera auf.
Lombard zuckte die Schultern.
«Damit müssen wir rechnen. Vierundzwanzig
Stunden müssten reichen. Wenn wir die überstehen,
sind wir gerettet.»
Blore räusperte sich. «Wir sollten uns noch über
eins klar werden. Was geschah mit Armstrong?»
«Einen konkreten Hinweis haben wir», sagte Lom-
bard. «Auf dem Tisch stehen nur noch drei Figuren.
Sieht so aus, als hätte Armstrong jetzt seine Ruhe.»
«Warum haben Sie dann nicht seine Leiche gefun-
den?», fragte Vera.
«Genau!», knurrte Blore.
Lombard schüttelte den Kopf. «Es ist verdammt
seltsam», gab er zu. «Schwer zu begreifen.»
«Jemand könnte sie ins Meer geworfen haben»,
vermutete Blore.
«Wer denn?», fragte Lombard ungehalten. «Sie?
Ich? Sie haben doch gesehen, dass er durch die Ein-
gangstür nach draußen gelaufen ist. Dann kommen
Sie angerannt und finden mich in meinem Zimmer.
Und wir machen uns gemeinsam auf die Suche.
Wann zum Teufel hatte ich Zeit, ihn zu töten und
seine Leiche auf der Insel herumzutragen?»
«Das weiß ich nicht», gab Blore zu. «Aber eins weiß
ich genau.»
«Und das wäre?»
«Der Revolver», schnaubte Blore. «Es war Ihr Re-
volver. Und er ist jetzt in Ihrem Besitz. Können Sie
beweisen, dass Sie ihn nicht die ganze Zeit über hat-
ten?»
«Was soll das, Blore? Wir sind alle durchsucht wor-
den.»
«Sie hatten ihn versteckt, bevor Sie drankamen. An-
schließend haben Sie ihn sich wieder geholt.»
«Sie sind ein Holzkopf, Blore. Ich schwöre Ihnen,
jemand hat ihn wieder zurück in meine Schublade
gelegt. Das war die größte Überraschung meines Le-
bens, als ich ihn da wieder gefunden habe.»
«Und Sie verlangen von uns, dass wir Ihnen so et-
was glauben! Warum zum Teufel sollte Armstrong –
oder irgendjemand anders – den Revolver wieder
dorthin legen?»
Lombard zog verzweifelt die Schultern hoch. «Ich
habe nicht die geringste Ahnung. Es ist einfach ver-
rückt. Das Letzte, was man erwarten würde. Es
scheint ohne jeden Sinn und Zweck.»
Blore gab ihm Recht. «Völlig sinnlos. Sie hätten
sich eine bessere Geschichte ausdenken sollen.»
«Wenn das kein Beweis dafür ist, dass ich die
Wahrheit sage!»
«Das sehe ich nicht so.»
«Es hätte mich auch gewundert», gab Lombard zu.
«Hören Sie, Lombard, wenn Sie ein ehrlicher Mann
sind, wie Sie behaupten –»
«Wann hätte ich je behauptet, ich sei ein ehrlicher
Mann?», unterbrach ihn Lombard. «Das habe ich
wirklich nie gesagt.»
Unbeirrt sprach Blore weiter: «Wenn Sie die Wahr-
heit sagen – können wir nur eins machen. Solange
Sie den Revolver haben, sind Miss Claythorne und
ich Ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Fai-
rerweise sollte der Revolver zu den anderen Sachen
gelegt werden, die wir weggeschlossen haben – und
Sie und ich behalten weiterhin jeder einen Schlüssel.»
Philip Lombard zündete sich eine Zigarette an.
Er stieß den Rauch aus und sagte: «Seien Sie kein
Esel.»
«Sie machen also nicht mit?»
«Auf keinen Fall. Der Revolver gehört mir. Ich
brauche ihn, um mich zu schützen – und ich werde
ihn behalten.»
«Wenn das so ist, müssen wir daraus unsere Schlüs-
se ziehen.»
«Dass ich U. N. Owen bin? Denken Sie doch, was
Sie wollen. Aber ich frage Sie, wenn das stimmt,
warum habe ich Sie dann vergangene Nacht nicht
einfach mit dem Revolver umgelegt? An die zwan-
zigmal hätte ich dazu Gelegenheit gehabt!»
Blore schüttelte den Kopf. «Ich weiß es nicht –
wirklich nicht. Irgendeinen Grund werden Sie schon
gehabt haben.»
Vera hatte sich nicht an der Unterhaltung beteiligt.
Jetzt wurde sie langsam unruhig: «Ich finde, Sie be-
nehmen sich wie zwei Idioten.»
Lombard starrte sie an. «Was soll das heißen?»
«Sie haben beide den Kinderreim vergessen. Da ist
doch ein Hinweis versteckt!»
In bedeutungsvollem Tonfall zitierte sie:
«Vier kleine Negerlein, die segelten ins Freie.
Ein roter Hering schwamm vorbei,
da waren’s nur noch dreie.»
«Der rote Hering», fuhr sie fort. «Die falsche Fährte
– das ist der Schlüssel! Armstrong ist nicht tot… Er
hat die Figur weggenommen, damit wir glauben, er
sei tot. Sie können sagen, was Sie wollen –
Armstrong ist immer noch hier auf der Insel. Sein
Verschwinden ist der rote Hering, die falsche Fährte,
die er ausgelegt hat…»
Lombard setzte sich. «Sie könnten wirklich Recht
haben.»
«Wenn das stimmt, wo ist er dann?», fragte Blore.
«Wir haben alles abgesucht, draußen wie drinnen.»
«Wir haben auch alle nach dem Revolver gesucht»,
spottete Vera. «Und konnten ihn nicht finden. Dabei
war er die ganze Zeit über da!»
«Zwischen einem Revolver und einem Mann gibt es
einen kleinen Unterschied in der Größe, Verehrtes-
te», stellte Lombard fest.
«Das ist egal – ich weiß, dass ich Recht habe», sagte
Vera.
«Dadurch macht er sich doch nur verdächtig»,
murmelte Lombard. «Wenn er im Gedicht wortwört-
lich vom ‹roten Hering› spricht. Er hätte das auch
etwas anders aufschreiben können.»
«Das ist es ja», rief Vera. «Er ist verrückt! Merken
Sie das denn nicht! Nach einem Gedicht vorzugehen,
das ist verrückt! Den Richter zu kostümieren, Rogers
beim Holzhacken zu töten, Mrs. Rogers mit Tablet-
ten abzufüllen, damit sie ‹verschläft› – eine Biene zu
besorgen, als Miss Brent starb! Als ob ein grausames
Kind sein Spiel treibt. Es muss alles zusammenpas-
sen.»
«Ich muss Ihnen Recht geben», sagte Blore.
Eine Minute lang dachte er nach.
«Jedenfalls gibt’s auf der Insel keinen Zoo. Das
macht ihm bestimmt schwer zu schaffen.»
«Aber das ist es doch», brach es aus Vera heraus.
«Wir sind sein Zoo… Heute Nacht waren wir doch
schon fast keine Menschen mehr! Der Zoo sind
wir…»
II
Sie verbrachten den Vormittag auf den Klippen und
blinkten abwechselnd mit einem Spiegel zum Fest-
land hinüber.
Nichts deutete darauf hin, dass jemand sie sah.
Kein Signal antwortete ihnen. Der Tag war schön,
leicht dunstig. Unter ihnen wogte das Meer mit ge-
waltigen Brechern. Es waren keine Boote zu sehen.
Sie hatten noch einmal vergeblich die Insel durch-
sucht. Von dem vermissten Arzt fand sich keine
Spur.
Vera schaute von dort, wo sie standen, hinauf zum
Haus. Ihre Stimme klang gepresst, als sie sagte:
«Man fühlt sich einfach sicherer, draußen im Frei-
en… Wir sollten nicht wieder ins Haus zurückge-
hen.»
«Keine schlechte Idee», sagte Lombard. «Hier sind
wir ziemlich sicher. Niemand kann sich an uns he-
ranmachen, ohne dass wir ihn nicht schon von wei-
tem sehen.»
«Wir bleiben hier», entschied Vera.
«Irgendwo müssen wir die Nacht verbringen», gab
Blore zu bedenken. «Dazu müssen wir wieder ins
Haus zurück.»
Vera schauderte. «Ich halte das nicht aus. Noch ei-
ne Nacht da drin stehe ich nicht durch.»
«Sie sind doch völlig sicher», beruhigte Philip sie.
«Eingeschlossen in Ihrem Zimmer.»
«Vermutlich», murmelte Vera. Sie streckte die Hän-
de aus.
«Es tut so gut, die Sonne wieder zu spüren…»
Im Stillen dachte sie: «Wie seltsam… ich bin fast
glücklich. Und doch weiß ich, dass mein Leben in
Gefahr ist… Irgendwie scheint nichts mehr wich-
tig… nicht bei Tageslicht… meine Kraft – ich fühle,
dass ich nicht sterben kann!»
Blore sah auf seine Armbanduhr. «Zwei Uhr jetzt.
Wie wär’s mit Essen?»
«Ich gehe nicht ins Haus zurück», sagte Vera stör-
risch. «Ich bleibe hier – im Freien.»
«Aber, aber, Miss Claythorne. Sie müssen doch bei
Kräften bleiben!»
«Wenn ich noch ein einziges Mal Zunge aus der
Dose sehe, wird mir schlecht! Ich will überhaupt
nichts essen. Man kann tagelang ohne Essen aus-
kommen, wenn man auf Diät ist.»
«Also, ich brauche meine geregelten Mahlzeiten.
Was ist mit Ihnen, Mr. Lombard?»
«Die Aussicht auf Zunge aus der Dose reizt mich
nicht besonders. Ich bleibe hier, bei Miss Claythor-
ne.»
Blore zögerte.
«Sie können mich ruhig allein lassen», sagte Vera zu
Blore. «Er wird mich schon nicht erschießen, sobald
Sie mir den Rücken zukehren, wenn es das ist, was
Sie fürchten.»
«Na schön, wenn Sie meinen… », gab Blore sich
geschlagen. «Aber wir hatten abgemacht, dass wir
uns nicht trennen sollten.»
«Sie sind derjenige, der sich in die Höhle des Lö-
wen wagen will. Ich komme mit Ihnen, wenn Sie
möchten.»
«Auf keinen Fall», sagte Blore. «Sie bleiben hier!»
Philip lachte.
«Sie haben also immer noch Angst vor mir? Wissen
Sie nicht, dass ich Sie beide jetzt in diesem Augen-
blick erschießen könnte, wenn ich wollte.»
«Stimmt», gab Blore zu. «Ist aber nicht nach Plan.
Einer nach dem anderen – so muss das laufen – und
es muss auf eine bestimmte Art durchgezogen wer-
den.»
«Sie scheinen ja bestens informiert zu sein», sagte
Lombard.
«Wird einem schon mulmig», gestand Blore. «Wenn
man ganz allein zum Haus gehen soll.»
«Jetzt fragen Sie mich bestimmt gleich, wollen Sie
mir nicht Ihren Revolver leihen?», sagte Philip sanft.
«Meine Antwort ist nein, ich will nicht! Ganz so ein-
fach liegt der Fall nämlich nicht.»
Blore zuckte die Schultern und machte sich auf den
steilen Weg hinauf zum Haus.
Lombard sagte leise: «Fütterung der Raubtiere im
Zoo! Die Viecher haben ihre festen Gewohnheiten!»
«Ist das nicht riskant, was er da macht?», fragte Ve-
ra ängstlich.
«Ich glaube nicht. Nicht so, wie Sie meinen.
Armstrong ist nicht bewaffnet, und Blore ist ihm
körperlich um ein Vielfaches überlegen. Und er ist
auf der Hut. Außerdem ist es nicht sehr wahrschein-
lich, dass Armstrong sich im Haus versteckt. Ich
weiß einfach, dass er nicht dort ist.»
«Aber – welche andere Lösung gibt es?»
Philip sagte mit leiser Stimme: «Es gibt Blore.»
«Oh – aber glauben Sie wirklich –?»
«Hören Sie, Vera. Sie haben Blores Geschichte ge-
hört. Wenn sie stimmt, müssen Sie zugeben, dass ich
mit Armstrongs Verschwinden unmöglich etwas zu
tun haben kann. Seine Geschichte entlastet mich,
aber sie belastet ihn. Wir haben nur sein Wort, dass
er Schritte hörte und einen Mann die Treppen hinun-
terlaufen und aus dem Haus flüchten sah. Das kann
eine Lüge sein. Vielleicht hat er Armstrong schon
Stunden früher aus dem Weg geräumt.»
«Und wie?»
Lombard zuckte die Schultern.
«Wer weiß das schon. Aber wenn Sie mich fragen,
gibt es nur eins, wovor wir uns fürchten müssen, und
das ist Blore! Was wissen wir über den Mann? Weni-
ger als nichts! Diese ganze Geschichte vom Expoli-
zisten kann totaler Schwindel sein! Er kann alles
Mögliche sein – ein verrückter Millionär – ein durch-
geknallter Geschäftsmann – ein geflohener Sträfling
aus Broadmoor. Eines ist sicher. Er könnte jedes
einzelne dieser Verbrechen begangen haben.»
Vera war ziemlich blass geworden. Ihre Stimme
klang belegt, als sie sagte: «Und angenommen, er
kriegt – uns?»
Lombard tätschelte den Revolver in seiner Tasche:
«Ich werde sehr gut aufpassen, dass das nicht ge-
schieht.» Dann sah er sie neugierig an. «Rührend, wie
Sie mir vertrauen, Vera. Sind Sie sicher, dass ich Sie
nicht erschieße?»
«Irgendwem muss man vertrauen… Ich denke üb-
rigens, dass Sie sich in Blore täuschen. Ich glaube
immer noch, es ist Armstrong.»
Abrupt trat sie auf ihn zu.
«Spüren Sie es nicht – die ganze Zeit schon –, dass
hier jemand ist? Jemand, der uns beobachtet und
abwartet?»
«Das sind nur die Nerven», sagte Lombard lang-
sam.
«Dann haben Sie es also auch gespürt?»
Sie schauderte und beugte sich näher zu ihm.
«Sagen Sie… Sie glauben doch nicht…» Sie brach
ab. «Ich habe eine Geschichte gelesen», fuhr sie fort,
«von zwei Richtern, die in eine amerikanische Klein-
stadt kamen – Richter vom Obersten Gerichtshof.
Sie sollten Recht sprechen – totale Gerechtigkeit wal-
ten lassen –, aber sie waren nicht von dieser Welt…»
Lombard zog die Augenbrauen hoch.
«Himmlische Besucher? Nein, ich glaube nicht ans
Übernatürliche. Was hier passiert, ist absolut men-
schlich.»
Mit leiser Stimme sagte Vera: «Manchmal – bin ich
nicht sicher…»
Lombard sah sie aufmerksam an.
«Das ist das Gewissen…» Er schwieg einen Au-
genblick. «Also haben Sie das Kind doch ertränkt?»,
sagte er dann.
«Das habe ich nicht!», empörte Vera sich. «Ich habe
es nicht getan! Sie haben kein Recht, das zu sagen!»
Lombard lachte leichthin.
«O doch, Sie haben es getan, meine liebe Vera! Ich
weiß nicht, warum. Kann es mir nicht vorstellen.
Wahrscheinlich ging es dabei um einen Mann.
Stimmt’s?»
Plötzlich fühlte Vera, wie sich in jedem Teil ihres
Körpers Gleichgültigkeit und totale Erschöpfung
breit machten. Mit matter Stimme antwortete sie: «Ja
– es ging dabei um einen Mann…»
«Danke», sagte Lombard mit sanfter Stimme. «Das
wollte ich doch nur wissen…»
Plötzlich richtete sich Vera kerzengerade auf.
«Was war das? War das etwa ein Erdbeben?»
«Nein, nein», versicherte Lombard. «Trotzdem,
merkwürdig – ein Schlag, und der Boden hat gebebt.
Ich dachte – haben Sie auch so etwas wie einen
Schrei gehört?»
Sie starrten zum Haus hinauf.
«Es kam von dort oben», sagte Lombard. «Wir soll-
ten hinaufgehen und nachsehen.»
«Nein. Ich gehe da nicht hin.»
«Wie Sie wollen. Ich werde gehen.»
«Also gut», gab Vera nach. «Ich komme mit.»
Sie liefen gemeinsam den Hügel hinauf zum Haus.
Friedlich und harmlos lag die Terrasse im Sonnen-
schein. Einen Augenblick zögerten sie. Dann betra-
ten sie das Haus nicht durch die Eingangstür, son-
dern gingen vorsichtig um das Haus herum.
Sie fanden Blore. Er lag auf der Ostseite der Stein-
terrasse ausgestreckt auf dem Boden, sein Kopf zer-
malmt und zerfetzt von einem großen weißen Mar-
morblock.
Philip blickte hinauf.
«Wessen Fenster ist das dort oben?»
Mit erstickter Stimme antwortete Vera: «Es ist
meins – und die Uhr stand bei mir auf dem Kamin…
Jetzt weiß ich es wieder. Sie sah aus – wie ein Bär.»
Mit bebender Stimme wiederholte sie:
«Sie sah aus – wie ein Bär…»
III
Philip packte sie bei den Schultern.
Er sagte mit einer Stimme, aus der Wut und Ent-
schlossenheit sprachen: «Alles klar. Armstrong hält
sich irgendwo im Haus versteckt. Ich gehe hinein
und schnappe ihn mir.»
Aber Vera hielt ihn fest:
«Tun Sie das nicht. Jetzt geht es um uns! Wir sind
als Nächste dran! Er will, dass wir ihn suchen. Er
rechnet damit!»
Philip blieb stehen. Nachdenklich sagte er: «Da ist
was dran.»
«Jetzt geben Sie zu, dass ich Recht hatte», rief Vera.
Er nickte. «Ja – der Punkt geht an Sie! Es ist
Armstrong. Aber wo, zum Teufel, hat er sich ver-
steckt! Wir haben alles haarklein, bis in die letzte
Ecke, durchkämmt.»
«Wenn Sie ihn letzte Nacht nicht gefunden haben,
werden Sie ihn auch jetzt nicht finden», mahnte Vera
eindringlich. «Das sagt einem der gesunde Men-
schenverstand!»
«Ja, aber…»
«Er muss sich schon vorher ein Versteck eingerich-
tet haben – natürlich – genauso wird er es gemacht
haben. Denken Sie an die geheimen Kammern in
alten Schlössern.»
«Das ist aber hier kein altes Schloss.»
«Er hätte es sich einbauen lassen können.»
Lombard schüttelte den Kopf.
«Wir haben das Gebäude vermessen – am allerers-
ten Morgen. Ich kann schwören, dass wir hier jeden
Kubikmeter Raum kennen. Es gibt keine geheime
Kammer.»
«Es muss eine geben…», sagte Vera.
«Ich möchte nachsehen –», begann Lombard.
Sofort unterbrach Vera ihn. «Sie möchten nachse-
hen! Und das weiß er! Er ist da drin und wartet auf
Sie.»
Lombard zog den Revolver ein Stück weit aus sei-
ner Tasche.
«Ich habe immer noch das hier», sagte er.
«Sie haben gesagt, Blore könnte nichts zustoßen –
er wäre Armstrong überlegen. Körperlich war er das,
und vorsichtig war er auch. Aber Sie begreifen nicht,
dass Armstrong wahnsinnig ist! Und ein Wahnsinni-
ger hat alle Trümpfe in der Hand. Er ist doppelt so
gerissen wie jeder normale Mensch.»
Lombard steckte den Revolver in seine Tasche zu-
rück.
«Kommen Sie.»
IV
«Was wollen Sie tun, wenn es Nacht wird?», fragte
Lombard schließlich.
Vera antwortete nicht. Vorwurfsvoll fuhr er fort:
«Haben Sie sich das noch nicht überlegt?»
«Was können wir denn tun?», antwortete sie hilflos.
«Mein Gott, ich habe solche Angst…»
«Das Wetter ist gut», sagte Lombard nachdenklich.
«Der Mond wird am Himmel stehen. Wir müssen
eine Stelle finden – ganz oben auf der Spitze der
Klippen vielleicht. Da können wir uns hinsetzen und
auf den Morgen warten. Wir dürfen auf gar keinen
Fall einschlafen… wir müssen die ganze Zeit über
aufpassen. Und wenn jemand zu uns heraufkommt,
werde ich schießen!»
Er schwieg. Dann fragte er: «Wird Ihnen nicht kalt
in diesem dünnen Kleid?»
«Kalt?», antwortete Vera mit einem rauen Lachen.
«Wenn ich tot bin, ist mir kälter.»
«Das ist wahr», sagte Lombard ruhig.
Vera rutschte ruhelos hin und her.
«Ich werde wahnsinnig, wenn ich noch länger hier
sitze. Lassen Sie uns etwas laufen.»
«Einverstanden.»
Langsam stiegen sie hoch und wieder runter, sie
folgten einer Reihe Felsen, von denen man hinunter
aufs Meer sehen konnte. Die Sonne neigte sich gen
Westen. Das Licht war mild und golden. Es hüllte sie
in einen goldenen Glanz.
«Schade, dass wir nicht baden können… », sagte
Vera und kicherte unvermittelt nervös.
Philip blickte aufs Meer hinunter. Plötzlich fragte
er: «Was ist das dort? Sehen Sie das – bei dem großen
Felsen da! Nein – etwas weiter rechts.»
Vera starrte dorthin. «Sieht aus wie Kleider!», ver-
mutete sie.
«Da badet einer, was?» Lombard lachte. «Merkwür-
dig. Bestimmt ist es nur Seegras.»
«Gehen wir nachsehen», schlug Vera vor.
«Es sind Kleider», rief Lombard, als sie näher ka-
men. «Ein ganzes Bündel. Das da ist ein Stiefel.
Kommen Sie, klettern wir hier lang!»
Sie kletterten mühsam über die Felsen.
Plötzlich blieb Vera stehen:
«Das sind keine Kleider – das ist ein Mensch…»
Der Mann lag eingekeilt zwischen zwei Felsen, hi-
naufgeschwemmt von der morgendlichen Flut.
Mit einer letzten Kraftanstrengung erreichten sie
die Stelle. Sie beugten sich nach unten.
Ein bläulich verfärbtes Gesicht – das schreckliche
Gesicht eines Ertrunkenen…
«Mein Gott!», sagte Lombard. «Es ist
Armstrong…»
Sechzehntes Kapitel
L ichtjahre zogen vorbei… Welten breiteten
sich aus und wirbelten durcheinander… Die
Zeit war ohne Bewegung… Sie stand still –
durchlief Tausende von Zeitaltern…
Nein, es dauerte nur einen kurzen Augenblick.
Zwei Menschen standen da und blickten hinunter auf
einen toten Mann…
Langsam, sehr langsam hoben Vera Claythorne und
Philip Lombard den Kopf und sahen sich in die Au-
gen.
II
Lombard lachte.
«Das wär’s ja dann. Oder, Vera?»
Vera sagte: «Es gibt niemanden auf der Insel –
überhaupt niemanden – außer uns beiden…»
Ihre Stimme war ein Flüstern – mehr nicht.
«Genau», antwortete er. «Jetzt wissen wir, woran
wir sind, nicht wahr?»
«Wie hat das funktioniert, der Trick mit dem Mar-
morbär?»
Er zuckte mit den Schultern.
«Ein Zaubertrick, meine Liebe – ein sehr guter…»
Ihre Augen trafen wieder aufeinander.
«Warum habe ich sein Gesicht vorher nie wirklich
gesehen?», dachte Vera. «Ein Wolf – genau das ist es,
ein Wolfsgesicht… diese schrecklichen Zähne…»
Mit einem gefährlich bedrohlichen Knurren in der
Stimme sagte Lombard: «Dies ist das Ende, verste-
hen Sie? Die Stunde der Wahrheit. Und das Ende…»
«Ich verstehe…», antwortete Vera ruhig.
Sie sah auf das Meer hinaus. General MacArthur
hatte auf das Meer gestarrt – war das erst gestern?
Oder war es der Tag vorher? Auch er hatte gesagt:
«Dies ist das Ende…»
Er hatte es gesagt, als würde er es akzeptieren, als
würde er es willkommen heißen.
Aber Vera rebellierte gegen dieses Wort – diesen
Gedanken. Nein, das konnte nicht das Ende sein.
Sie blickte hinab auf den toten Mann und murmel-
te: «Armer Dr. Armstrong…»
Lombard grinste höhnisch. «Was ist das? Weibli-
ches Mitleid?»
«Warum nicht? Haben Sie nicht auch Mitleid?»,
fragte sie.
«Mit Ihnen habe ich kein Mitleid», erwiderte er.
«Erwarten Sie das bloß nicht.»
Vera blickte wieder auf den toten Körper hinunter.
«Wir müssen ihn wegbringen», sagte sie. «Ins Haus
tragen.»
«Zu den anderen Opfern, nehme ich an? Alles sau-
ber und ordentlich. Was mich angeht, kann er blei-
ben, wo er ist.»
«Lassen Sie ihn uns wenigstens dahin tragen, wo
das Meer ihn nicht mehr erreicht», schlug sie vor.
Lombard lachte. «Wenn Sie das wünschen.»
Er bückte sich und zog an dem toten Körper. Vera
stützte sich auf ihn und half. Sie zog und zerrte mit
ihrer ganzen Kraft.
Lombard keuchte. «Harte Arbeit.»
Schließlich hatten sie es geschafft und den toten
Körper aus dem Bereich der Flut herausgezogen.
Lombard richtete sich wieder auf. «Zufrieden?»
«Völlig», sagte Vera.
Ihr Tonfall warnte ihn. Er wirbelte um die eigene
Achse. Als er mit der Hand an seine Tasche fuhr,
wusste er, dass sie leer sein würde.
Sie hatte sich zwei Schritte wegbewegt und stand
ihm gegenüber, den Revolver in der Hand.
«Das ist also der Grund für Ihre weibliche Besorg-
nis! Sie wollten meine Tasche filzen.»
Sie nickte. Fest und mit ruhiger Hand hielt sie den
Revolver.
Der Tod war für Philip Lombard jetzt ganz nah. Er
wusste, dass er ihm noch nie näher gekommen war.
Trotzdem gab er sich noch nicht geschlagen.
«Geben Sie mir den Revolver», befahl er.
Vera lachte.
«Machen Sie schon», forderte er sie auf. «Geben Sie
ihn mir.»
Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Wie – wo-
mit – konnte er sie rumkriegen – in falscher Sicher-
heit wiegen oder mit einem schnellem Sprung –
Sein Leben lang hatte Lombard das Risiko gewählt.
Er wählte es jetzt. Er sprach langsam, bemüht, sie zu
überzeugen.
«Aber nicht doch, Mädchen, hör mir einfach einmal
zu…»
Und dann sprang er. Schnell wie ein Panter – wie
eine Raubkatze…
Automatisch drückte Vera ab…
Lombards vorschnellender Körper hielt mitten im
Sprung inne, dann krachte er schwer auf den Boden.
Vera trat vorsichtig nach vorn, den Revolver ein-
satzbereit in der Hand.
Aber es bestand kein Grund zur Vorsicht.
Philip Lombard war tot – erschossen mit einer Ku-
gel mitten durch das Herz…
III
Erleichterung ergriff Vera – enorme, wunderbare
Erleichterung.
Endlich war es vorbei.
Es gab keine Furcht mehr – kein mühsames Sich-
zusammenreißen…
Sie war allein auf der Insel…
Allein mit neun Leichen…
Aber was hatte das noch für eine Bedeutung? Sie
lebte…
Sie saß da – unendlich glücklich – unendlich fried-
lich…
Ohne jede Furcht…
IV
Die Sonne ging unter, als Vera sich endlich bewegte.
Die Ereignisse hatten sie gelähmt. In ihr war für
nichts anderes Raum gewesen als für dieses wunder-
bare Gefühl von Sicherheit.
Jetzt spürte sie, dass sie hungrig und müde war.
Vor allem müde. Sie wollte nichts als sich auf ihr Bett
werfen und schlafen, schlafen, schlafen…
Vielleicht morgen schon würden sie kommen und
sie retten – aber es war ihr egal. Es machte ihr nichts
aus, hier zu bleiben. Nicht jetzt, wo sie allein war.
O himmlischer, süßer Frieden…
Sie sprang auf und blickte zum Haus hoch.
Sie brauchte keine Angst mehr haben! Keine
Schrecken warteten mehr auf sie! Nur ein ganz nor-
males, schönes, modernes Haus. Und doch war sie
ein wenig früher am Tag nicht fähig gewesen, es an-
zusehen, ohne zu schaudern…
Was für eine seltsame Sache war doch die Angst!
Jetzt war es vorbei. Sie hatte gesiegt – hatte über
die tödliche Gefahr triumphiert. Durch ihre Geistes-
gegenwart und Geschicklichkeit hatte sie dem Mann,
der sie vernichten wollte, ein Schnippchen geschla-
gen.
Sie lief auf das Haus zu.
Die Sonne ging unter, der Himmel im Westen war
mit roten und orangenen Streifen überzogen. Es war
schön und friedlich…
«Die ganze Sache könnte ein Traum sein…», dach-
te Vera.
Wie müde sie war – schrecklich müde! Ihre Glieder
schmerzten, ihre Augenlider fielen zu. Keine Angst
mehr zu haben… zu schlafen. Schlafen… schlafen…
schlafen…
Sicher zu schlafen, weil sie die Einzige auf der Insel
war. Ein kleines Negerlein, ganz für sich allein.
Sie lächelte.
Sie betrat das Haus durch die Vordertür. Auch das
Haus kam ihr seltsam friedlich vor.
Vera dachte: «Normalerweise würde man nicht viel
Wert darauf legen, dort zu schlafen, wo es praktisch
in jedem Zimmer einen Toten gibt!»
Sollte sie in die Küche gehen und sich etwas zu es-
sen besorgen? Einen Moment lang zögerte sie, dann
entschied sie sich dagegen. Sie war einfach zu mü-
de…
An der Tür zum Esszimmer machte sie Halt. Dort
standen immer noch drei kleine Porzellanfiguren in
der Mitte des Tisches.
Vera lachte. «Ihr seid nicht mehr ganz auf dem
neuesten Stand, meine Lieben.»
Vera hob zwei von ihnen hoch und warf sie durch
das Fenster. Sie hörte, wie sie auf den Steinen der
Terrasse zerschellten.
Die dritte Figur hob sie hoch und hielt sie in der
Hand.
«Du kannst mit mir kommen», sagte sie. «Wir ha-
ben gewonnen, mein Süßer. Wir haben gewonnen!»
Die Eingangshalle war trübe im schwindenden
Licht. Vera hielt die kleine Figur in ihrer Hand fest
umklammert und stieg die Treppen hinauf. Sehr
langsam, weil ihre Beine plötzlich sehr müde waren.
«Ein kleines Negerlein, ganz für sich allein.» Wie
ging es zu Ende?
Seltsam, wie sie plötzlich wieder das Gefühl über-
kam, dass Hugo im Haus war…
Ein starkes Gefühl. Ja, Hugo war dort oben und
wartete auf sie.
«Sei keine Närrin», sagte Vera sich. «Du bist so
müde, dass du dir die unglaublichsten Sachen zu-
sammenfantasierst…»
Langsam die Treppen hoch…
Am Ende der Stufen fiel etwas aus ihrer Hand, fast
geräuschlos fiel es auf den weichen Teppich. Sie be-
merkte nicht, dass sie den Revolver fallen gelassen
hatte. Sie fühlte nur, dass sie die kleine Porzellanfigur
umklammert hielt.
Wie ruhig das Haus war! Und doch – es kam einem
nicht wie ein leeres Haus vor.
Hugo war oben. Hugo, der sie erwartete…
«Ein kleines Negerlein, ganz für sich allein.» Wie
ging die letzte Zeile noch einmal?
Sie war jetzt an der Tür zu ihrem Zimmer ange-
kommen. Hugo wartete drinnen auf sie – sie war sich
ganz sicher.
Vera öffnete die Tür…
Sie rang nach Luft…
Was war das – was hing da von dem Haken an der
Decke? Ein Seil mit einer geknüpften Schlinge? Und
ein Stuhl, um daraufzusteigen – ein Stuhl, der weg-
gestoßen werden konnte…
Das war, was Hugo wollte…
Und natürlich, das war auch die letzte Zeile des
Verses.
«Es ging ins Haus und hängt’ sich auf. Da gab es
keines mehr.»
Die kleine Porzellanfigur fiel aus ihrer Hand. Sie
rollte ungehindert weiter und zerbrach am Kamingit-
ter.
Vera bewegte sich wie ein Roboter vorwärts. Dies
war das Ende – hier, wo die kalte feuchte Hand (Cy-
rils Hand natürlich) ihren Hals berührt hatte…
«Du kannst zum Felsen schwimmen, Cyril…»
Genau so war Mord – genauso einfach!
Aber später dachte man immerzu daran…
Sie stieg auf den Stuhl, ihre Augen nach vorn ge-
richtet wie ein Schlafwandler… Sie legte sich die
Schlinge um den Hals.
Hugo war da, um zu sehen, dass sie tat, was sie tun
musste.
Sie stieß den Stuhl zur Seite…
Epilog
S ir Thomas Legge, stellvertretender Leiter von
Scotland Yard, sagte gereizt: «Die ganze Sache
ist einfach unglaublich!»
Inspector Maine erwiderte respektvoll: «Ich weiß,
Sir.»
«Zehn Leute tot auf einer Insel und keine lebende
Seele darauf», fuhr er fort. «Das ergibt keinen Sinn!»
«Und doch ist es geschehen, Sir», beharrte Inspec-
tor Maine.
«Verdammt und zugenäht, Maine, jemand muss sie
getötet haben.»
«Das genau ist unser Problem, Sir.»
«Und im Autopsiebericht? Nichts?»
«Nein, Sir. Wargrave und Lombard wurden er-
schossen, der erste durch den Kopf, der zweite
durchs Herz. Miss Brent und Marston starben an
Zyankalivergiftung. Mrs. Rogers starb an einer Über-
dosis Chlorid. Rogers wurde der Schädel gespalten.
Blores Kopf wurde zerquetscht. Armstrong ist er-
trunken. MacArthur wurde der Schädel durch einen
Schlag auf den Hinterkopf eingeschlagen und Vera
Claythorne wurde erhängt.»
Sir Thomas blinzelte. «Üble Sache – das Ganze.»
Er überlegte einen Augenblick und fragte gereizt:
«Wollen Sie sagen, dass Sie von den Leuten in Stick-
lehaven nichts Brauchbares erfahren haben? Ver-
flucht noch mal, die müssen doch etwas wissen.»
Inspector Maine zuckte mit den Schultern.
«Das sind einfache, anständige Leute, Sir, Seeleute.
Sie wissen, dass die Insel von einem Mann namens
Owen gekauft wurde – das ist aber auch schon alles.»
«Wer versorgte die Insel denn mit Lebensmitteln
und traf alle notwendigen Vorkehrungen?»
«Ein Mann namens Morris.»
«Und was sagt der zu all dem?»
«Er kann gar nichts sagen, Sir. Er ist tot.»
Sir Thomas runzelte die Stirn.
«Wissen wir etwas über diesen Morris?»
«O ja, Sir, wir kennen ihn. Kein sehr angenehmer
Zeitgenosse, dieser Morris. Er war in den Bennito-
Schwindel mit den gefälschten Aktien verwickelt –
vor drei Jahren –, wir sind völlig sicher, können es
aber nicht beweisen. Und er hatte seine Finger im
Drogengeschäft. Und auch das können wir nicht be-
weisen. Ein sehr vorsichtiger Mann, dieser Morris.»
«Er steckte auch hinter dieser Inselgeschichte?»
«Ja, Sir, er hat den Kauf abgewickelt – hat aber
Wert darauf gelegt, klarzustellen, dass er die Insel für
einen Kunden gekauft hat, der nicht genannt werden
wollte.»
«Da muss sich doch unter dem finanziellen Aspekt
etwas herauskriegen lassen?»
Inspector Maine lächelte.
«Sie kannten Morris nicht! Er jonglierte mit Zahlen,
bis der beste Wirtschaftsprüfer des Landes nicht
mehr wusste, wo oben und unten ist! Wir haben eine
Kostprobe davon im Bennito-Fall bekommen. Nein,
er hat die Spuren seines Auftraggebers gut ver-
wischt.»
Sir Thomas seufzte. Inspector Maine fuhr fort:
«Morris allein traf die Vorkehrungen unten in Stick-
lehaven. Sagte, er handle im Auftrag von ‹Mr. Owen›.
Und er war es auch, der den Leuten da unten erklär-
te, es ginge um eine Art Experiment – eine Wette,
wie man eine Woche lang auf einer ‹einsamen Insel›
leben konnte – und sie sollten Hilferufe von dort
nicht beachten.»
Sir Thomas Legge fuhr hoch.
«Und Sie wollen mir erzählen, dass die Leute den
Braten nicht gerochen hätten? Nicht einmal dann?»
Maine zuckte mit den Schultern.
«Sie vergessen, Sir, dass die Insel vorher dem jun-
gen Eimer Robson gehörte, diesem Amerikaner. Er
veranstaltete da unten die wildesten Partys. Den Leu-
ten vor Ort müssen fast die Augen aus dem Kopf
gefallen sein bei dem, was sie da sahen. Aber sie ge-
wöhnten sich daran und glaubten schließlich, alles,
was mit der Insel zu tun hat, wäre zwangsläufig ver-
rückt. Das ist nur natürlich, Sir, wenn man sich’s
recht überlegt.»
Sir Thomas räumte verdrießlich ein, dass es ver-
mutlich so war.
Maine fuhr fort: «Fred Narracott – das ist der
Mann, der die Gesellschaft zur Insel brachte – sagte
etwas Aufschlussreiches. Er sagte, er sei überrascht
gewesen, was für Leute das waren. ‹Kein bisschen so
wie bei Mr. Robsons Partys.› Ich glaube, die Tatsa-
che, dass alle so normal und ruhig waren, brachte ihn
dazu, Morris’ Befehle zu missachten und mit einem
Boot auf die Insel zu fahren, nachdem er von den
SOS-Signalen gehört hatte.»
«Wann fuhren er und die anderen Männer los?»
«Die Signale wurden von einer Pfadfindergruppe
am Morgen des Elften gesichtet. Es bestand keine
Möglichkeit, noch am gleichen Tag dorthin zu gelan-
gen. Die Männer kamen am Nachmittag des Zwölf-
ten dort an, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, wo
man dort mit einem Boot landen konnte. Sie sind
sich alle ganz sicher, dass niemand die Insel verlassen
haben kann, bevor sie dort ankamen. Das Meer war
zu aufgewühlt nach dem Sturm.»
«Könnte jemand zur Küste geschwommen sein?»
«Es ist mehr als eine Meile bis zur Küste, und das
Meer war stürmisch mit großen Brechern in Küsten-
nähe. Und es gab eine Menge Leute, Pfadfinder und
andere, die auf den Klippen standen und auf die In-
sel sahen und Ausschau hielten.»
Sir Thomas seufzte: «Was ist mit der Schallplatte,
die Sie in dem Haus gefunden haben? Konnten Sie
da etwas herausfinden, das weiterhilft?»
«Ich habe mich darum gekümmert, Sir», sagte In-
spector Maine. «Sie wurde von einer Firma geliefert,
die mit Theaterzeug und Filmeffekten zu tun hat. Sie
wurde an U. N. Owen c/o Mr. Morris ausgeliefert
und wurde angeblich für die Laienaufführung eines
bis dahin noch nicht aufgeführten Stücks benötigt.
Das Manuskript wurde zusammen mit der Schallplat-
te zurückgeschickt.»
«Und worum ging es dabei?», fragte Sir Thomas.
«Dazu komme ich jetzt, Sir.»
Inspector Maine räusperte seine Kehle frei.
«Ich habe die Anschuldigungen so sorgfältig wie ir-
gend möglich untersucht. Zuerst habe ich mir die
Rogers vorgenommen, die als Erste auf die Insel ka-
men. Sie waren bei einer Miss Brady angestellt, die
plötzlich verstarb. Von dem Arzt, der Miss Brady
behandelt hat, ist nichts Genaues zu erfahren. Er
sagt, sie hätten sie mit Sicherheit nicht vergiftet oder
etwas in der Art, aber seine persönliche Meinung sei,
dass irgendetwas faul war – dass sie als Folge von
Vernachlässigung starb. Sagt, dass dies so ein Fall ist,
den man unmöglich beweisen kann.
Dann haben wir Richter Wargrave. Der ist in Ord-
nung. Er war der Mann, der Seton verurteilte.
Übrigens, Seton war schuldig – ohne jeden Zweifel
schuldig. Nachdem er gehängt worden war, tauchten
Beweise auf, die das ohne den Schatten eines Zwei-
fels bewiesen. Aber es wurde viel darüber geredet
damals – neun von zehn Leuten waren der Ansicht,
Seton sei unschuldig und das Plädoyer des Richters
sei voller Rachsucht gewesen.
Was die Claythorne betrifft, habe ich herausgefun-
den, dass sie Erzieherin bei einer Familie war, in der
es einen Todesfall durch Ertrinken gegeben hat. Sie
scheint jedoch nichts damit zu tun gehabt zu haben,
sondern hat sich im Gegenteil sehr mutig verhalten.
Sie schwamm los, um dem Ertrinkenden zu Hilfe zu
eilen, und wurde dabei selbst aufs Meer hinausgetrie-
ben und erst in letzter Minute gerettet.»
«Fahren Sie fort», sagte Sir Thomas mit einem
Seufzer.
Maine holte tief Luft.
«Nun zu Dr. Armstrong. Ein bekannter Mann.
Hatte eine Praxis in der Harley Street. Absolut inte-
ger und korrekt in seinem Beruf. Habe nichts heraus-
finden können, was auf eine illegale Operation oder
irgendetwas in der Richtung hinweist. Allerdings hat
es da einmal eine Frau namens Clees gegeben, die
von ihm 1925 in Leithmore operiert wurde, als er
dort am Krankenhaus arbeitete. Eine Bauchfellent-
zündung, und sie starb auf dem Operationstisch.
Vielleicht war er nicht sehr geschickt bei der Opera-
tion – schließlich besaß er noch nicht viel Erfahrung
–, aber Ungeschicklichkeit ist kein Verbrechen. Es
gab mit Sicherheit kein Motiv für einen Mord.
Und dann haben wir Miss Emily Brent. Das Mäd-
chen, Beatrice Taylor, war bei ihr im Haushalt anges-
tellt. Wurde schwanger von ihrer Arbeitgeberin hi-
nausgeworfen und hat sich daraufhin ertränkt. Keine
schöne Geschichte – aber wieder nichts Kriminelles.»
«Das», sagte Sir Thomas Legge, «scheint mir der
springende Punkt. U. N. Owen kümmerte sich um
Fälle, an die das Gesetz nicht herankam.»
Maine fuhr unbeirrt in seiner Aufzählung fort.
«Der junge Marston war ein ziemlich rücksichtslo-
ser Autofahrer – bekam seinen Führerschein zweimal
entzogen, und meiner Meinung nach hätte man ihm
das Fahren ganz verbieten sollen. Aber das ist auch
schon alles. John und Lucy Combes hießen die bei-
den Kinder, die er in der Nähe von Cambrigde totge-
fahren hat. Ein paar Freunde von ihm sagten zu sei-
nen Gunsten aus, und er kam mit einer Geldstrafe
davon.
Bei General MacArthur kann ich nicht recht etwas
finden. Tadelloser Lebenslauf – im Krieg gedient –
und der ganze Rest. Arthur Richmond war ihm in
Frankreich unterstellt und wurde im Kampf getötet.
Zwischen ihm und dem General gab es keinerlei
Reibereien. Sie waren eng befreundet. Zu der Zeit
wurde viel verbockt – befehlshabende Offiziere op-
ferten oft unnötig Männer – vielleicht handelte es
sich um ein Versagen in der Art.»
«Möglich», bestätigte Sir Thomas.
«Jetzt zu Philip Lombard. Er war in ein paar zwie-
lichtige Unternehmungen im Ausland verstrickt. Ein-
oder zweimal ist er hart am Rande der Legalität gese-
gelt. Er galt als tollkühn und skrupellos. Einem wie
ihm würde man mehr als einen Mord an einem ruhi-
gen, weit entfernten Ort zutrauen.
Dann kommen wir zu Blore.» Maine zögerte. «Er
ist natürlich einer von unseren Männern.»
Sir Thomas fuhr hoch.
«Blore», sagte der stellvertretende Leiter des Yard
mit Nachdruck, «war ein faules Ei.»
«Glauben Sie, Sir?»
«Das habe ich immer schon geglaubt», gab er zu.
«Aber er war clever genug, damit durchzukommen.
Meiner Meinung nach hat er im Fall Landor einen
Meineid geschworen. Ich war darüber damals nicht
sehr glücklich. Aber ich konnte nichts beweisen. Ich
habe Harris darauf angesetzt, und er konnte auch
nichts finden. Aber ich bin nach wie vor der Mei-
nung, wir wären fündig geworden, wenn wir es rich-
tig angepackt hätten. Der Mann war ein Krimineller.»
Es entstand eine Pause, dann nahm Sir Thomas
den Faden wieder auf. «Und Morris ist tot, sagen Sie.
Wann ist er gestorben?»
«Ich dachte mir, dass Sie dazu noch kommen wür-
den, Sir. Morris starb in der Nacht vom achten Au-
gust. Er nahm eine Überdosis Schlafmittel ein – ein
Barbiturat, soweit ich weiß. Nichts, was darauf hin-
weist, ob es Unfall oder Selbstmord war.»
«Wollen Sie wissen, was ich glaube, Maine?», fragte
Sir Thomas bedächtig.
«Vielleicht kann ich es erraten, Sir.»
«Dieser Tod von Morris kommt mir ein bisschen
zu gelegen!», sagte Sir Thomas bestimmt.
Inspector Maine nickte. «Ich dachte mir, dass Sie
das sagen würden, Sir.»
Der stellvertretende Leiter des Yard ließ seine Faust
auf den Tisch krachen.
«Die ganze Sache ist fantastisch – unmöglich. Zehn
Leute werden auf einem kahlen Inselfelsen umgeb-
racht – und wir wissen weder, wer es getan hat, noch
warum oder wie.»
Maine hustete.
«Ganz so ist es nicht, Sir», widersprach er. «Wir
wissen, warum, jedenfalls mehr oder weniger. Irgen-
dein Fanatiker mit einem Gerechtigkeitstick. Er ist
hinter Leuten her, die das Gesetz nicht erreicht. Er
sucht sich zehn Leute – ob sie wirklich schuldig sind
oder nicht, spielt keine Rolle.»
Sir Thomas richtete sich auf und sagte in scharfem
Ton: «Spielt keine Rolle? Mir scheint –»
Er hielt inne. Inspector Maine wartete respektvoll.
Mit einem Seufzer schüttelte Sir Thomas Legge den
Kopf.
«Fahren Sie fort», forderte er Maine auf. «Einen
Moment lang habe ich geglaubt, ich hätte den
Schlüssel zu dem Fall. Jetzt ist er weg. Fahren Sie
fort mit dem, was Sie sagen wollten.»
«Es waren zehn Leute», begann Maine. «Zehn
Menschen, die – nennen wir es einmal so – exeku-
tiert werden sollten. Und sie wurden exekutiert. U.
N. Owen vollendete sein Werk. Und irgendwie
schaffte er es, sich von der Insel wegzuzaubern und
in Luft aufzulösen.»
«Ein erstklassiger Zaubertrick», befand Sir Thomas.
«Aber Sie wissen, Maine, dass es eine Erklärung da-
für geben muss.»
«Sie denken, Sir», fuhr Maine fort, «dass, falls der
Mann nicht auf der Insel war, er die Insel auch nicht
verlassen haben konnte – und glaubt man den Be-
richten aller beteiligten Parteien, dann war er nie auf
der Insel. Und die einzig mögliche Erklärung dafür
ist – dass er selbst einer der zehn gewesen sein
muss.»
Sir Thomas nickte.
«Daran haben wir auch gedacht, Sir», erklärte In-
spector Maine. «Das haben wir untersucht. Jetzt tap-
pen wir nicht mehr ganz so im Dunkeln bezüglich
dessen, was sich auf der Insel abgespielt hat. Vera
Claythorne führte ein Tagebuch und auch Emily
Brent. Der alte Wargrave machte ein paar Notizen –
langweiliges, rätselhaftes juristisches Zeug, aber doch
ganz klar. Und Blore machte sich ebenfalls Notizen.
Alle diese Berichte passen zusammen. Die Todesfälle
ereigneten sich in folgender Reihenfolge: Marston,
Mrs. Rogers, MacArthur, Rogers, Miss Brent, War-
grave. Nach seinem Tod hält Vera Claythornes Ta-
gebuch fest, dass Armstrong nachts das Haus verließ
und Blore und Lombard ihm nachgingen. Blore hat
einen Eintrag mehr in seinem Tagebuch. Nur drei
Worte. ‹Armstrong ist verschwunden.›
Mir scheint, Sir, wenn man alles berücksichtigt,
könnten wir eine befriedigende Lösung finden.
Armstrong ertrank, wenn Sie sich erinnern. Räumen
wir ein, dass Armstrong verrückt war, was sollte ihn
daran hindern, die anderen zu töten und dann
Selbstmord zu begehen, indem er sich von der Klip-
pe stürzte oder vielleicht, während er versuchte, das
Festland schwimmend zu erreichen?
Das war eine gute Lösung – aber nicht gut genug.
Nicht gut genug, Sir. Erst einmal gibt es die Aussage
des Polizeiarztes. Er kam früh am Morgen des drei-
zehnten August auf die Insel. Er konnte nicht viel
sagen, was uns weiterbrachte. Was er sagen konnte,
war, dass all die Leute mindestens schon sechsund-
dreißig Stunden tot waren und wahrscheinlich noch
länger. Aber er war ziemlich sicher, was Armstrong
anging. Er sagte, er müsse acht bis zehn Stunden im
Wasser gewesen sein, ehe der Körper angeschwemmt
wurde. Das bedeutet dann, dass Armstrong irgend-
wann in der Nacht vom Zehnten oder Elften ins
Meer gekommen sein muss – und ich werde Ihnen
erklären, warum. Wir haben die Stelle gefunden, wo
der Körper angespült wurde – er war zwischen zwei
Felsen eingekeilt, und wir fanden dort Fetzen seiner
Kleidung, Haare und anderes. Er muss am elften bei
Hochwasser dort hingelegt worden sein – und zwar
um elf Uhr vormittags. Danach ließ der Sturm nach,
und die folgenden Hochwassermarken lagen beträch-
tlich niedriger.
Sie könnten sagen, vermute ich, dass es Armstrong
gelang, die anderen drei aus dem Weg zu räumen,
bevor er in dieser Nacht ins Meer ging. Aber da ist
noch ein Punkt, und der spricht dagegen. Arm-
strongs Körper ist über die Hochwassermarke hinaus
gezerrt worden. Wir haben ihn weiter oben gefun-
den, außerhalb der Reichweite der Flut – ganz sauber
und ordentlich.
Jetzt wissen wir eine Sache definitiv. Irgendjemand
war noch am Leben, nachdem Armstrong bereits tot
war.»
Er machte eine Pause und fuhr dann fort:
«Und das heißt – ja, was heißt es genau? Dies ist die
Lage am Morgen des Elften. Armstrong ist ver-
schwunden (ertrunken). Das heißt, uns bleiben drei
Menschen: Lombard, Blore und Vera Claythorne.
Lombard wurde erschossen. Sein Körper lag unten
am Strand – in der Nähe von Armstrong. Vera Clay-
thorne wurde erhängt in ihrem Schlafzimmer gefun-
den. Blores Leiche lag auf der Terrasse. Sein Kopf
war von einer Marmoruhr eingeschlagen, die vermut-
lich aus dem Fenster über ihm auf ihn fiel.»
«Wessen Fenster?», fragte Sir Thomas scharf.
«Vera Claythornes, Sir. Lassen Sie uns jetzt jeden
der Fälle einzeln betrachten. Zuerst Philip Lombard.
Nehmen wir einmal an, er warf den Marmorblock
auf Blore – dann betäubte er Vera Claythorne und
knüpfte sie auf. Zuallerletzt ging er hinunter zum
Strand und hat sich erschossen.
Aber falls das so war, wer nahm ihm den Revolver
weg? Denn der Revolver wurde im Haus gefunden,
hinter der Tür am Ende der Treppe – in Wargraves
Zimmer.»
«Irgendwelche Fingerabdrücke darauf?», fragte Sir
Thomas.
«Ja, Sir. Vera Claythornes.»
«Aber, Herrgott noch mal, dann –»
«Ich weiß, was Sie sagen werden, Sir. Dass es Vera
Claythorne war, dass sie Lombard erschoss und den
Revolver ins Haus zurücktrug, Blore den Marmor-
block auf den Kopf warf und dann – sich selbst er-
hängte.
Das könnte hinkommen – bis auf einen Punkt. Es
gibt einen Stuhl in ihrem Schlafzimmer, und auf dem
Stuhl sind Spuren von Seetang, und an ihren Schu-
hen auch. Es sieht so aus, als wäre sie auf den Stuhl
gestiegen, hätte sich das Seil um den Hals gelegt und
anschließend mit den Füßen den Stuhl weggestoßen.
Aber dieser Stuhl wurde nicht umgestoßen gefun-
den. Er war wie alle anderen Stühle ordentlich an die
Wand gestellt. Das wurde nach Vera Claythornes
Tod gemacht – von jemand anders.
Uns bleibt nur Blore, Sir, und wenn Sie mir sagen,
dass er – nachdem er Lombard erschossen und Vera
Claythorne dazu gebracht hat, sich aufzuhängen –
nach draußen ging und sich einen Wackermann von
einem Marmorblock über den Kopf zog mit Hilfe
einer Schnur oder irgend so etwas – nun, dann glau-
be ich Ihnen einfach nicht. So verüben Männer ein-
fach keinen Selbstmord – und dazu kommt noch,
dass Blore nicht der Typ dafür war. Wir kannten Blo-
re – und er war nicht der Mann, dem man je unters-
tellen könnte, er hätte einen Wunsch nach reiner Ge-
rechtigkeit gehabt.»
«Ganz meine Meinung», stimmte Sir Thomas zu.
«Und deshalb muss jemand anders auf der Insel
gewesen sein, Sir», meinte Maine. «Jemand, der auf-
räumte, als die ganze Sache vorbei war. Aber wo war
er die ganze Zeit über? Und wohin ging er danach?
Die Leute von Sticklehaven sind absolut sicher, dass
niemand die Insel verlassen haben kann, bevor das
Rettungsboot dorthin kam. Aber in dem Fall –»
Er hielt inne.
«In dem Fall –», wiederholte Sir Thomas.
Er seufzte und schüttelte den Kopf. Dann beugte
er sich nach vorne und sagte:
«Aber in dem Fall, wer hat sie dann umgebracht?»
handgeschriebenes Manuskript,
vom Kapitän des Fischkutters Emma Jane
an Scotland Yard weitergeleitet
Von frühester Jugend an war ich mir bewusst, dass mein Cha-
rakter aus einer Reihe von Widersprüchen bestand. Ich habe,
das gestehe ich vorweg eine unheilbar romantische Vorstel-
lungskraft. Der Brauch, eine Flasche mit einem wichtigen
Dokument ins Meer zu werfen, hat mich schon fasziniert, seit
ich als Kind Abenteuergeschichten las. Er fasziniert mich
immer noch – und aus diesem Grunde habe ich diese Vorge-
hensweise gewählt: Ich schreibe mein Geständnis, stecke es in
eine Flasche, verschließe sie und werfe sie in die Wellen. Mei-
ner Einschätzung nach stehen die Chancen eins zu einhundert,
dass mein Geständnis gefunden wird – und dann (oder
schmeichle ich mir?) wird ein bis dato ungelöster Mordfall seine
Aufklärung finden.
Neben meiner romantischen Fantasie sind mir auch noch
andere Charakterzüge angeboren. Ich empfinde ein ausgespro-
chen sadistisches Vergnügen, wenn ich beim Töten zuschauen
oder den Tod herbeiführen kann. Ich erinnere mich an Expe-
rimente mit Wespen – und mit verschiedenen anderen Garten-
plagen… Von frühester Jugend an empfand ich eine sehr
starke Lust am Töten.
Hand in Hand damit ging jedoch ein entgegengesetzter Cha-
rakterzug – ein starker Sinn für Gerechtigkeit. Es ist mir ein
Gräuel, wenn ein unschuldiger Mensch oder eine Kreatur
durch meine Hand leiden oder sterben muss. Mir war immer
sehr daran gelegen, dass das Recht siegen sollte.
Es ist daher verständlich – ich glaube, ein Psychologe würde
es verstehen –, dass ich bei meinen Neigungen, so wie sie nun
einmal waren, die Rechtsprechung zu meinem Beruf gemacht
habe. Die Juristerei befriedigte fast alle meine Triebe.
Das Verbrechen und seine Bestrafung hat mich immer schon
fasziniert. Ich lese gern jede Art von Detektivgeschichte und
jeden Kriminalroman. Zu meinem Privatvergnügen habe ich
mir die genialsten Mordarten ausgedacht.
Als ich im Laufe meiner Karriere den Vorsitz eines Ge-
richts übernahm, wurde mein heimlicher Trieb ermutigt, sich
weiterzuentwickeln. Zuzusehen, wie ein krimineller Schurke
sich im Zeugenstand wand und die Qualen der Verdammten
erlitt, wenn sein Untergang nach und nach langsam näher
rückte, bereitete mir außerordentliches Vergnügen. Verstehen
Sie mich richtig ich empfand kein Vergnügen, einen unschuldi-
gen Menschen dort zu sehen. Bei mindestens zwei Anlässen
brach ich Verhandlungen ab, bei denen der Beschuldigte mei-
nes Erachtens nach unschuldig war, und ich unterrichtete die
Geschworenen entsprechend.
Dank der Fairness und der Professionalität unserer Poli-
zeikräfte war jedoch die Mehrzahl der Angeklagten, die ich
bei Mordprozessen vor mir hatte, schuldig.
Ich möchte an dieser Stelle sagen, dass dies auch auf den
Fall Edward Seton zutraf. Sein Aussehen und Auftreten
waren irreführend, und er machte einen guten Eindruck auf
die Geschworenen. Aber nicht nur die Indizien, die klar, wenn
auch unspektakulär waren, sondern meine eigene Kenntnis von
Kriminellen sagte mir ohne jeden Zweifel, dass der Mann tat-
sächlich das Verbrechen begangen hatte, dessen er beschuldigt
wurde: den brutalen Mord an einer älteren Frau, die ihm
vertraut hatte.
Ich habe den Ruf eines Scharfrichters, aber das ist nicht fair.
Ich bin in meinen Plädoyers immer streng gerecht und gewis-
senhaft verfahren.
Was ich getan habe, war nichts anderes, als die Geschwore-
nen vor der Wirkung emotionsgeladener Appelle seitens unse-
rer mit Emotionen arbeitenden Anwälte zu schützen. Ich habe
die Aufmerksamkeit der Geschworenen nur auf die vorliegen-
den Beweise gelenkt.
Im Laufe mehrerer Jahre hat sich in mir ein Wandel vollzo-
gen, ein Nachlassen der Kontrolle – ein Wunsch zu handeln
anstatt zu richten.
Ich habe – lassen Sie mich das offen zugeben – selbst einen
Mord begehen wollen. Ich erkannte dies als den Wunsch des
Künstlers, sich auszudrücken! Ich war selbst ein Künstler des
Verbrechens oder könnte einer sein! Meine Fantasie, die so
streng von den Notwendigkeiten meines Berufs in Schranken
gehalten wurde, schwoll insgeheim zu kolossaler Kraft an.
Ich musste – ja, ich musste einen Mord begehen! Und es soll-
te kein gewöhnlicher Mord sein. Es sollte ein fantastisches
Verbrechen sein – etwas Gewaltiges – ganz und gar Unge-
wöhnliches! In dieser einen Hinsicht habe ich, denke ich, im-
mer noch die Fantasie eines Heranwachsenden.
Ich wollte etwas Theatralisches, Unmögliches!
Ich wollte töten…ja, ich wollte töten…
Aber – so widersinnig das einigen vorkommen mag – ich
war gebremst und behindert von meinem angebotenen Gerech-
tigkeitssinn. Unschuldige durften nicht leiden.
Und dann kam mir ganz plötzlich die Idee – ausgelöst
durch eine zufällige Bemerkung während einer ganz normalen
Unterhaltung. Ich sprach gerade mit einem Arzt – irgendei-
nem gewöhnlichen, nicht weiter bekannten Allgemeinmedizi-
ner. Er erwähnte beiläufig wie oft Morde begangen würden,
denen mit dem Gesetz nicht beizukommen war.
Und er führte als Beispiel einen bestimmten Fall an – den
einer alten Dame, einer Patientin von ihm, die vor kurzem
verstorben war. Er selbst war, wie er sagte, davon überzeugt,
dass ihr Tod durch das Nichtverabreichen eines notwendigen
Medikaments von Seiten eines Ehepaars, das für ihre Pflege
zuständig war und durch ihren Tod beträchtlich profitierte,
verursacht wurde. Ein solcher Fall, erklärte er, sei ganz un-
möglich zu beweisen, aber er seinerseits sei trotzdem völlig da-
von überzeugt, dass es sich so zugetragen habe. Er fügte hinzu,
dass es viele Fälle vergleichbarer Art immer und überall gäbe
– Fälle wohl überlegten Mordes – und alle nicht erreichbar
durch das Gesetz.
Das war der Anfang von allem. Ich sah plötzlich klar mei-
nen Weg. Und ich beschloss, nicht einen Mord zu begehen,
sondern Mord in großem Stil.
Ein kindischer Reim aus meiner Jugend fiel mir wieder ein
– der Vers von den zehn kleinen Negerlein. Er hatte mich
schon als zweijähriges Kind fasziniert – das gnadenlose Da-
hinschwinden – das Gefühl der Unausweichlichkeit.
Ich begann insgeheim Opfer zu sammeln…
Ich möchte hier nicht langatmig in Einzelheiten schwelgen,
wie ich vorgegangen bin. Ich habe eine bestimmte Methode der
Gesprächsführung entwickelt, die ich bei jedem anwandte, den
ich traf – und die Resultate, die ich erzielte, waren wirklich
überraschend. Während meines Aufenthalts in einem Sanato-
rium hörte ich von Dr. Armstrong – eine Schwester, die lei-
denschaftliche Antialkoholikerin war, pflegte mich und erzähl-
te übereifrig von einem Fall, der dazu angetan war, die ver-
derbliche Wirkung der Alkoholsucht zu beweisen. Vor vielen
Jahren hatte sie in einem Krankenhaus gearbeitet, wo ein Arzt
bei einer Operation unter dem Einfluss von Alkohol eine Pa-
tientin getötet hatte. Eine unauffällige Frage, wo die Schwester,
um die es ging ausgebildet worden war etc. lieferte mir bald die
nötigen Daten. Ich machte den Arzt und die besagte Patientin
ohne Schwierigkeiten ausfindig.
Eine Unterhaltung zwischen alten Armeeklatschbasen in
meinem Klub brachte mich auf die Fährte von General Ma-
cArthur. Ein Mann, der erst vor kurzem aus dem Amazo-
nasgebiet zurückgekehrt war, gab mir ein vernichtendes Resü-
mee der Aktivitäten eines gewissen Philip Lombard. Eine
Dame aus den Kolonien erzählte mir auf Mallorca die Ge-
schichte der puritanischen Emily Brent und ihres unglückli-
chen Dienstmädchens. Anthony Marston wählte ich aus einer
umfangreichen Gruppe von Leuten, die ähnliche Verfehlungen
begangen hatten. Seine Kaltschnäuzigkeit und seine Unfähig-
keit, sich für die Leben, die er ausgelöscht hatte, verantwortlich
zu fühlen, machten ihn meiner Einschätzung nach zu einem
Menschen, der für die Gemeinschaft gefährlich war und der es
nicht verdiente, weiterzuleben. Ex-Inspector Blore lief mir
natürlich über den Weg als meine Berufskollegen den Fall
Landor offen und engagiert diskutierten. Ich war der Meinung
dass sein Vergehen schwerwiegend war. Die Polizei, als Die-
ner des Gesetzes, muss eine höhere Form von Integrität besit-
zen. Denn ihr Wort hat wegen der Art ihres Berufs ein be-
sonderes Gewicht.
Zuletzt war da noch der Fall von Vera Claythorne. Das
war, als ich den Atlantik überquerte. Eines Nachts waren zu
später Stunde die einzigen Anwesenden im Rauchersalon ein
gut aussehender Mann namens Hugo Hamilton und ich.
Hugo Hamilton war unglücklich. Um sein Unglück zu lin-
dern, hatte er eine beträchtliche Menge Alkohol getrunken. Er
war im rührseligen, mitteilsamen Stadium. Ohne viel Hoff-
nung auf Erfolg startete ich mein routinemäßiges Unterhal-
tungsspiel. Die Antwort war überraschend. Ich kann mich
jetzt noch an seine Worte erinnern:
«Sie haben Recht, Sir. Mord ist nicht, was Leute denken –
jemandem eine ordentliche Dosis Arsen verpassen – ihn von
der Klippe stürzen – etwas in der Art.» Er lehnte sich vor,
streckte mir sein Gesicht entgegen: «Ich habe eine Mörderin
gekannt – sie gekannt, sage ich Ihnen. Mehr noch, ich war
verrückt nach ihr… Gott steh mir bei, manchmal denke ich,
ich bin es noch… Es ist die Hölle, sage ich Ihnen – die Hölle.
Wissen Sie, sie tat es für mich, mehr oder weniger… Nicht,
dass ich mir das je vorgestellt hätte – Frauen sind Teufel –
absolute Teufel –, Sie würden nie denken, dass ein Mädchen
wie sie – ein nettes, offenes, fröhliches Mädchen – so etwas tut.
Ein Kind raus aufs Meer mitnehmen und es ertrinken lassen
– Sie würden nie denken, dass eine Frau so etwas tut, oder?»
Ich fragte ihn: «Sind Sie sicher, dass sie es getan hat?»
Er sagte, und als er das sagte, schien er plötzlich nüchtern:
«Ich bin völlig sicher. Niemand anders hat je daran gedacht.
Aber ich wusste es in dem Moment, als ich sie sah – sobald
ich zurückkam – danach… Und sie wusste, dass ich es wuss-
te… Was sie nicht wusste, war, dass ich dieses Kind geliebt
habe…»
Er sagte nichts weiter, aber es war leicht für mich, die Ge-
schichte zurückzuverfolgen und zu rekonstruieren.
Ich brauchte ein zehntes Opfer. Ich fand es in einem Mann
namens Morris. Er war ein schmieriger kleiner Ganove. Un-
ter anderem war er ein Drogenhändler und verantwortlich
dafür, dass die Tochter von Freunden süchtig wurde. Sie beging
im Alter von einundzwanzig Selbstmord.
Während dieser langen Zeit der Suche reifte der Plan nach
und nach in meinem Kopf. letzt war er vollständig und der
letzte Stein war ein Interview, das ich mit einem Arzt in der
Harley Street führte. Ich habe schon erwähnt, dass ich mich
einer Operation unterzog. Mein Gespräch in der Harley Street
ergab, dass eine weitere Operation nutzlos sein würde. Mein
medizinischer Ratgeber verpackte die Information sehr hübsch,
aber ich bin daran gewöhnt, einer Aussage auf den Grund zu
gehen.
Ich erzählte dem Arzt nicht von meiner Entscheidung dass
mein Tod kein langsamer und verzögerter sein sollte, wie die
Natur ihn für mich vorgesehen hatte. Nein, mein Tod sollte
sich in einem wilden Rausch vollziehen. Ich würde leben, bevor
ich starb.
Und jetzt dazu, wie ich das Verbrechen von Nigger Island
bewerkstelligt habe. Die Insel zu erwerben, Morris zu benut-
zen, um meine Spuren zu verwischen, war leicht genug. Er
war ein Experte in diesen Dingen. Ich ordnete die Informatio-
nen, die ich über meine zukünftigen Opfer zusammengetragen
hatte, und war in der Lage, mir einen passenden Köder für
jeden von ihnen einfallen zu lassen. Kein einziger meiner Pläne
misslang. Alle meine Gäste kamen am achten August auf der
Insel an. Ich selbst gehörte auch zu der Gesellschaft.
Für Morris hatte ich bereits Vorsorge getroffen. Er litt an
Verstopfung. Bevor ich von London wegfuhr, gab ich ihm eine
Kapsel, die er als Letztes vor dem Einschlafen einnehmen
sollte und die, wie ich ihm versicherte, für meine eigenen Ma-
gensäfte Wunder wirkte. Er nahm sie, ohne zu zögern – der
Mann war ein leichter Hypochonder. Ich hatte keine Angst,
dass er irgendwelche kompromittierenden Dokumente oder
Aufzeichnungen hinterlassen würde. Er war nicht der Typ für
so etwas.
Die Reihenfolge der Todesfälle auf der Insel war von mir mit
besonderer Sorgfalt und Mühe bedacht worden. Es gab bei
meinen Gästen, wie ich fand, unterschiedliche Schweregrade
ihrer Schuld. Ich entschied, dass diejenigen, deren Schuld am
leichtesten war, als Erste umkommen sollten – sie sollten nicht
die langwierige psychische Belastung und Angst durchmachen,
die die kaltblütigeren Übeltäter zu erleiden hatten.
Anthony Marston und Mrs. Rogers starben zuerst, der Ers-
te unverzüglich, die Zweite in friedlichem Schlaf. Marston,
erkannte ich, war ein Typ Mensch, der ohne jenes Gefühl mo-
ralischer Verantwortung geboren war, das die meisten von uns
besitzen. Er war unmoralisch – gottlos. Und Mrs. Rogers,
daran zweifelte ich nicht, hatte weitgehend unter dem Einfluss
ihres Ehemannes gehandelt.
Ich brauche nicht genau zu beschreiben, wie diese beiden ih-
ren Tod fanden. Die Polizei wird in der Lage gewesen sein,
das ganz leicht herauszufinden. Zyankali ist leicht erhältlich
für jeden Hausbesitzer, der Wespen bekämpfen will. Ich hatte
etwas davon in meinem Besitz, und in der Phase der Aufre-
gungen, nach dem Abspielen der Schallplatte, war es leicht,
das Gift in Marstons leeres Glas zu befördern.
Während das Grammophon lief, habe ich die Gesichter mei-
ner Gäste genau beobachtet, und ich muss sagen, nach meiner
langen Gerichtserfahrung hatte ich nicht den geringsten Zwei-
fel, dass jeder Einzelne von ihnen schuldig war.
Während akuter Schmerzanfälle hatte man mir einen
Schlaftrunk verordnet – Chloralhydrat. Es war sehr leicht für
mich, es so lange nicht einzunehmen, bis sich eine tödliche
Menge davon in meinem Besitz befand. Als Rogers den Bran-
dy für seine Frau hinauftrug setzte er ihn auf einem Tisch ab,
und als ich an diesem Tisch vorbeiging schüttete ich das Zeug
in den Brandy. Das war leicht, denn zu diesem Zeitpunkt
hatte sich das Misstrauen noch nicht eingenistet.
General MacArthur starb ziemlich schmerzlos. Er hörte
nicht, wie ich von hinten auf ihn zukam. Natürlich musste ich
sorgfältig meinen Zeitpunkt zum Verlassen der Terrasse wäh-
len, aber alles ging gut.
Wie ich vorausgesehen hatte, wurde die Insel durchsucht, und
es wurde entdeckt, dass sich niemand außer uns sieben auf ihr
befand. Das erzeugte sofort eine Atmosphäre von Misstrauen.
Nach meinem Plan würde ich in Kürze einen Verbündeten
brauchen. Ich wählte für diese Rolle Dr. Armstrong. Er war
ein leichtgläubiger Mensch, er kannte mich vom Sehen und
wusste um meine Reputation – und für ihn war es unvorstell-
bar, dass ein Mann meiner gesellschaftlichen Position in
Wirklichkeit ein Mörder sein könnte1. Alle seine Verdächti-
gungen richteten sich gegen Lombard, und ich gab vor, mit ihm
der gleichen Meinung zu sein. Ich ließ bei ihm durchblicken,
dass ich einen Plan hatte, mit dem es möglich sein würde, den
Mörder dazu zu bringen, sich selbst zu verraten.
Obgleich das Zimmer jedes Einzelnen von uns durchsucht
worden war, hatte es bisher noch keine Leibesvisitationen gege-
ben. Aber das sollte noch kommen.
Ich tötete Rogers am Morgen des zehnten August. Er hackte
Holz für das Feuer und hörte nicht, dass ich mich näherte. Ich
fand den Schlüssel zum Esszimmer in seiner Tasche. Er hatte
es am Abend zuvor verschlossen.
In dem Tumult, den das Auffinden von Rogers’ Leiche be-
gleitete, schlüpfte ich in Lombards Zimmer und entwendete
seinen Revolver. Ich wusste, dass er einen bei sich führen würde
– tatsächlich hatte ich Morris instruiert, etwas in der Art
vorzuschlagen, als er ihn anwarb.
Beim Frühstück schüttete ich meine letzte Dosis Chloral in
Miss Brents Kaffee, als ich ihre Tasse wieder füllte. Wir ließen
Miss Brent allein im Esszimmer zurück. Ich schlüpfte kurz
darauf wieder herein – sie war fast bewusstlos, und es war
leicht, eine starke Lösung Zyankali zu injizieren. Die Sache
mit den Bienen war reichlich kindisch – aber irgendwie hat sie
mich gefreut, das gebe ich zu. Ich habe mich gern so nah wie
möglich an den Kindervers gehalten.
Unmittelbar danach geschah das, was ich vorausgesehen hat-
te – ich glaube sogar, dass ich es vorgeschlagen habe. Wir un-
terwarfen uns alle einer strengen Leibesvisitation. Ich hatte den
Revolver sicher versteckt und kein Zyankali oder Chloral
mehr in meinem Besitz.
An diesem Punkt gab ich Armstrong diskret zu verstehen,
dass wir unseren Plan ausführen sollten. Er bestand darin,
dass es so aussehen musste, als wäre ich das nächste Opfer.
Das würde den Mörder vielleicht nervös machen – auf jeden
Fall könnte ich, nachdem ich angeblich tot war, mich im Haus
frei bewegen und den unbekannten Mörder ausspionieren.
Armstrong fand die Idee überzeugend. Wir führten sie am
gleichen Abend aus. Ein wenig rote Farbe auf meiner Stirn,
der rote Vorhang und die Wolle, und die Bühne war vorberei-
tet. Die Lichter der Kerzen flackerten, das Licht war ge-
dämpft, und die einzige Person, die mich von nahem untersu-
chen würde, war Armstrong.
Es klappte perfekt. Miss Claythorne schrie das Haus zu-
sammen, als sie den Seetang fand, den ich mit Bedacht in ih-
rem Zimmer verteilt hatte. Sie kamen alle herbeigeeilt, und ich
bezog Position in meiner Rolle als Leiche.
Als sie mich fanden, ließ die Wirkung nichts zu wünschen
übrig. Armstrong spielte seine Rolle höchst professionell. Sie
trugen mich nach oben und legten mich auf mein Bett. Nie-
mand kümmerte sich um mich, sie waren alle zu Tode er-
schreckt und voller Angst voreinander.
Viertel vor zwei hatte ich eine Verabredung mit Armstrong
außerhalb des Hauses. Ich nahm ihn ein Stück Weg mit bis
zum Ende der Klippe. Ich sagte ihm, dass wir hier sehen
könnten, sobald sich uns jemand näherte, aber wir könnten
vom Haus aus nicht gesehen werden, weil die Schlafzimmer
auf der anderen Seite lagen. Er war immer noch ohne jeden
Verdacht und doch hätte er vorgewarnt sein müssen, wenn er
sich an die Worte des Kinderreims erinnert hätte. «Ein roter
Hering schwamm vorbei… » Er schluckte den roten Hering
ohne Arg.
Es war ganz leicht. Ich rief irgendetwas, beugte mich über
die Klippe, sagte ihm, er solle schauen, war das nicht der Ein-
gang zu einer Höhle? Er lehnte sich weit hinüber. Ein schnel-
ler, kräftiger Schubs ließ, ihn die Balance verlieren und in das
tosende Meer stürzen. Ich kehrte zum Haus zurück. Blore
muss meine Schritte gehört haben. Ein paar Minuten nachdem
ich in Armstrongs Zimmer zurückgekehrt war, verließ ich es
wieder, dieses Mal reichlich Lärm verursachend, sodass einer
mich hören musste. Als ich am Fuß der Stufen angelangt war,
hörte ich eine Tür aufgehen. Sie müssen meine Gestalt einen
Moment lang gesehen haben, als ich zur Eingangstür hinaus-
lief.
Es dauerte eine Weile, ehe sie mir folgten. Ich ging einmal
um das Haus herum und stieg durch das Esszimmerfenster,
das ich offen gelassen hatte, wieder hinein. Ich schloss das
Fenster, und später zerbrach ich das Glas. Dann ging ich
nach oben und legte mich wieder auf mein Bett.
Ich rechnete mir aus, dass sie das Haus noch einmal durch-
suchen würden, aber ich glaubte nicht, dass sie sich die Leichen
genau ansehen würden, nur ein kurzes Aufschlagen des Bett-
tuchs, um sich zu vergewissern, dass Armstrong sich nicht als
Leiche ausgab. Genauso ist es dann passiert.
Ich vergaß zu erwähnen, dass ich den Revolver in Lombards
Zimmer zurückbrachte. Es mag von Interesse sein zu erfah-
ren, wo er während der Suche versteckt war. In der Speise-
kammer gab es einen Stapel aufgetürmter Konserven. Ich öffne-
te die unterste der Dosen, sie enthielt Kekse, glaube ich, legte
den Revolver hinein und verschloss sie mit Klebeband.
Ich kalkulierte richtig dass keiner daran denken würde, sich
durch einen Berg augenscheinlich unberührter Nahrungsmittel
zu arbeiten, zumal die obersten Dosen zugelötet waren.
Den roten Vorhang hatte ich versteckt, indem ich ihn flach
unter den Chintzbezug der Polsterung eines der Wohnzimmer-
sessel legte. Die Wolle steckte ich in ein Sitzkissen, in das ich
ein kleines Loch schnitt.
Und jetzt kam der Moment, den ich herbeigesehnt hatte:
Drei Menschen hatten so viel Angst voreinander, dass alles
passieren konnte. Und einer von ihnen hatte einen Revolver.
Ich beobachtete sie von den Fenstern des Hauses aus. Als
Blore allein ankam, hatte ich die große Marmoruhr schon
bereitgestellt. Ab tritt Blore…
Von meinem Fenster aus sah ich, wie Vera Claythorne
Lombard erschoss. Eine wagemutige und erfindungsreiche
Frau. Ich dachte immer, dass sie für ihn eine ebenbürtige Ge-
gnerin sein würde und mehr. Sobald das geschehen war, berei-
tete ich in ihrem Schlafzimmer alles vor.
Es war ein interessantes psychologisches Experiment. Würde
das Bewusstsein ihrer eigenen Schuld, der Zustand ihrer Ner-
ven, nachdem sie gerade einen Menschen erschossen hatte, zu-
sammen mit der hypnotischen Kraft der Umgebung sie dazu
bringen, dass sie sich das Leben nahm? Ich glaubte, ja. Ich
hatte Recht. Vera Claythorne erhängte sich vor meinen Au-
gen, während ich im Schatten ihres Kleiderschranks stand.
Und nun zum letzten Akt. Ich trat vor, nahm den Stuhl
und stellte ihn an die Wand. Ich sah nach dem Revolver und
fand ihn am Ende der Stufen, wo das Mädchen ihn fallen
gelassen hatte. Ich gab mir Mühe, ihre Fingerabdrücke darauf
nicht zu verwischen.
Und jetzt?
Ich werde mit dem Schreiben aufhören. Ich werde meine
Aufzeichnungen in eine Flasche stecken und sie versiegeln, und
ich werde die Flasche ins Meer werfen.
Warum?
Ja, warum?
Es war mein Ehrgeiz, einen Mordfall zu erfinden, den nie-
mand lösen kann.
Aber kein Künstler, das ist mir jetzt klar, kann mit seiner
Kunst allein zufrieden sein. Es gibt einen natürlichen Drang
nach Anerkennung der nicht geleugnet werden kann.
Ich habe, lassen Sie mich das in aller Bescheidenheit beken-
nen, den erbärmlichen menschlichen Wunsch, dass jemand
wissen soll, wie schlau ich gewesen bin…
Bei all dem habe ich angenommen, dass das Geheimnis von
Nigger Island ungelöst bleiben wird. Natürlich könnte es sein,
dass die Polizei klüger ist, als ich mir das vorstellen kann.
Schließlich gibt es drei Hinweise. Erstens: Die Polizei weiß,
genau, dass Edward Seton schuldig war. Sie wissen deshalb,
dass einer der zehn Menschen auf der Insel in keinem Sinn des
Wortes ein Mörder war, und daraus folgt paradoxerweise,
dass diese Person logischerweise der Mörder sein muss.
Der zweite Hinweis ist im siebten Vers des Kinderreims ver-
steckt. Armstrongs Tod wird mit dem roten Hering in Ver-
bindung gebracht, dem falschen Köder, den er schluckte – oder
vielmehr der dazu führte, dass er verschluckt wurde. Das be-
deutet, dass in diesem Stadium der Dinge irgendein Hokus-
pokus klar angezeigt war – und dass Armstrong davon ge-
täuscht und in den Tod geschickt wurde. Das könnte einen
aussichtsreichen Zweig der Ermittlungen eröffnen. Denn zu
diesem Zeitpunkt gibt es nur vier Personen, und von diesen
vieren bin ich klar der Einzige, der Vertrauen einflößt.
Der dritte Hinweis ist symbolisch. Die Art meines Todes
mit dem Zeichen auf der Stirn. Das Kainsmal.
Es gibt, glaube ich, wenig mehr zu sagen.
Nachdem ich meine Flasche und ihre Botschaft dem Meer
anvertraut habe, werde ich in mein Zimmer gehen und mich
auf das Bett legen. An meiner Brille ist so etwas wie eine dün-
ne schwarze Schnur befestigt – in Wirklichkeit ist es ein
Gummiband. Ich werde mein ganzes Körpergewicht auf die
Brillengläser legen. Das Gummiband werde ich um die Tür-
klinke schlingen und es – nicht zu fest – am Revolver befesti-
gen. Was meiner Ansicht nach geschehen wird, ist Folgendes:
Meine Hand schütze ich mit einem Taschentuch und ziehe
am Abzugshahn des Revolvers. Der Schuss geht los. Meine
Hand fällt zur Seite. Der Revolver schnellt, vom Gummiband
gezogen, zur Tür. Vom Türgriff aufgehalten, löst er sich vom
Gummiband und fällt zu Boden. Das Gummiband schnellt
zurück und wird unschuldig von der Brille hängen, auf der
mein Körper liegt. Ein Taschentuch auf dem Boden wird nie-
mandem weiter auffallen.
Man wird mich finden, sauber auf meinem Bett liegend, in
die Stirn geschossen, genau so, wie meine Opfer es in ihren
Aufzeichnungen schreiben. Die Todeszeit wird sich zu dem
Zeitpunkt, wenn man unsere Körper untersucht, nicht mehr
mit Sicherheit feststellen lassen.
Sobald das Meer sich beruhigt, werden vom Festland Boote
und Menschen kommen.
Und sie werden zehn Tote und ein ungelöstes Problem auf
der Insel finden.
Gezeichnet
Lawrence Wargrave
Über dieses Buch
Ten Little Niggers erschien in der Originalausgabe
1939 bei Collins in London – ihrem Verlag, dem
Agatha Christie von 1926 bis zu ihrem Tode treu
bleiben sollte. In Amerika wurde der Roman, mit
Rücksicht auf die farbige Bevölkerung, unter dem
Titel «And Then There Were None» veröffentlicht.
Dieser Titel wurde später auch in England beibehal-
ten. 1944 erschien die deutsche Ausgabe im Scherz
Verlag unter dem Titel «Das letzte Weekend», später
umbenannt in «Zehn kleine Negerlein».
Dieser Titel wurde mit dieser Ausgabe nochmals
geändert in «Und dann gabs keines mehr».
Die eigenwillige Konstruktion des Buches be-
schrieb Agatha Christie später so: «Ich hatte das
Buch… geschrieben, weil die Problemstellung so
schwierig war, dass mich die Aufgabe reizte. Zehn
Menschen sollten sterben, ohne dass es lächerlich
wirkte und ohne dass man den Mörder erraten konn-
te… Das Buch erhielt wohlwollende Kritiken, aber
die größte Freude daran hatte ich, denn ich wusste
besser als jeder Kritiker, wie schwer es gewesen war.»
Nicht nur der Roman wurde ein großer Erfolg. Aga-
tha Christie selbst schrieb eine Bühnenfassung, die
1943 unter dem gleichen Titel in London uraufge-
führt wurde.
Fünf Filmfassungen wurden von diesem Stoff ers-
tellt, wovon die erste von René Clair aus dem Jahre
1945 die beste sein dürfte; erwähnenswert ist noch
die internationale Filmproduktion 1965 mit Mario
Adorf, Marianne Hoppe und Daliah Lavi sowie die
Filmfassung aus dem Jahre 1975 mit Sir Richard At-
tenborough, Gert Fröbe, Oliver Reed und Elke
Sommer.